Ein kleines, optimistisches, sehr gut lesbares und ausgesprochen innovatives Buch. Wie Ury darlegt, bestehen Konflikte nicht nur aus den streitenden Parteien; vielmehr haben Dritte die Chance, einen moderierenden und befriedenden Einfluss zu nehmen.
Dieses Büchlein ist unter dem Titel "Getting to Peace" schon vor 15 Jahren erschienen, doch es ist aktueller denn je. Während die Welt damals nach dem Ende des Kalten Krieges auf einem guten Weg schien und manche schon "Das Ende der Geschichte" ausriefen, hat sich die Lage inzwischen wieder zugespitzt, und es brennt an allen Orten. Insofern spricht der Untertitel ein brennendes Problem an und macht zugleich ein bisschen Hoffnung. Rätselhaft wirkt zunächst der Haupttitel, doch er trifft genau den Punkt – und bringt eine ausgesprochen wichtige Erweiterung in unser Denken über Konflikte ein.
Denn während wir uns in unserem westlich-individualistischen Denken daran gewöhnt haben, Konflikte als ein Problem zwischen zwei Parteien zu betrachten, macht uns der gelernte Anthropologe William Ury darauf aufmerksam, dass sich Konflikte in aller Regel nicht in einem sozialen Vakuum abspielen, sondern unter den Augen Dritter, die schon durch ihre pure Präsenz, aber auch durch ihre Signale maßgeblich auf den Konfliktverlauf einwirken. Diese "Dritte Seite" können ganz unterschiedliche Instanzen sein: Mal die Weltöffentlichkeit, wie im Palästinakonflikt oder bei dem aktuellen Flächenbrand im Nahen Osten; mal eine Stammesgesellschaft, eine Partei oder eine Firma, wie bei Führungs- oder Nachfolgekonflikten, mal eine (Rest-)Familie, ein Gremium oder auch nur eine Einzelperson, die, sei es zufällig oder unvermeidlich, zum Zeugen und indirekt Mitbetroffenen eines Konfliktes wird.
Wem der Name des Autors irgendwie bekannt vorkommt, hat recht: William Ury ist Koautor des Weltbestsellers "Getting to Yes", das auf Deutsch als "Harvard-Konzept des Verhandelns" große Resonanz gefunden hat. Und er hat diesem Werk mit "Getting Past No" und "The Power of a Positive No" weitere Bücher folgen lassen, die nach der Lektüre der "Third Side" unweigerlich ebenfalls auf meiner Leseliste gelandet sind – ebenso wie das für Januar 2015 angekündigte "Getting to Yes With Yourself".
Die "dritte Seite" ist im ungünstigsten Fall einfach nur ein sensationslüsternes Publikum, das neugierig zuschaut, wie der Show-Down zwischen IS und den Kurden oder der zwischen Seehofer und Söder ausgeht. Und die genau dadurch gigantischen Druck auf die Kontrahenten ausübt, Härte und Stärke zu zeigen und sich keinesfalls Einsicht Empathie Schwäche anmerken zu lassen, weil sie damit einen Gesichtsverlust riskieren würden – und weil jede Nachdenklichkeit und jede Annäherung die Massen und ihre Medien um ihre Show bringen würde. Aus guten Gründen besteht eine klassische Intervention des Konfliktmanagements darin, Konflikte von der Bühne zu holen und ihre Bearbeitung in einen vertraulichen Schutzraum zu verlegen.
Es gibt aber auch eine kaum bemerkte und menschheitsgeschichtlich fast vergessene Rolle der "dritten Seite", die Konflikte nicht aus der Perspektive ihres Unterhaltungswerts betrachtet, sondern aus der Warte einer besorgten und verantwortungsbewussten Gemeinschaft. Verbreitet ist dies, wie der Anthropologe Ury erzählt, etwa in Stammesgesellschaften, die um die zerstörerische Wirkung interner Streitigkeiten wissen und deshalb alles tun, um sie einzudämmen (wie etwa, bei aufkommenden Spannungen die Giftpfeile einzusammeln und im Busch zu verstecken).
In unserer Gesellschaft gibt es diese Rolle auch, etwa in der Gestalt von Richtern und Mediatoren, aber wir haben sie (typisch!) formalisiert und professionalisiert – und beschränken sie dadurch auf wenige Einsatzfelder. Eine ähnliche Rolle nehmen aber auch die Eltern ein, die ein Sich-Zerstreiten ihrer Kinder vermeiden wollen und deshalb eine für alle annehmbare Lösung herbeiführen, oder die diversen Streitschlichtungsverfahren an Schulen. Das Gleiche tun Non-Profit-Organisationen, die destruktive Konflikte etwa zwischen Flüchtlingen und Alteingesessenen zu verhindern suchen, indem sie einen Annäherungsprozess organisieren.
William Urys Verdienst ist nicht, die dritte Seite "erfunden" zu haben, es ist, sie als systematisches Muster entdeckt, ihre Bedeutung erkannt und ihr einen Namen gegeben zu haben, der es möglich macht, geordnet über sie nachzudenken. Er sieht ein unglaubliches Potenzial darin, ihren in unserer Kultur völlig unterschätzten Einfluss systematisch zu kultivieren. Das beginnt damit zu begreifen, wie stark dieser Einfluss ist: Eine Gemeinschaft, die unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass sie die gewalttätige Austragung von Konflikten missbilligt, und von den Kontrahenten eine Verständigung fordert, führt ein fundamental anderes Verhalten herbei als eine, die signalisiert, dass sie gespannt ist, welcher der Kontrahenten das Weichei ist, das schließlich einknickt. Gewalt eskaliert allzu häufig auch deshalb, weil sich die Kontrahenten in eine Lage manövriert haben, aus der sie nicht mehr von alleine herausfinden, und aus Angst vor einem Gesichtsverlust.
Das Anliegen Urys ist, den Einfluss der dritten Seite viel gezielter zu nutzen und das Bestmögliche aus der Chance zu machen, die sie zur Prävention von Konflikteskalation und Gewalt bietet: "The third side is people – from the community – using a certain kind of power – the power of peers – from a certain perspective – common ground – supporting a certain process – of dialogue and nonviolence – and aiming for a certain product – a 'triple win'." (S. 14)
Nachdem er im ersten Teil des Buches die dritte Seite erklärt und erläutert hat, wendet sich Ury im zweiten Teil "But Isn't Fighting Human Nature?" gegen den ebenso verbreiteten wie fatalistischen Glaubenssatz, dass Aggression zum Wesen des Menschen gehöre und dass es Streit, Gewalt und Krieg daher immer geben werde. Anhand zahlreicher anthropologischer und archäologischer Befunde zeigt er, dass Gewalt in den "first 99% of human history" keineswegs eine dominierende Rolle gespielt hat, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es unter Jägern und Sammlern keine großen Verteilungskonflikte gab. Es wäre schlicht unökonomisch gewesen, um die wenigen und leicht verderblichen Ressourcen zu kämpfen, statt den zu Verfügung stehenden "Kuchen" zu vergrößern, indem man einfach weiter sammelt oder gemeinsam jagt. Was unseren Ahnen half, zu überleben, und den Aufstieg der Menschheit ermöglichte, war nicht ihre Fähigkeit, gegeneinander zu kämpfen, sondern im Gegenteil ihre Fähigkeit zu kooperieren.
Das heißt nicht, dass es in der Vor- und Frühgeschichte keine Gewalt gab, aber sie spielte keine dominierende Rolle. Ury konstatiert einen verblüffenden Mangel an archäologischen Beweisen für innerartliche Gewaltanwendung. Vieles, was Anthropologen früher dafür hielten, erwies sich entweder als Spuren von (tödlichen) Raubtierattacken oder als nachträgliche Knochenbrüche infolge der Last darauf liegenden Gesteinsschutts. Seine Interpretation: "Human behavior is extraordinarily flexible, as reflected in the extreme variation in social rates of violence. (…) The variation derives, in great measure, from how people choose to deal with their differences. Violence is not an autonomous phenomenon, but one choise among many for handling disputes." (S. 54f.)
Das änderte sich, als im bisher letzten Prozent der Menschheitsgeschichte der bislang vergrößerbare Kuchen zu einem (relativ) fixen wurde. Mit dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht nahmen die Verteilungskonflikte zu: um fruchtbaren Boden, um Vorräte und Besitztümer und mit der wachsenden Differenzierung und Hierarchisierung der Gesellschaft auch um Macht: "As a motivation for conflict, human need was joined by human greed." (S. 62) Nun wurde es zunehmend zu einer ökonomisch lohnenden Option, anderen etwas wegzunehmen, statt es im Schweiße seines Angesichtes selbst zu erzeugen. Dabei änderten sich die Beziehungsstrukturen, und die "dritte Seite" wurde schwächer: "Compulsion replaced cooperation as the dominant form of relating." (S. 67)
Das galt sowohl auf individueller Ebene, also für Raub und Diebstahl, als auch für gesellschaftliche Strukturen, mit Herrschern und Untertanen, Knechten und Leibeigenen, als auch zwischen den sich entwickelnden Staaten: "States breed wars as wars breed states." (S. 70) Trotzdem hält Ury es für völlig falsch, aus dieser jüngsten Epoche der Menschheitsgeschichte universelle Schlüsse über die menschliche Natur ableiten zu wollen: "The violence and domination we have known are the product not so much of human nature but the complex logic of settling down, intensive reliance on land, population increase, the weakening of the third side, the closing of the exit option, the development of authoritarian hierarchies, the growth of the state, and the contagion of war. At the bottom of this logic is the dependence on fixed-pie resources – first of land and then of power over other human beings." (S. 73f.)
Ury sieht die Menschheit aktuell an einem Wendepunkt: Während Konflikte seit der agrarischen Revolution meist Nullsummenspiele waren, weil es um die Verteilung knapper Ressourcen ging, haben sie sich mit der Transformation zur Wissensgesellschaft verändert: "The logic of conflict is shifting from win-lose toward a choice between lose-lose or both-gain, partly because knowledge is an expandable pie and partly because knowledge has made the weapons of destruction even more terrible and available. We are thus living in a time of extraordinary opportunity and extraordinary peril, heightening the motivation to mobilize a strong third side." (S. 200)
Ury geht keineswegs davon aus, dass die Welt mit der Wissensrevolution und der wachsenden internationalen Vernetzung friedlicher wird; er erwartet vielmehr eine wachsende Zahl von Konflikten: "Increasing interdependence means more conflict, not less." (S. 99) Und: "Even an expanded pie still needs to be divided up." (S. 90) Er sieht indes eine wachsende Notwendigkeit zur Konfliktbeilegung auf dem Verhandlungsweg: "If the Knowledge Revolution makes sharing and cooperation more beneficial, it also makes fighting more harmful. As weapons have become deadlier, they have also become cheaper and more accessible to anyone." (S. 86) Gerade weil Verhandlungen immer häufiger werden, kommt es darauf an, die "dritte Seite" wiederzuentdecken und ihre Rolle zu stärken.
Im dritten Teil "How Can We Stop" erklärt er, wie das gehen könnte. Prinzipiell sieht er bei Konflikten drei Stufen, in denen die dritte Seite jeweils unterschiedliche Rollen spielen kann und sollte: "Prevent", "Resolve" und "Contain" – und zwar nach dem Grundsatz: "Contain if necessary, resolve if possible, best of all prevent." (S. 113) Bei der Prävention nennt Ury drei Rollen: Da ist zum ersten der "Provider", der erzürnten Menschen hilft, ihre bislang frustrierten Bedürfnisse zu erfüllen, etwa nach Respekt und Zuwendung, aber auch nach Sicherheit und Selbstbestimmung. Da ist zum zweiten der "Teacher", der sie lehrt, ihre Konflikte ohne Gewaltanwendung zu klären. Und da ist zum dritten der "Bridge-Builder", der Brücken zwischen potenziellen Konfliktparteien schlägt und ihnen hilft, in einen konstruktiven Dialog zu kommen.
Für das Lösen von Konflikten sieht Ury vier Rollen, die die dritte Seite einnehmen kann: "Mediator, Arbiter, Equalizer, Healer" (S. 140) Mediator und Schiedsrichter scheinen selbsterklärend; hervorzuheben ist aber, dass Ury damit keineswegs nur geschulte und dreifach zertifizierte Mediatoren meint: "Everyone's a mediator." (S. 145) Auch mit "Arbiter" sind keineswegs nur institutionalisierte Schiedsstellen gemeint: "Peers can be arbiters, too" (S. 153). Wichtiger als formelle Schiedsfunktionen, die in den Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit hineinreichen, sind informelle: Die dritte Seite in Gestalt einer Familie, einer Schulklasse oder der Arbeitskollegen kann erheblichen Einigungsdruck auf die Kontrahenten ausüben, indem sie deutlich macht, welche Forderungen und welche Regelungen sie als fair und welche als unangemessen ansieht.
Erklärungsbedürftig sind "Equalizer" (Gleichmacher?!) und "Healer". Der "Equalizer" hat tatsächlich die Rolle, dort, wo ein großes Ungleichgewicht zwischen den Konfliktparteien herrscht, für mehr Gleichheit oder zumindest für eine gewisse Gleichberechtigung zu sorgen, zum Beispiel institutionaliert als Ombuds"person" – oder auch einfach als jemand, der diese Rolle ausfüllen kann und sie übernimmt. Das beginnt ganz simpel damit, den oder die jeweils Stärkeren oder Mächtigeren überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen, statt die unterlegene Seite einfach abblitzen zu lassen. Und es geht damit weiter, eine Verhandlung "auf Augenhöhe" sicherzustellen. Der "Heiler" schließlich hilft dabei, belastete oder beschädigte Beziehungen wieder zu reparieren, indem er ein geeignetes Klima schafft, zu Entschuldigungen und zum Verzeihen ermutigt und so idealerweise eine Versöhnung erreicht.
Wenn Konflikte bereits zum Machtkampf eskaliert sind, geht es vor allem darum, sie einzudämmen ("contain"), damit sie nicht noch weiter um sich greifen. Und auch hier gibt es drei Rollen für die dritte Seite: "Witness, Referee, Peacekeeper" (S. 169). Diese Rollen sind schwieriger, weil sie in wachsendem Umgang soziale Macht voraussetzen sowie die Fähigkeit, sie wirksam einzusetzen. Der "Zeuge" leistet seinen Beitrag vor allem, indem er aufmerksam beobachtet, die Dinge beim Namen nennt und Aufmerksamkeit auf das Geschehen lenkt – unter anderem auch, um andere "Third-Siders" auf den Plan zu rufen. Der "Schiedsrichter" setzt, sei es mit Zustimmung der Parteien oder aufgrund seiner Autorität, Regeln für einen fairen Kampf, nimmt – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – gefährliche Waffen aus dem Spiel und sucht den Parteien mehr Sicherheit zu geben. Der "Friedensstifter" schließlich stellt sich dazwischen, unterbricht die Eskalation und verhindert Gewaltanwendung.
Es ist leicht zu sehen, dass diese insgesamt zehn möglichen Rollen der dritten Seite umso schwieriger werden – und umso mehr Macht erfordern –, je weiter der Konflikt eskaliert ist. Das deckt sich mit dem, was Friedrich Glasl über die Einwirkungsmöglichkeiten Dritter auf unterschiedlichen Eskalationsstufen sagt: Auf den ersten drei Stufen seines Modells kann ein gutwilliger und mutiger Laie noch eine Menge erreichen, auf den Stufen vier bis sechs braucht es laut Glasl professionelle Hilfe, und auf den drei höchsten Stufen hilft nur noch ein Machteingriff. Dies bestätigt, was Ury eingangs dieses Kapitels gesagt hat: "Contain if necessary, resolve if possible, best of all prevent." (S. 113)
In seiner Schlussbemerkung fast Ury seine Analysen und sein Credo noch einmal in einem eindringlichen Appell zusammen: "Conflict may be inevitable but fighting, violence, and war are not." (S. 201) Und er macht klar, dass das kein Spaziergang ist: "Peace is harder than war. Prevention may be a choice, but it is not an easy choice. No one should underestimate the difficulties." (S. 201) Wer also geglaubt hat, mit der dritten Seite einen leichten Weg zu mehr Frieden gefunden zu haben, dem macht Ury überdeutlich klar, dass das die falsche Hoffnung ist – und dass es sich trotzdem lohnt, sich diese Anstrengungen zuzumuten: "The peace we can aspire is not a harmonious peace of the grave, nor a submissive peace of the slave, but a hardworking peace of the brave." (S. 202)
Trotzdem, so macht er klar, gibt es Grund zur Hoffnung, zumal es, entgegen der verbreiteten Auffassung, gar nicht so ist, dass wir in einer Welt voller Gewalt leben: "Most of the time, most people succeed in coexisting peacefully." (S. 202f.) Deshalb stehen wir auch nicht vor der Notwendigkeit, alles völlig anders zu machen: "Our challenge then is not to one absolute – war – into another absolute – peace. It is not to go from zero percent coexistence to a hundred percent, but rather to proceed from something like ninety percent to something like ninety-nine percent." (S. 203)
Abschließend gibt Ury zwölf praktische Tipps zur Frage "How Can I Start?" – Ich gebe sie hier vollständig und fast unkommentiert wieder, damit auch diese Rezension schon als Impuls zur Umsetzung wirken kann: "1. Change the Story" (soll heißen, sich von dem fatalistischen Denkmodell zu lösen, Gewalt sei Teil der menschlichen Natur), "2. Learn Some Skills", "3. Start Close to Home", "4. Mediate Your Own Disputes" (d.h. "build bridges, heal wounds, and resolve differences"), "5. Do What You Do Best" (meint, sich die Rollen zu suchen, die am besten zu einem passen), "6. Volunteer Your Services", "7. Fill a Missing Role", "8. Create a Winning Alliance" (nicht Einzelkämpfer sein wollen, sondern sich komplementäre Verbündete suchen), "9. Urge Your Organization to Take the Third Side", "10. Support the Third Side in the Wider Community" (indem man die dritte Seite mit eigenen Stellungnahmen unterstützt), "11. Help Build Thirdsider Institutions" und "12. Help Create a Social Movement".
In Summe eines der Bücher, die Sie unbedingt lesen sollten, wenn Sie sich für das Themenfeld auch nur ansatzweise interessieren. Und zugleich eines, das dem Lesen erstaunlich wenig Widerstand entgegensetzt, weil es klar, anschaulich und ziemlich schnörkellos geschrieben ist. Top-Empfehlung!
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