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Fakten- und facettenreiches Lob der Achtsamkeit

Langer, Ellen J. (2014):

Mindfulness

25th Anniversary Edition

Da Capo Press (Boston MA); 246 Seiten; 11,99 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 24.10.2016

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Wer Achtsamkeit nur für ein Modethema der Trainer- und Betroffenheitsszene hält, kann sich, falls er dazu bereit ist, mit diesem faktenreichen Buch vom Gegenteil überzeugen lassen – mit erheblichem Nutzen für das eigene Berufs- und Privatleben.

In den siebziger Jahren fand in der Psychologie die sogenannte "kognitive Wende" statt, die den Behaviorismus ablöste und sich den Denkprozessen zuwandte, die als das Missing Link zwischen Reiz und Reaktion die vom Behaviorismus postulierte "Black Box" transparent machen. Damals, so schreibt die Harvard-Psychologin Ellen J. Langer in ihrem Vorwort zu dieser 25. Jubiläumsausgabe, habe sie sich gefragt, ob die Menschen überhaupt denken: "Decades of research later, I have found that the answer is a resounding 'NO'. Mindlessness is pervasive." (S. xiii)

Nach ihrer Auffassung resultieren fast alle unsere persönlichen, zwischenmenschlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Probleme aus Gedankenlosigkeit: "The current social psychological literature of priming shows how often certain cues in the environment, unbeknownst to us, trigger our reactions. Our emotions, intentions, and goals can be evoked with minimal stimulus input and virtually no cognitive processing." (a.a.O.)

Achtsamkeit ohne Esoterik

Das ist ein herzhafter Auftakt zu einem engagierten Buch, das erfreulich wenig von der Abgeklärtheit einer langen Forschungskarriere spüren lässt und von ansteckendem Enthusiasmus für Langers Lebensthema Mindfulness / Achtsamkeit geprägt ist. Ich kenne den Bedeutungshof des englischen Begriffs Mindfulness nicht gut genug, aber seine deutsche Übersetzung "Achtsamkeit" hat offenbar nicht nur für mich einen Anklang von Zen-Buddhismus, östlicher Weisheit und evangelischen Landesbischöfinnen. (Vermutlich wurde deshalb für die deutsche Übersetzung der Titel "Mindfulness" beibehalten.)

Wichtig daher, gleich am Anfang zu betonen, dass Langer mit alledem nichts am Hut hat. Sie ist eine klassische empirische Psychologin – ein ziemlich ideenreiches Exemplar dieser Gattung – und stellt in diesem Buch eine Vielzahl von (großteils unter ihrer Mitwirkung entstandenen) Forschungsbefunden vor, die den Begriff der Achtsamkeit aus der Ecke semitranszendentaler Hoch- oder Hypersensibilität herausholen und facettenreich aufzeigen, welchen Preis Unachtsamkeit für unser Leben haben kann und welchen praktischen Nutzen mehr Achtsamkeit uns zu bieten hätte.

Des ist überaus wertvoll und anregend zu lesen, und es liefert handfest Hinweise, an der einen oder anderen Ecke das eigene Selbst- und Weltbild zu überdenken – einige Beispiele folgen. Und dennoch habe ich mich als ein (auch) von der Evolutionstheorie geprägter Psychologe gefragt: Wenn Achtsamkeit so viele Vorzüge hat wie Langer überzeugend herausarbeitet und Unachtsamkeit so viele Risiken und Nebenwirkungen, wie kommt es dann, dass Gedankenlosigkeit dennoch so vorherrschend ist? Müsste uns die Evolution dann nicht via Mutation und Selektion zu mehr Achtsamkeit "erzogen" haben? Oder hat Unachtsamkeit am Ende auch bestimmte Überlebensvorteile?

Warum ist Unachtsamkeit trotzdem so verbreitet?

Schade, dass Langer diese Fragen überhaupt nicht thematisiert. Dafür ist sie wohl einfach eine zu eifrige und überzeugte Verfechterin der Achtsamkeit – was zeigt, dass auch exzellente Forscher in ihrer Sichtweise einseitig sein und blinde Flecken haben können. Etwas mehr Achtsamkeit gegenüber der Unachtsamkeit wäre die Abrundung, die ich an ihrem ansonsten eindrucksvollen Bild vermisse.

Ohne mich hier als Fan der Unachtsamkeit outen zu wollen, stelle ich es mir doch ziemlich anstrengend vor, permanent achtsam zu sein – und zwar achtsam für alles, nicht bloß für jene Facetten der Realität, auf die die Forscher gerade ihren Fokus richten. In ihrem Epilog "Beyond Mindfulness" geht Langer auf diesen Aspekt ein und empfiehlt letztlich eine selektive Achtsamkeit: "The effective person – like the effective CEO – allocates attention wisely, choosing where and when to become mindful." (S. 196)

Klingt schlüssig, ist es aber bei genauerer Betrachtung nicht restlos, denn um die Aufmerksamkeit weise allokieren zu können, ist ja bereits Achtsamkeit erforderlich – eine Art Meta-Achtsamkeit, die, um nicht ins Leere zu gehen, nicht auf Gedankenlosigkeit aufbauen kann, sondern eine vorgeschaltete breite Achtsamkeit voraussetzt, die selektiert, welche Themen einer vertieften Achtsamkeit bedürfen und welche man – wenigstens vorerst – achtlos behandeln kann.

Unachtsamkeit ist bequem – und das heißt biologisch: Es ist energiesparend. Immerhin ist unser Gehirn unser größter Energieverbraucher, auch wenn man manchmal an seinem Wirkungsgrad zweifeln möchte. Angesichts der Tatsache, dass Nahrung in der Menschheitsgeschichte nicht immer so reichlich war (und vielleicht auch nicht für immer so reichlich sein wird) wie derzeit in den reicheren Ländern, war es wohl einfach ökonomisch, die Achtsamkeit so oft wie möglich auf Stand-by zu schalten.

Oder den Normalbetrieb, wie es Daniel Kahneman in "Thinking, Fast and Slow" beschreibt, von vornherein über das (unachtsame) System 1 abzuwickeln und das (potenziell achtsame) System 2 nur dann einzuschalten, wenn System 1 nicht mehr weiterkommt. Wie so oft in der Evolutionsbiologie war das vermutlich nicht die perfekte Lösung, aber der optimale Kompromiss zwischen Energieeffizienz und Anpassung. (Wobei Kahneman interessanterweise genau den angesprochenen Punkt als den Knackpunkt identifiziert, an dem unser Denken häufig in die falsche Richtung geht: System 2 übernimmt sozusagen "gedankenlos" die Prämissen von System 1 und setzt dort auf.)

Doch dieser Einwand tut dem Wert und dem Nutzen dieses Buchs keinen Abbruch.

Achtsamkeit macht einen – erheblichen – Unterschied

In ihrem Vorwort zu diese Jubiläumsausgabe zeigt Ellen Langer, dass sie auch nach einem Viertel Jahrhundert immer noch für ihr großes Thema brennt: Sie sprudelt förmlich über vor Beispielen und Experimenten, die zeigen, was für einen Unterschied Achtsamkeit in den unterschiedlichsten Lebenssituationen macht – selbst bei einem banalen Sehtest, wie wir ihn vom Optiker oder Augenarzt kennen. Dessen ganzer Aufbau suggeriert ja, dass es nach etwa zwei Dritteln schwierig werden wird – und dieser Erwartung wird unsere Sehschärfe dann auch erstaunlich zuverlässig gerecht.

Ändert man die Sehtestvorlage aber so ab, dass sie von vornherein mit etwas kleineren Buchstaben beginnt, kommen die Getesteten ebenfalls nach etwa zwei Dritteln ins Stocken – allerdings bei deutlich kleineren Buchstaben. Das Gleiche gilt, wenn der Test so umgebaut wurde, dass oben die kleineren und unten die größeren Buchstaben stehen: Auch dann können die Leute kleinere Buchstaben lesen als bei dem klassischen Format. Wie war das also nochmal mit der "objektiven Messung" der Sehschärfe? Was wird da wirklich gemessen – die Sehschärfe oder die Erwartungen der Probanden? Gibt es so etwas wie eine einheitliche Sehschärfe überhaupt, fragt Langer weiter, oder ist sie in Wirklichkeit situations- und stimmungsabhängig?

Von größerer Tragweite ist, dass Achtsamkeit messbar die Gesundheit und Leistungsfähigkeit beeinflusst. Wenn Pflegeheimbewohner angehalten werden, täglich einige bewusste Entscheidungen zu treffen, statt sich nur versorgen zu lassen, und sich um eine Pflanze zu kümmern, erhöht das ihre Überlebens-Wahrscheinlichkeit erheblich (!). Wenn Zimmermädchen aufgefordert wurden, ihre anstrengende Tätigkeit als Fitnesstraining zu betrachten, nahmen sie ab, und ihr Blutdruck sank. Wenn ältere Menschen an einem Ausflug teilnahmen, der sie in der Zeit 20 Jahre zurückversetzte – Langers berühmt gewordene und inzwischen vielfach replizierte "Counterclockwise Study" –, verbesserte sich ihre körperliche und geistige Verfassung, einschließlich der Sehschärfe.

Aufmerksamkeit auf den Kontext und auf vorhandene Unterschiede

Laut Langer umfasst Achtsamkeit zwei Strategien, die Auswirkungen auf die Gesundheit haben: "attention to context" und "attention to variability" (S. xviii). Wenn jemand zum Beispiel bei einer Erkrankung beginnt, sich damit auseinanderzusetzen, unter welchen Bedingungen es ihm gut oder schlecht geht, gewinnt er damit ein Stück Einfluss auf seinen Zustand. Und wenn er bemerkt, dass es ihm nicht die ganze Zeit gleich schlecht geht, geht es ihm insgesamt besser und er ist weniger geplagt als wenn er sich im vermeintlichen Dauerzustand seines Leidens häuslich eingerichtet hat.

Selbst schwer Depressive sind in der Regel nicht Vollzeit-depressiv, sondern haben Zeiten, in denen es ihnen besser geht und sie sogar Momente der Lebensfreude empfinden können. Diese Momente nicht nur (achtlos) vorbeiziehen zu lassen, sondern sie bewusst wahrzunehmen und zu registrieren, kann sie spürbar entlasten und ihren Gesamtzustand verbessern.

Das gilt für körperliche wie für seelische Erkrankungen gleichermaßen – eine Unterscheidung, die Langer ohnehin nicht akzeptieren würde: Sie ist überzeugte Verfechterin der Einheit von Leib und Seele und lehnt die dualistische Denktradition als falsch und irreführend ab.

Die Aufmerksamkeit für den Kontext und für Unterschiede kann auch für unsere Beziehung zu anderen Menschen hilfreich sein, denn dort sind wir viel zu schnell damit bei der Hand, ihnen feste Etiketten – vermeintliche Charaktermerkmale – anzuheften und sie dann auf das Bild, das wir uns von ihnen gemacht haben, festzulegen. Aber die Verhaltensweisen anderer Menschen sind ebenso stark von der Situation und den gegebenen Rahmenbedingungen bestimmt wie unsere eigenen. Darauf zu achten, hilft uns, anderen besser gerecht zu werden und mehr aus unseren Beziehungen zu machen.

"Mindfulness feels good", resümiert Langer in ihrem Vorwort: "Being mindful allows us to be joyfully engaged in what we are doing. Time races by, and we feel fully alive." (S. xxiii) Eine entscheidende Rolle spielt, ob wir eine Tätigkeit als "Spiel" oder als "Arbeit" klassifizieren. Ein- und dieselbe Tätigkeit ist als "Arbeit" langweilig und ermüdend, während sie als "Spiel" als abwechslungsreich und vergnüglich empfunden wird – weil sie im einen Fall gedankenlos und im anderen Fall achtsam verrichtet wird: "Boredom seems to be a function of mindlessness." (S. xxiv) Das Gegenmittel gegen Langweile ist demgemäß, bewusst nach Neuem und Ungewöhnlichem zu suchen: "To do and act mindfully, novelty must be introduced." (S. xxiv) – Was für ein Feuerwerk von einem Vorwort!

Formen und Ursachen von Gedankenlosigkeit

Nach einem einführenden ersten Kapitel, in dem sie im Wesentlichen die bereits erwähnte Pflegeheim-Studie referiert, wendet sich Langer im ersten Teil ihres Buchs "Mindlessness" zu – was ins Deutsche wohl besser mit "Gedankenlosigkeit" übersetzt wird als mit "Unachtsamkeit" oder gar "Achtlosigkeit".

Das zweite Kapitel trägt den hübschen Titel "When the Light's On and Nobody's Home". Darin stellt sie fest: "Mindlessness sets in when we rely too rigidly on categories and distinctions created in the past" – "Once distinctions are made, they take a life on their own." (S. 13) Kategorien sind ja immer mehr oder weniger künstliche Unterteilungen der Realität. So nützlich sie sein können, sie werden zum Denk- und Wahrnehmungshindernis, wenn wir uns zu starr an ihnen orientieren und die darunter liegende Realität gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen.

Ähnliches gilt für automatisiertes Verhalten, beispielsweise für Routinen und Gewohnheiten, über deren Angemessenheit und Zweckmäßigkeiten im konkreten Fall wir gar nicht mehr nachdenken. So neigen wir etwa dazu, begründeten Bitten ("Würden Sei bitte … weil …") nachzukommen, gleich ob hinter dem "Weil" wirklich eine Begründung folgt oder eine inhaltsfreie Nullaussage: "Würden Sie mich bitte vorlassen, weil ich bezahlen muss?" Das Schöne an diesem Buch ist, dass es solche Muster nicht bloß als amüsante Behauptungen in den Raum stellt, sondern die empirischen Belege mitliefert. Im konkreten Fall mag man sich etwa fragen: "Ist das wirklich so?" Und bekommt die empirische Antwort: Ja.

Voreilige gedankliche Festlegungen

Im dritten Kapitel arbeitet Langer die Ursachen von Gedankenlosigkeit heraus. Als einen zentralen Grund macht sie etwas aus, das sie "premature cognitive commitment" (S. 21), also eine voreilige gedankliche Festlegung. Damit ist gemeint, dass wir gerade bei Themen, die uns nicht sonderlich betreffen oder zu betreffen scheinen, ohne lange darüber nachzudenken Wertungen übernehmen, die uns von unserem sozialen Umfeld bzw. durch den Sprachgebrauch angeboten, nahegelegt oder aufgedrängt werden.

Gerade wenn es um tatsächlich oder vermeintlich unwichtige Themen feht, unterfliegen die entsprechenden Wertungen und Behauptungen sozusagen den Radar unserer Aufmerksamkeit und setzen sich in unserem Denken fest, als ob es sich dabei um unumstößliche Tatsachen handelt. So nehmen Kinder und Jugendliche zum Beispiel Vorstellungen über das Alter, über Krankheiten oder über andere Gesellschaftsschichten auf, ohne dass sie ihnen besondere Bedeutung beimessen.

Beispielsweise haben wir irgendwann in jungen Jahren gelernt, dass die körperlichen und geistigen Kräfte im Alter nachlassen, dass Krebs tödlich ist und vieles andere mehr, ohne dass wir diesen Informationen besondere Bedeutung beigemessen und sie kritisch hinterfragt hätten. Später, wenn diese Themen plötzlich für uns relevant werden, haben sich diese voreiligen Bewertungen längst als vermeintlichem Wissen in unserem Denken festgesetzt und entfalten ihre unheilvolle Wirkung. Das ist es, was mit "premature cognitive commitment" gemeint ist.

Die Risiken und Nebenwirkungen der "Ergebnisorientierung"

Weitere klassische Ursachen von Gedankenlosigkeit sind laut Langer: Der Glaube an die Begrenztheit eigener und fremder Fähigkeiten (hier trifft sie sich mit ihrer Stanforder Kollegin Carol Dweck); die Vorstellung, dass nach einiger Anstrengung unsere Kräfte erschöpft sein müssten ("Fatigue, too, can be a premature cognitive commitment", S. 32), sowie die Annahme, die Zeit würde – und müsse – einzig und allein linear verlaufen.

Erhebliche Risiken und Nebenwirkungen hat auch die starke Fokussierung auf Ergebnisse und Resultate, die uns von Kindesbeinen an beigebracht wird – und die als "Ergebnisorientierung" auch und gerade in der Wirtschaft glorifiziert wird. Sie lenkt die Aufmerksamkeit ausschließlich darauf, ob man etwas kann – und auf die angstvolle Frage: "Was, wenn ich das nicht kann?" Das löst schon bei Kindern eine ängstliche Beschäftigung mit der Möglichkeit des Misserfolgs und damit mit den eigenen Grenzen aus, statt auf deren natürliche Neugier und Experimentierfreude zu setzen.

Ergebnisorientierung fördert Gedankenlosigkeit, meint Langer, weil sie dazu verleitet, sich auf die Minimalinformationen zu beschränken, die für die Ausführung einer Aufgabe erforderlich sind, und alles andere auszublenden, und sie dann gedankenlos zu erledigen. So werden Aktivitäten zur (anstrengenden) "Arbeit", die man routiniert hinter sich bringt, statt auf den besten Weg zu achten, neue Ideen zu entwickeln und Freude an der Ausführung zu haben. Zugleich verunsichert uns diese Ergebnisorientierung bei Aufgaben, mit denen wir nicht vertraut sind: "Was, wenn ich mich dumm anstelle?"

Die Rahmenbedingungen unseres Handelns, der Kontext, induzieren eine bestimmte innere Haltung, die oft einer voreiligen Festlegung gleichkommt: "The way we behave in any situation has a lot to do with the context. We whisper in hospitals and become anxious in police stations, sad in cementaries, docile in schools, and jovial at parties. Contexts control our behaviour, and our mindsets determine how we interpret each context." (S. 37)

Die Kosten der Gedankenlosigkeit

Den Kosten der Gedankenlosigkeit geht Langer im vierten Kapitel nach. Ein zu enges Selbstbild lässt uns unter unseren Möglichkeiten bleiben. Wenn wir andere um ihre Fähigkeiten beneiden, fallen wir unter Umständen der erwähnten Ergebnisorientierung zum Opfer und übersehen, dass es für sie ein mühsamer Weg war, dorthin zu kommen: "Keeping an eye on process, on the steps anyone must take to become an expert, keeps us from disparaging ourselves." (S. 48)

Die Verwendung von Kategorien wie "Haustiere", "Vieh" und "Wild" lässt uns ganz unterschiedlich – und potenziell grausam – mit Tieren umgehen, schreibt Langer. Die Reduzierung von Menschen auf ihre Religionszugehörigkeit oder Herkunft verstellt den Blick auf die konkreten Personen.

Monokausale Erklärungen verengen unseren Blick ebenso wie rigide Denkmuster und starre Erwartungen; dies macht uns blind für Unterschiede und reduziert so unsere Gestaltungsoptionen. Bei Alkoholikern zum Beispiel spielt, wie Langer und Kollegen zeigen konnten, eine wichtige Rolle für ihre Prognose, ob sie als Kind nur einen Alkoholiker kannten (und damit eine starrere Erwartung über den Krankheitsverlauf haben) oder mehrere – und damit auch unterschiedliche Verläufe gesehen hatten: "Those who had been exposed to only one model of alcoholim appeared to have developed mindsets so rigid that the options offered by therapy did not seem available to them." (S. 54)

Auch die "gelernte Hilflosigkeit", die Martin Seligman bekannt gemacht hat, kann man als voreilige gedankliche Festlegung verstehen: "Even when solutions are available, a mindless sense of futility prevents a person from reconsidering the situation." (S. 55) In Summe bewirkt Gedankenlosigkeit, indem sie unser Selbstbild verengt, unsere  Erwartungen auf eine einzige Möglichkeit reduziert und unsere Wahlmöglichkeiten einschränkt, dass wir unsere Potenziale verschwenden.

Die Natur der Achtsamkeit

Nachdem sie uns im ersten Teil ausführlich erklärt hat, weshalb Gedankenlosigkeit des Teufels ist, wendet sich Langer im zweiten Teil der Achtsamkeit zu. Da liegt natürlich die Frage nahe, was denn mit Achtsamkeit genau gemeint ist, und das erläutert sie denn auch im fünften Kapitel mit dem geradezu phänomenologischen Titel "The Nature of Mindfulness". Sie benennt "the key qualities of a mindful state of being: (1) creation of new categories; (2) openness to new information; and (3) awareness of more than one perspective." (S. 64)

Da Kategorien zwar nützlich sind, aber auch einengend, betont Langer die Fähigkeit, sich von vorhandenen Kategorien zu lösen und neue zu bilden, indem wir aufmerksam für die Situation und den Kontext sind. Dafür ist es wichtig, offen für neue Informationen zu sein, statt alles auszublenden, was nicht in das vorhandene Bild passt, und sich immer wieder mit neuen Gesichtspunkten und Perspektiven auseinanderzusetzen. (Möglicherweise liegt hier sogar ein weiterer Grund der verbreiteten Gedankenlosigkeit: Das "Zulassen" neuer Informationen ist potenziell verunsichernd – und nicht immer wollen Menschen das Risiko einer Verunsicherung eingehen.)

Einer der Gründe, weshalb es Menschen so schwer fällt, ihre Gewohnheiten zu ändern, selbst wenn sie "eigentlich" fest dazu entschlossen sind, hängt ebenfalls mit Gedankenlosigkeit zusammen: Langer und Kollegen fanden heraus, dass die betreffenden Personen genau die Gewohnheiten, die sie ablegen wollen, unter einer anderen Bezeichnung schätzen. Wer lernen möchte, nicht mehr so impulsiv zu sein, wird sich schwer damit tun, solange er nicht bemerkt hat, dass er genau diese Eigenschaft unter dem Namen "Spontanität" an sich liebt.

Wie wichtig die Kontrolle über den Kontext ist, zeigt ein faszinierendes Experiment. Wie sie schreibt, gehen die meisten Menschen fest davon aus, dass Schmerzen zu einem Krankenhausaufenthalt dazugehören. Langer und Kollegen zeigten einer Gruppe von Patienten, wie sehr die Schmerzwahrnehmung situationsbedingt ist, und dass sie sie beeinflussen können, je nachdem, worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenken. Das Krankenhauspersonal, das in das Experiment nicht eingeweiht war, stellte fest, dass diese Patienten weniger Schmerz- und Beruhigungsmittel brauchten und das Krankenhaus früher verließen als die "untrainierte" Kontrollgruppe.

Entmutigender Fokus auf das Ergebnis

Schließlich kann man Achtsamkeit auch als Prozessorientierung verstehen. Wer zu sehr auf das Ergebnis starrt und seine Leistungen als Anfänger mit der von Profis vergleicht, verliert leicht den Mut: "A pure outcome orientation can take the joy out of life." (S. 78) Beispielsweise reagieren Doktoranden oft mutlos, wenn sie ihre unausgereiften Entwürfe mit fertigen Promotionsschriften vergleichen.

Generell neigen Menschen bei Spitzenforschung viel mehr dazu, die unerreichbare Genialität der Forscher zu bewundern, wenn sie nur die fertigen Ergebnisse vorgestellt bekommen, als wenn sie eine Beschreibung lesen, auf welchem Weg und mit wie vielen Zwischenschritten diese Ergebnisse entstanden sind: Die Beschreibung des Wegs lässt das Ergebnis "menschenmöglicher" erscheinen.

Wer sich bewusst macht, dass vor jedem Ergebnis ein (mehr oder weniger langer) Lernprozess steht, ist viel schwerer zu entmutigen. Vor allem wenn er diesen Prozess mit Achtsamkeit angeht und bewusst auf Nuancen achtet und kleine Verbesserungen aufmerksam registriert. Abgesehen davon, dass es bei manchen Dingen ohnehin nur auf den Prozess ankommt: "In a game, (…) process (…) is really all that matters." (S. 78)

Angewandte Achtsamkeit

In den folgenden Kapiteln stellt Ellen Langer diverse Anwendungsfelder der Achtsamkeit vor: "Mindful Aging", "Creative Uncertainty", "Mindfulness On the Job", "Decreasing Prejudice by Increasing Discrimination" (nette Doppeldeutigkeit) und "Mindfulness and Health". Hier kann sich jeder nach Geschmack und Interesse die Themen herauspicken, die ihn besonders interessieren.

Für alle, die nicht mehr leugnen können oder wollen, allmählich älter zu werden, ist das Kapitel "Mindful Aging" eine besonders lohnende Lektüre: Es kann helfen, einen ganz anderen Blick auf den vor uns allen liegenden Lebensabschnitt zu entwickeln. Denn möglicherweise ist auch vieles von dem, was wir unter Altern verstehen – und bang erwarten –, mehr eine Folge voreiliger gedanklicher Festlegungen, also unserer stereotypen Erwartungen, die wir mit dem Älterwerden verbinden, als ein unvermeidlicher und irreversibler natürlicher Abbauprozess.

Wenn wir beispielsweise morgens nach dem Aufwachen nicht wissen, was für ein Tag es ist, dann erklären wir uns das in jungen Jahren zum Beispiel damit, dass wir in den Ferien etwas den Zeittakt verloren haben. Passiert uns das Gleiche jenseits der 60, dann "wissen" wir, dass der natürliche Abbau unseres Gedächtnisses eingesetzt hat. Wenn wir in jüngeren Jahren unsere Schlüssel nicht mehr finden, dann suchen wir sie halt. In späteren Jahren machen wir uns Sorgen. Wenn wir mit Mitte 40 bergauf ins Schnaufen kommen, konstatieren wir, dass unsere Kondition schon einmal besser war. Mit Mitte 60 zucken wir resigniert die Achseln.

Wenn wir in jungen Jahren unser Bild vom Alter formen, tun wir das mit dem Gefühl, dass uns das nicht betrifft, weil wir niemals alt werden. Dabei übernehmen wir Vorstellungen von Senilität, nachlassenden Kräften und körperlichem und geistigem Verfall. Wenn wir dann später irgendwann merken, dass wir selbst älter werden, ängstigen und entmutigen uns diese Bilder – und werden zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Was auch immer wir an ungewohnten Mängeln und Unzulänglichkeiten an uns bemerken, wir bringen sie mit dem Alter in Verbindung. Zugleich beginnen wir, Einschränkungen und Ausfälle zu erwarten. Die gedankenlose Übernahme von Stereotypen kann hier buchstäblich zur tödlichen Falle werden.

"Brain physiology, chemistry, and anatomy are fare more plastic than previously assumed", betont Langer, gestützt auf zahlreiche Experimente (S. 97). Daraus folgt auch, dass der verbreitete Fatalismus in Bezug auf das Alter nicht nur unangebracht ist, sondern möglicherweise sogar die Ursache dessen, was er befürchtet.

"The regular and 'irreversible' cycles of aging that we witness in the later stages of human life may be a product of certain assumptions about how one is supposed to grow old. If we didn't feel compelled to carry out these limiting mindsets, we might have a greater chance of replacing years of decline with years of growth and purpose." (S. 112) Ein bemerkenswerter Satz, der mich an meinen Lieblingsdirigenten Neville Marriner erinnert, der vor einigen Tagen im Alter von 92 Jahren verstorben ist – und fünf Tage vor seinem Tod noch ein Konzert gegeben hat. Er wüsste nicht, was er sonst tun solle, sagte er in einem seiner letzten Interviews.

Es ist doch etwas dran

Auch in den folgenden Kapiteln bringt "Mindfulness" zahlreiche interessante und zum Teil überraschende Gedanken und Befunde – zu viele, um sie hier alle wiederzugeben. Insgesamt ein sehr lesenswertes und lesbares Buch, das seinem Anspruch gerecht wird, einen neuen Blick auf die unterschiedlichsten Lebensthemen anzuregen, die man bislang vielleicht allzu achtlos als gegeben genommen hat.

Wer wie ich dieses Buch zur Hand genommen hat mit der unausgesprochenen Frage, ob Mindfulness / Achtsamkeit nur ein aktuelles Modethema der Trainer- und Betroffenheitsszene ist oder ob sich hinter dem ganzen Gewaber vielleicht doch etwas verbirgt, was einer vertiefenden Beachtung wert ist, dürfte es aus der Hand legen mit der klaren Erkenntnis: Doch, da ist mehr – schade, dass die meisten Achtsamkeitsbeschwörer nicht achtsamer mit dem Thema Achtsamkeit umgehen: Es hätte es verdient.

Schlagworte:
Achtsamkeit, Unaufmerksamkeit, Gedankenlosigkeit, Unachtsamkeit, Voreilige mentale Konzepte, Vorurteile, Stereotypien

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