Wer Kulturveränderung als die Veränderung der Gewohnheiten eines sozialen Systems versteht, muss sich für die Macht der Gewohnheit interessieren – und wird aus diesem spannend zu lesenden Buch eine Menge Erkenntnisse und Denkanstöße mitnehmen.
Unser ganzes Leben, privat wie beruflich wie gesellschaftlich, ist in viel größerem Umfang, als uns normalerweise bewusst ist, von Gewohnheiten bestimmt. Das hat viele Vorteile; es macht uns schneller, effizienter und entlastet und von tausend wiederkehrenden Entscheidungen, wie etwa, ob wir uns erst duschen oder erst die Zähne putzen sollen, welchen Schuh wir als erstes anziehen oder auf welchem Weg wir ins Büro kommen. "Gewohnheiten, so sagen Wissenschaftler, entstehen, weil das Gehirn ständig nach Wegen sucht, um sich weniger anzustrengen" (S. 39).
Segen und Fluch der "Gewohnheitsschleife"
Aber es hat auch Nachteile, dass wir weite Strecken unseres Lebens "auf Autopilot" fahren und nur dann auf bewusste "Handsteuerung" umschalten, wenn wir mit Situationen konfrontiert sind, die nicht zu unseren Routinen passen, also etwa wenn der Weg in die Arbeit durch eine Baustelle unterbrochen ist. Denn unser Gehirn unterscheidet nicht, ob es sich um nützliche, unnütze oder schädliche Gewohnheiten handelt – und es unterscheidet auch nicht, ob die Routine wirklich zu der vorgefundenen Situation passt oder ob sie im konkreten Fall inadäquat ist. Manchmal sitzen wir sozusagen in der "Gewohnheitsfalle", aus der wir auch dann nicht ohne Weiteres herauskommen, wenn dies besser für uns wäre.
Wie Charles Duhigg, Wissenschaftsjournalist der New York Times, erläutert, bestehen Gewohnheiten aus der immer gleichen dreistufigen "Gewohnheitsschleife": Erstens einem Auslösereiz, zweitens einer Routine – der eigentlichen Gewohnheit – und drittens einer Belohnung. "Gewohnheiten verschwinden im Grunde niemals" (S. 42), sie lassen sich nicht löschen, weil das Gehirn bei bestimmten Auslösereizen nach seiner Belohnung verlangt, sie lassen sich aber verändern – sofern man verstanden hat, was genau der Auslösereiz ist und worin die ersehnte Belohnung besteht. Beides ist nicht immer auf den ersten Blick sichtbar. Dennoch: Wir können sehr wohl die Kontrolle über unsere Gewohnheiten übernehmen.
Wie Gewohnheiten entstehen – oder erzeugt werden
Gewohnheiten entstehen ständig und ohne unser bewusstes Zutun, weil unser Gehirn ständig bestrebt ist, sich von Anstrengung zu entlasten und so seinen Energiebedarf zu reduzieren. "Wir mögen uns nicht an die Erfahrungen erinnern, auf denen unsere Gewohnheiten basieren, aber sobald diese in unserem Gehirn verankert sind, beeinflussen sie unser Verhalten – oftmals ohne dass wir dies bemerken." (S. 48) "Sie prägen unser Leben viel stärker, als wir uns bewusst sind – tatsächlich sind sie so wirkmächtig, dass sie unser Gehirn dazu bringen, unter Ausschluss von allem anderen, sogar des gesunden Menschenverstandes, an ihnen festzuhalten." (S. 49)
Im zweiten Kapitel "Die Gelüste des Gehirns" erklärt Duhigg, "wie man Gewohnheiten schafft" (S. 55) bzw. wie Marketing und Werbung versuchen, ihre Produkte in unsere Gewohnheiten "einzuklinken". Beispielsweise ist die inzwischen recht verbreitete Gewohnheit, sich regelmäßig die Zähne zu putzen, erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, als die Werbung das "Pepsodent-Lächeln" im amerikanischen Ideal stilisierte und damit ein Verlangen bei den Konsumenten kreierte, für dessen Erfüllung der Kauf von Zahnpasta unabdingbar war. Als Auslösereiz musste der unschuldige Zahnfilm herhalten, der sich völlig unabhängig von der Art der Zahnpflege ständig auf natürliche Weise bildet.
Die Macht der Gewohnheit entsteht neurophysiologisch daraus, dass wir die erwartete Belohnung, wenn wir Routinen aufbauen, allmählich immer mehr vorwegnehmen: "Gewohnheiten erzeugen ein neuronal verankertes Verlangen so langsam, dass wir uns seiner Existenz nicht einmal bewusst sind. Aber in dem Maße, wie wir Auslösereize mit bestimmten Belohnungen assoziieren, entsteht ein unterbewusstes Verlangen in unserem Gehirn, das die Belohnungsschleife in Drehung versetzt." (S. 74) "Verlangen treibt unsere Gewohnheiten an", schreibt Duhigg (S. 89): Wenn der Auslösereiz ein Verlangen nach der Belohnung erzeugt, ist die Verankerung der Gewohnheit erfolgreich abgeschlossen.
Wie man seine Gewohnheiten verändern kann
"Die goldene Regel für die Änderung von Gewohnheiten" verspricht Duhigg im dritten Kapitel. Sie lautet ganz simpel: "Den gleichen Auslösereiz verwenden, die gleiche Belohnung bereitstellen, die Routine verändern." (S. 93) Nach diesem Prinzip arbeiten nach seinen Worten zum Beispiel die Anonymen Alkoholiker: "Die AA haben deshalb Erfolg, weil sie Alkoholikern helfen, die gleichen Auslösereize zu benutzen und dieselbe Belohnung zu erhalten, derweil sie die Routine ersetzen." (S. 102) Wenn die Belohnung zum Beispiel in Stressabbau besteht, erreichen sie dies durch die neue Gewohnheit ihrer Treffen und Gespräche.
Nach demselben Prinzip kann man auch andere unerwünschte Gewohnheiten umbauen: Sofern man Auslösereiz und Belohnung erkannt hat, also zum Beispiel herausgefunden hat, dass man raucht oder nascht, wenn man etwas Abwechslung oder eine Entspannungspause braucht, kann man ausprobieren, ob stattdessen etwa eine Tasse Kaffee, ein kleiner Spaziergang oder ein kurzer Ausflug auf die Lieblings-Website den gleichen Belohnungseffekt hat.
"Es wirkt lächerlich einfach, aber sobald Sie sich bewusst sind, wie Ihre Gewohnheit funktioniert, sobald Sie die Auslösereize und Belohnungen erkennen, haben Sie sie schon zur Hälfte verändert", zitiert Duhigg Nathan Azrin, einen der Entwickler des sogenannten Habit-Reversal Trainings. "Man sollte meinen, dass es komplexer ist. Tatsächlich kann das Gehirn reprogrammiert werden. Man muss dabei nur mit Bedacht vorgehen." (S. 109f.) Mit der Therapie zur Umkehrung von Gewohnheiten (Habit Reversal) lassen sich zum Beispiel Depressionen, Rauchen, Spielsucht, Angststörungen, verbale und körperliche Tics, Bettnässen, Aufschieberitis, Zwangsstörungen und andere schlechte Gewohnheiten behandeln.
Dass das Prinzip einfach ist, heißt allerdings nicht, dass die Umsetzung ein Kinderspiel wäre: Man muss sich dazu erstens selbst auf die Schliche kommen, zweitens ein geeignetes Substitut für die zu ersetzende Routine finden und drittens die Entschlossenheit beweisen, die Substitution tatsächlich vorzunehmen. Denn natürlich muss sich etwa der Alkoholiker immer noch gegen die Versuchung entscheiden, sofort zur Flasche zu greifen, statt auf das nächste Gruppentreffen zu warten.
Gute und schlechte Gewohnheiten von Organisationen
Nachdem er in den ersten drei Kapiteln die Gewohnheiten von Individuen untersucht hat, wendet sich Duhigg im zweiten Teil den "Gewohnheiten erfolgreicher Organisationen" zu. Und er tut es, wie im ersten Teil, mit einer Vielzahl von lebendigen, ja geradezu spannend geschilderten Fallbeispielen, aus denen er dann allgemeine Erkenntnisse und Prinzipien ableitet. Eine ausgesprochen eindrucksvolle Fallstudie ist die von Alcoa und dessen CEO Paul O'Neill im vierten Kapitel.
O'Neill etablierte in dem damals schwer angeschlagenen und von Konflikten zerrissenen Konzern eine neue Gewohnheit zum Thema Arbeitssicherheit: "Jedes Mal, wenn jemand verletzt wurde, musste der Leiter des Geschäftsbereichs dies O'Neill innerhalb von 24 Stunden melden und einen Plan vorlegen, um sicherzustellen, dass sich ein solcher Unfall nicht wiederholte." (S. 141)
Man muss mit großen Hierarchien vertraut sein, um zu verstehen, welche Kettenreaktion das auslöst: Wenn der Spartenleiter binnen 24 Stunden einen Rapport vorlegen muss, heißt das erstens, dass er dafür sorgen muss, dass ihm Unfälle umgehend gemeldet werden – und zweitens, dass sich die Ebenen unter ihm in der verbleibenden Zeitspanne mit kaum etwas Anderem beschäftigen können, weil sie jede Minute brauchen, um für den CEO einen schlüssigen und abgestimmten Maßnahmenplan zu erstellen. Alleine dadurch erhalten Unfälle allerhöchste Priorität im gelebten Unternehmensalltag – und deren Vermeidung wird zum (möglicherweise unfreiwilligen) Herzensanliegen des gesamten Managements.
Eine entscheidende Rolle spielte dabei, dass sich O'Neill damit offensichtlich auf eine sogenannte Schlüsselgewohnheit fokussiert hatte, die einen stärkeren Einfluss auf das Betriebsklima und auf die Produktivität hatte als viele andere. Schade daher, dass Duhigg nicht näher darauf eingeht, was solche Schlüsselgewohnheiten ausmacht und wie man sie identifiziert.
Willensstärke als trainierbare Gewohnheit
Auch Willensstärke ist, wie Duhigg im fünften Kapitel mit einer Fallstudie über Starbucks zeigt, eine erlernte Gewohnheit; sie kann Menschen "in der gleichen Weise beigebracht werden wie Mathematik oder die Verhaltensregel, sich für eine Gefälligkeit zu bedanken." (S. 173) Der Anspruch des Starbucks-Gründers Howard Schultz war, seinen Kunden nicht nur hochpreisigen Kaffee verkaufen, sondern ihnen als Dreingabe auch ein Stück Lebensfreude zu vermitteln. Dazu mussten die Mitarbeiter dazu in der Lage sein, gegenüber ihren Kunden gleichbleibend freundlich und zugewandt zu bleiben, auch am Ende einer langen Schicht. Und sie mussten dazu in der Lage sein, auch unangenehmen, aggressiven oder beleidigenden Kunden positiv zu begegnen.
Dazu wurden sie speziell geschult, und sie erlernten dabei Gewohnheiten, wie sie mit Stresssituationen umgehen konnten, in denen sie sonst möglicherweise die Nerven verloren hätten. Ein zentrales Element ist die "LATTE-Methode" für den Umgang mit feindseligen Kunden: "Wir hören dem Kunden zu (Listen), nehmen seine Beschwerde zur Kenntnis (Acknowledge), ergreifen Schritte zur Lösung des Problems (Take Action), danken ihm (Thank) und erklären (Explain), wie es zu dem Problem kam." (S. 187)
Indem sie lernen, mit sogenannten "Wendepunkten" der Kommunikation routiniert und gelassen umzugehen, wird "Selbstdisziplin in eine organisationale Fähigkeit" verwandelt (S. 181). Das ist deshalb so wichtig, weil viele Mitarbeiter – und entsprechend viele Kundenbeziehungen – nicht am Mangel an gutem Willen scheitern, sondern an mangelnder Selbstdisziplin: "Sie kommen zu spät zur Arbeit. Sie schnauzen unhöfliche Kunden an. Sie sind unkonzentriert oder lassen sich leicht in Konflikte am Arbeitsplatz verwickeln. Sie kündigen grundlos." (S. 179) Dadurch, dass Unternehmen die Selbstdisziplin systematisch kultivieren, erreichen sie etwas ganz Entscheidendes: Sie machen ihre Kultur zu einem verteidigungsfähigen Wettbewerbsvorteil.
Krisen als Instrument zur Veränderung kollektiver Gewohnheiten
Wie man Krisen nutzt, um die Gewohnheiten einer Organisation zu verändern, beschreibt Duhigg im sechsten Kapitel. Die herrschenden Sitten und Gebräuche großer Organisationen sind in der Regel nicht so sehr von den geschäftlichen Notwendigkeiten bestimmt, sie stellen vielmehr einen historisch gewachsenen Modus Vivendi dar, der einen "Waffenstillstand" zwischen rivalisierenden Bereichen, Abteilungen und Fürstentümern gewährleistet. Dementsprechend werden sie in der Regel auch dann nicht in Frage gestellt, wenn sie einem einwandfreien Funktionieren des Gesamtsystems im Weg stehen: "Damit eine Organisation funktioniert, muss das Management Gewohnheiten fördern, die einen echten und ausgewogenen Frieden hervorbringen und, paradoxerweise, zugleich ganz klar festlegen, wer das Sagen hat." (S. 210)
Der Schock einer Krise macht es möglich, diese sorgsam austarierte Machtbalance zu hinterfragen und neu zu justieren: "Gute Führungskräfte nutzen Krisen, um organisationale Gewohnheiten zu verändern." (S. 223) Mehr noch: "Tatsächlich sind Krisen derart nützlich, dass eine kluge Führungskraft in einer Organisation oftmals das allgemeine Gefühl, sich in einer Notlage zu befinden, absichtlich befördert." (S. 224)
Das mag man zynisch finden, doch da ein Krisenbewusstsein weniger ein Sach- als ein Wahrnehmungsphänomen ist, liegt es durchaus nahe, die Krisenstimmung zu verstärken, weil sie hilft, die herrschenden Sitten und Gebräuche zu verändern. Wichtig ist dann allerdings, darauf zu achten, dass die vorgenommenen Veränderungen mehr sind als ein bürokratischer Overkill zur Prävention einer Krise, die in dieser Form ohnehin nicht mehr vorkommen wird, und mehr Probleme schaffen als sie verhindern. Denn wie sagte Peter Senge: "Die Hauptursache unserer Probleme sind Lösungen."
Sehr zeitgeistig, aber auch etwas gruselig ist das siebte Kapitel "Woher Target weiß, was Sie wollen, bevor Sie es wissen – Wenn Unternehmen Gewohnheiten vorhersagen (und manipulieren)" (S. 228). In Zeiten von Big Data ist es möglich, durch eine statistische Analyse von Kundengewohnheiten und deren Veränderungen mehr über uns herauszufinden als wir selbst wissen. Beispielsweise ist es möglich, aus dem Einkaufsverhalten zu erkennen, ob eine Frau schwanger ist – und ihr entsprechende Angebote zu machen. Da Verbraucher selbst in den USA pikiert reagieren, wenn sie das Gefühl haben, ausgeforscht zu werden, werden diese Angebote getarnt, damit sie wie zufällig wirken: Man umgibt sie mit neutralen oder saisonalen Angeboten: Grillkohle und Osterhasen machen das Umstandskleid unverdächtig.
Nützlich, von dem Manipulationspotenzial in unseren Gewohnheiten zu erfahren …
Gesellschaftliche Gewohnheiten und ihre Veränderung
Im dritten Teil seines Buchs untersucht Duhigg "Die Gewohnheiten von Gesellschaften". Dabei zeigt er unter anderem am Beispiel des historischen Busboykotts von Montgomery, Alabama, von 1955, wie soziale Bewegungen entstehen.
Jahrzehntelang hatten die Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten ihre Diskriminierung und die wiederkehrenden Demütigungen in dem Bewusstsein hingenommen, nicht dagegen machen zu können. Wieso also führte die Weigerung der Schneiderin Rosa Parks, ihren Sitzplatz für einen Weißen freizumachen, und ihre anschließende Festnahme zu einem Aufruhr und einem einjährigen Busboykott, der schließlich die Aufhebung der Rassentrennung erzwang? Rosa Parks war keineswegs die Erste, die verhaftet wurde, weil sie sich gegen rassistische Demütigungen wehrte, doch bislang hatten solche Vorfälle nie größere Proteste ausgelöst, sie waren erduldet worden. Was war bei Parks anders?
Laut Duhigg bestehen soziale Bewegungen, die letztlich gesellschaftliche Gewohnheiten verändern, aus einem dreistufigen Prozess: "Eine Bewegung entsteht aufgrund der sozialen Gewohnheiten innerhalb von Freundeskreisen und der starken Bindung zwischen guten Bekannten. Sie expandiert aufgrund der Gewohnheiten einer Gemeinschaft und der losen Bindungen, die Nachbarschaften und Sippen zusammenhalten. Und sie hat Bestand, weil die Anführer einer Bewegung den Teilnehmern neue Gewohnheiten vermitteln, die ihnen ein neues Identitätsbewusstsein vermitteln und das Gefühl geben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nur wenn alle drei Stufen dieses Prozesses absolviert sind, kann sich eine Bewegung aus eigener Kraft tragen und eine kritische Masse erreichen." (S. 267)
Wie Duhigg zeigt, waren im Falle von Rosa Parks alle drei Bedingungen erfüllt. Das begann damit, dass Parks ein sehr beliebtes, angesehenes und gut vernetztes Mitglied ihrer Gemeinde war. Entsprechend viele Menschen quer über die ganze Stadt reagierten mit Empörung, Protesten und Solidarisierung auf ihre Festnahme (Stufe 1). Als sie sich zusammentaten und zunächst einen eintägigen Busboykott organisierten, kam "die Macht loser Beziehungen" ins Spiel: In der schwarzen Bevölkerung von Montgomery entstand ein Gruppendruck, an dem Boykott teilzunehmen, dem man sich nur um den Preis eines empfindlichen Ansehensverlustes entziehen konnte (Stufe 2). Das galt auch, als der Boykott unbefristet verlängert wurde.
Dann kam der frischgebackene Pastor der Baptist Church Martin Luther King jr. Ins Spiel. Er wurde zu einem der Anführer der Kampagne. Als der Konflikt sich zuspitzte, weil eine Bombe vor Kings Haus explodiert war, und die Protestversammlung zu entgleisen drohte, hielt er eine historische Rede, in der er zu Feindesliebe und Gewaltlosigkeit aufrief und deutlich machte, dass es nicht nur um Gleichberechtigung in Bussen gehe. Ihr Protest sei Teil eines göttlichen Plans, der auch die Sklaverei beendet habe und hin zu Gleichberechtigung, Nächstenliebe und Versöhnung führe. Damit hob er den Protest auf eine neue Ebene und verwandelte ihn in eine Bewegung, die unaufhaltsam eine Eigendynamik entwickelte (Stufe 3). Ab dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich durchsetzte.
Die Ethik von Gewohnheiten
Im abschließenden neunten Kapitel befasst sich Duhigg mit der "Neurologie des freien Willens" und der Frage, ob wir für unsere Gewohnheiten verantwortlich sind. Die (amerikanische) Rechtsprechung urteilt hier uneinheitlich: Krankhaften Spielsüchtigen weist sie die Verantwortung für ihr Handeln zu, Schlafwandlern, die einen Menschen töten, spricht sie frei. (Wobei man in diesem Beispiel die Frage stellen kann, ob Duhigg den Begriff der Gewohnheit nicht überdehnt, denn es geht ja nicht darum, dass die Betreffenden gewohnheitsmäßig Menschen angreifen und töten.)
Bemerkenswert ist aber, dass die Realitätswahrnehmung von Spielsüchtigen tatsächlich nachweisbar von der normaler Menschen abweicht. Zum einen reagieren ihre Gehirne sehr viel stärke auf Gewinne, vor allem aber erleben sie Beinahe-Treffer als Erfolge, zitiert Duhigg einen Neurowissenschaftler: "Für einen nicht süchtigen Spieler war ein Beinahe-Treffer ein Verlust. Pathologische Spieler erlebten Beinahe-Treffer als Gewinne." (S. 321) Nicht beantworten lässt sich bislang, ob dies eine angeborene Besonderheit ihrer Gehirne ist oder ein erlerntes Reaktionsmuster. Es wirft aber die Frage auf, ob diese Spieler tatsächlich Herren im eigenen Haus und somit für ihr Handeln verantwortlich sind. Und es lässt Unternehmen, die diese Mechanismen kühl rechnend zur eigenen Ertragssteigerung ausbeuten, indem sie zum Beispiel mehr Beinahe-Gewinne produzieren, als überaus unethisch erscheinen.
"Gewohnheiten sind keineswegs so simpel wie man annehmen könnte", fasst Duhigg seine Erkenntnisse zusammen: "Ich habe in diesem Buch nachzuweisen versucht, dass Gewohnheiten – selbst wenn sie sich in unserer Psyche fest verankert haben – kein Schicksal sind." (S. 328) Aus seiner Sicht ist jede Gewohnheit formbar. "Doch eine Gewohnheit kann man nur dann ändern, wenn man sich dazu entschlossen hat, dies zu tun. Man muss ganz bewusst den großen Aufwand akzeptieren, der damit verbunden ist, die Auslöser und die Belohnungen zu identifizieren, die die Routinen der Gewohnheiten antreiben, und Alternativen zu finden." (S. 328)
"Sobald wir verstehen, dass sich Gewohnheiten ändern lassen, besitzen wir die Freiheit – und die Verantwortung – sie zu erneuern." (S. 329) Das klingt schlüssig, aber es hinterlässt die Frage, was mit Menschen ist, die – etwa als Süchtige – nicht erkennen, dass es sich bei ihrem Verhalten um eine Gewohnheit handelt und/oder die nicht wissen, wie man Gewohnheiten verändert (und/oder nicht gelernt haben, die erforderliche Selbstdisziplin aufzubringen). Die Freiheit zur Veränderung ihrer Gewohnheiten haben ja wohl nur jene, die wissen, wie dies geht. Kann man denjenigen, die diese Freiheit nicht besitzen, trotzdem die Verantwortung für ihr Handeln zumessen?
Resümee: Spannende Pflichtlektüre
Obwohl ich mich im Kontext der Kulturveränderung seit Jahren mit Gewohnheiten befasse, habe ich sehr viel aus diesem Buch gelernt. Es bringt einen dazu, sehr grundlegend darüber nachzudenken, was Gewohnheiten eigentlich sind und wie sie funktionieren. Das kommt unweigerlich auch der Fähigkeit zugute, Gewohnheiten in Organisationen zu analysieren und zu verändern. Insofern möchte ich dieses Buch zur Pflichtlektüre für Change Manager erklären, und insbesondere für alle, die sich ernsthaft mit den Themen Unternehmenskultur und Kulturveränderung befassen.
Wobei die erfreuliche Nachricht ist, dass es Charles Duhigg seinen Lesern ausgesprochen leicht macht, dieser Pflicht Genüge zu tun. Da er immer von sehr anschaulichen realen Fallbeispielen ausgeht und deren Verlauf und Entwicklung geradezu dramatisch schildert, lesen sich die netto 350 Seiten sehr leicht und sind auch bei nicht mehr ganz voller Konzentration mühelos zu verdauen. Allerdings lohnt es sich, sich am Schluss noch einmal die Zeit für eine ausführliche Rückschau zu nehmen, denn gerade weil die Fallbeispiele so anschaulich beschrieben sind, besteht die Gefahr, dass man den Wald vor lauter Bäumen übersieht und am Ende trotz vieler Aha-Erlebnisse nicht mehr wiedergeben könnte, welche neuen Erkenntnisse man der Lektüre verdankt.
Dass das Buch trotz all seiner Leichtigkeit keineswegs der leichten / seichten Literatur zuzuordnen ist, untermauern die sehr ausführlichen Anmerkungen, die im Anhang fast 60 Seiten ausmachen, das umfangreiche Stichwortregister nicht mitgerechnet. Ich habe mich sogar immer wieder dabei ertappt, dass in diesen Anmerkungen hängen geblieben bin, obwohl ich eigentlich nur die Quelle für eine Aussage im Text nachsehen wollte. Wer tiefer in einzelne Aspekte der Materie einsteigen will, findet hier Zugänge, von denen aus er in beliebige Tiefen abtauchen kann.
Insgesamt eine Top-Empfehlung – und dann noch in guter deutscher Übersetzung!
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