Über die Persönlichkeit und den "Sozialcharakter" von Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie, ist nicht allzu viel bekannt. Aus dieser Sammlung der Erinnerungen von Zeitzeugen entsteht ein recht prägnantes Bild.
Theoretisch spielt es für die Validität einer Theorie keine Rolle, was für ein Mensch ihr Entdecker war – das Einzige, was zählt, ist, ob die Theorie erstens empirisch belastbar ist und sich zweitens in der Praxis als nützlich erweist. Prinzipiell gilt dies auch für jene großen Theorieentwürfe, wie sie Anfang des letzten Jahrhunderts von Freud, Adler und Jung entwickelt wurden. Sie suchen nicht nur einzelne Teilaspekte des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns zu erklären, sondern beanspruchen, eine umfassende Theorie des menschlichen Seelenlebens zu sein. Zwar interessiert auch hier in erster Linie, ob ihre Theorien "stimmen" und ob sie für die Praxis hilfreich sind. Doch bei diesen großen Entwürfen rückt zu Recht die Persönlichkeit ihrer Urheber stärker in den Blickpunkt, weil man davon ausgehen muss, dass solche Menschenbilder untrennbar mit der Persönlichkeit ihrer Urheber verbunden sind.
Wer, wie Sigmund Freud, die Sexualität in den Mittelpunkt seiner Theoriebildung stellt und beinahe alles aus ihr erklärt, wer den Menschen dabei im Grunde a-sozial und nur auf der Suche nach Triebobjekten darstellt, sagt damit eben nicht nur etwas über "den Menschen" aus, sondern auch über sich selbst. Desgleichen, wer den Menschen als soziales Wesen sieht, dessen gesamtes Denken, Fühlen und Handeln sich aus seinen sozialen Bezügen und der Suche nach seinem Platz in der Gemeinschaft ergibt. Konzepte wie das Streben nach Zugehörigkeit, Minderwertigkeitsgefühle und (Über)Kompensation, die Lebensaufgaben Arbeit, Liebe und Gemeinschaft, die Finalität (Zielgerichtetheit) alles menschlichen Handelns oder das Gemeinschaftsgefühl verraten nicht nur ein völlig anderes Menschenbild als das Freuds, sondern lassen auch eine ganz andere Persönlichkeit vermuten.
Dieses Buch besteht eigentlich aus zwei Büchern: Der erste Teil ist eine vollständige Übersetzung des bereits 1977 erschienenen Werks "Alfred Adler: As We Remember Him", eine Sammlung von teils sehr kurzen, teils etwas ausführlicheren Erinnerungen von Zeitzeugen, herausgegeben von den amerikanischen Individualpsychologen Guy J. Manaster, Genevieve Painter, Danica Deutsch und Betty Jane Overholt im Auftrag der North American Society of Adlerian Psychology.
Dieses Buch haben der Herausgeber sowie Josef Rattner, Gisela Greulich-Janssen und Margarete Eisner um einen zweiten Teil ergänzt, der "alle übrigen verfügbaren Zeugnisse über Alfred Adler als Menschen" versammelt. Das ist ein buntes Potpourri von teilweise eher belanglosem, teilweise aber auch höchst informativem Material, bis hin zu der Zusammenfassung eines Texts von Karl Popper, der als Schüler um 1919 einige Monate in Adlers Erziehungsberatungsstellen mitgearbeitet hat und auch durch ein Gespräch mit Adler dazu angestoßen wurde, die "klinische Methode" der Theoriebildung sehr kritisch zu sehen, weil sie auf Bestätigung statt auf Falsifikation aus ist.
Den Abschluss bildet als dritter Teil die deutsche Übersetzung eines kurzen, knapp sechs Seiten umfassenden Texts "Something About Myself" – eines der wenigen autobiographischen Zeugnisse von Adler selbst.
Was weiß man mehr über den Begründer der Individualpsychologie, nachdem man dieses Buch gelesen hat? Es ist nicht die eine große Erkenntnis, es sind eher viele kleine Facetten. Immer wieder betonen die Zeitgenossen, dass er ein eher unscheinbarer Mensch gewesen sein muss, der kein großes Aufheben um sich machte, sehr bescheiden und zugänglich war. Dass er aber schlagartig eine sehr hohe Präsenz und Eindringlichkeit entwickelte, sobald er mit seiner oft als warm und volltönend beschriebenen Stimme zu reden begann. Dass er extrem gut darin gewesen sein muss, Menschen intuitiv zu verstehen, Zugang zu ihnen zu finden und ihnen ebenso unorthodoxe wie wirksame Empfehlungen zu geben. Dass er wenig von formellen Anlässen hielt, aber überaus gesellig und unkompliziert war und seine Abende bevorzugt im Kaffeehaus verbrachte. Dass er aber bei aller Freundlichkeit und Warmherzigkeit auch sehr schroff und unwirsch auf bestimmte Dinge reagieren könnte. Und nicht zuletzt, dass er sein "Innenleben" weitgehend abschirmte und seine innersten Gedanken und Gefühle nicht einmal für nahe Freunde öffnete.
Alles in allem: Kein Übermensch, auch "nur" ein Mensch mit großen Stärken, aber auch mit all seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten – und durchaus kein unsympathischer Mensch.
Aber verstehen wir mit diesen Hintergrundinformationen über seine Persönlichkeit seine Theorie besser? Ein bisschen schon, glaube ich, auch wenn schwer anzugeben ist, auf welche Weise. Aber um beispielsweise Konstrukte wie die "Lebensaufgaben" oder das "Gemeinschaftsgefühl" erfinden zu können, die ja keine rein psychologischen Konzepte sind, sondern eine ethisch-moralische Komponente haben, musste Adler wohl eine – im doppelten Sinne – sehr soziale Persönlichkeit sein. Und auch hinter Begriffen wie dem Streben nach Zugehörigkeit, Minderwertigkeitsgefühlen und (Über)Kompensation schaut ohne Zweifel eine scharfsinnig analysierte Selbsterfahrung hervor.
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