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Eine vertane Chance – und ihre Lehren

Weizsäcker, Ernst Ulrich von; Lovins, Amory B.; Lovins, L. Hunter (1995):

Faktor Vier

Doppelter Wohlstand – halbierter Naturverbrauch. Der neue Bericht an den Club of Rome.

Droemer Knaur (München); 352 Seiten (vergriffen)


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 20.05.2017

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Es ist erschreckend, dieses Buch mehr als 20 Jahre nach seinem Erscheinen wiederzulesen: So viele gute Ansätze, so viel Zeit verloren, trotz aller umsetzungsreifen Erkenntnisse weitergemacht wie bisher …

Faktor Vier – das heißt, die Ressourcenproduktivität zumindest zu vervierfachen, das war die Idee des Biologie-Professors Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Präsident des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Sein ideenreicher und umtriebiger Koautor Amory B. Lovins, Gründer des Rocky Mountain Instituts, fand diese Idee, wie Weizsäcker im Vorwort erzählt, zu wenig ambitioniert, doch er ließ sich auf sie ein, vielleicht als ersten Schritt. Gemeinsam mit seiner Frau L. Hunter Lovins trugen sie 50 umsetzungsreife Konzepte zusammen, wie man mit einem Bruchteil des heutigen Ressourcenaufwands denselben oder größeren Nutzen erzielen kann – 20 zu vervierfachter Energieproduktivität, 20 zu Stoffproduktivität und 10 zu Transportproduktivität.

Um Akzeptanz zu finden, führen sie Faktor Vier ganz bewusst "als ein wirtschaftspolitisches Gewinnspiel ein, nicht als umweltpolitischen Bußgang" (S. 235). Mit anderen Worten, Weizsäcker und die Lovins' predigen nicht Verzicht und Askese, sondern Effizienz und damit Kostenersparnis – also etwas, was eigentlich sowohl im Interesse der Industrie als auch der Verbraucher liegt. Das eigentliche Ziel von Unternehmen wie Konsumenten ist ja nicht wirklich, möglichst viel Öl zu verbrennen und Rohstoffe zu verbraten, sie wollen eine effiziente Produktion, komfortable Mobilität und im Winter warme Räume. Wenn das mit wesentlich weniger Ressourcenverbrauch und damit zu geringeren Kosten möglich sein sollte – wer sollte etwas dagegen haben?

Gescheiterte Effizienzrevolution

Man hätte also erwartet, dass sich Wirtschaft und Verbraucher begierig auf die aufgezeigten Potenziale stürzen und sie umgehend realisieren – nicht aus ökologischem Bewusstsein, sondern aus schlichtem ökonomischen Eigeninteresse. Doch davon ist bis heute, 22 Jahre nach der Veröffentlichung von Faktor Vier, wenig zu sehen. Vermutlich wäre es ungerecht zu sagen, dass in dieser Zeit überhaupt nichts vorwärts gegangen ist, doch wenn man sich die 50 Beispiele anschaut, ist kaum eines dabei, hinter das man in voller Überzeugung einen Erledigt-Haken machen könnte.

Woran liegt es, dass Weizsäckers und Lovins' Effizienzrevolution zu unser aller Schaden so völlig gescheitert ist? Eine umfassende Analyse sprengt den Rahmen einer Rezension, doch ich sehe nichts, was man dem Buch und seinen Autoren vorwerfen könnte: Es leistet alles, was ein Buch überhaupt leisten kann, liefert konkrete Ansätze, Konzepte und Motivation. Insbesondere verzichten die Autoren darauf, ihre Leser mit moralischem Druck zu "motivieren", sondern zeigen ihnen auf, dass sie das, was sie wirklich haben wollen – nicht Ölverbrauch, sondern Wärme –, viel effizienter, kostengünstiger und dazu umweltschonender haben können als heute. Ich sehe nicht, was sie mehr hätten tun können.

Ein, wenn nicht das zentrale Thema ist in meinen Augen das Fortbestehen falscher Anreize. Wenn Preise verzerrt sind, steuern Märkte unweigerlich in die falsche Richtung. Insofern ist es verheerend, dass die Preise sowohl für fossile Energieträger als auch für Rohstoffe (und damit für die gesamte Wertschöpfungskette!) nicht die Wahrheit sagen: Sie spiegeln lediglich die Förder-, Herstell- und Transportkosten wider und enthalten nicht die gesellschaftlichen und ökologischen Folgekosten ihrer Verbrennung bzw. Nutzung. Dass diese "externalen Kosten" nicht oder nur in Bruchteilen in die Preise einfließen, schafft verheerende Anreize zum ineffizienten Umgang mit Ressourcen und bestraft Investitionen in die Steigerung der Ressourceneffizienz.

Von falschen Anreize zu einer ökologischen Steuerreform

In die Rubrik falsche Anreize fällt auch unser Steuersystem. Um eine sinnvolle Lenkungswirkung zu haben, muss ein Steuersystem ja das verteuern, was unerwünscht ist – nämlich Ressourcenverbrauch – und entlasten, was erwünscht ist – nämlich Beschäftigung. Real tun die Steuersysteme der Industrieländer das genaue Gegenteil: Sie verteuern Beschäftigung und fördern den verschwenderischen Umgang mit Ressourcen.

Eine ökosoziale Steuerreform wäre daher dringend geboten, doch sie scheitert – neben dem flächendeckenden Mangel an ernsthaftem Willen – daran, dass der Ressourcenverbrauch mobiler ist als die Beschäftigung. Die Politik hat daher durchaus zu Recht die Befürchtung, dass ein ökosozialer Umbau des Steuersystems rasch zum Standortnachteil werden könnte: Wenn sie den Ressourcenverbrauch in ihrem Land verteuert, hätten gerade die Großverbraucher einen starken Anreiz, abzuwandern in Länder, die die wahren ökologischen und sozialen Kosten ignorieren und auf diese Weise Ökodumping betreiben: Ein klassisches spieltheoretisches Dilemma, aus dem es auf nationaler Ebene keinen Ausweg gibt.

Nur abgestimmtes Handeln auf internationaler Ebene eröffnet einen Weg aus dieser Falle, die auf mittlere Sicht tödlich ist. So wird Europa – vielleicht etwas überraschend – zur hoffnungsvollen Perspektive: Einer einheitlichen europäischen Regelung könnten Großverbraucher sehr viel schwerer ausweichen, wenn sie nicht, um zwei Beispiele zu nennen, die ganze Zement- und Chemieproduktion nach China verlagern wollen.

Selbst Importe aus Ökodumping-Ländern könnte man unschädlich machen, indem man Einfuhren aus Ländern, die den Ressourcenverbrauch nicht belasten, mit einer Importsteuer belegt, die deren Kostenvorteil ausgleicht. Dann würden die betreffenden Länder vermutlich ziemlich schnell zu der Erkenntnis kommen, dass sie diese Steuer lieber selber kassieren, statt sie Europa zu überlassen …

Uns läuft die Zeit weg – bzw. die Zukunftsperspektiven

"Wir haben fünfzig Jahre Zeit, also haben wir keine Zeit zu verlieren", ist das elfte Kapitel überschrieben (S. 284). 22 von diesen 50 Jahren sind mittlerweile verstrichen, ohne dass bislang Substanzielles passiert ist. Wenn wir so weitermachen, werden wir Gelegenheit haben, empirisch zu überprüfen, wie gut die Modellrechnungen der "Grenzen des Wachstums" die künftige Entwicklung vorweggenommen haben. Bislang sind wir, wie ein Research Paper der University of Melbourne gezeigt hat (Turner 2014), recht gut im Plan. Wir dürfen also gespannt sein, ob auch die errechnete dramatische Verschärfung der Umweltprobleme wie modelliert eintreten. (Wobei Meadows und Kollegen schon 1972 geschrieben haben, dass sie keine jahresgenauen Prognosen zu liefern beabsichtigen, sondern die Grundlinien möglicher Entwicklungen beschreiben wollen.)

Allerdings machen Weizsäcker und die Lovins in diesem Kapitel meines Erachtens den Fehler, zu sehr auf die Bevölkerungsentwicklung und die Geburtenrate zu fokussieren. Denn zum einen ist die Bevölkerungsentwicklung keineswegs nur von der Geburtenrate bestimmt, sondern in wachsendem Maße auch von der steigenden Lebenserwartung in den Schwellenländern. Und die lässt sich kaum kritisieren, auch wenn sie zu zusätzlichen Belastungen des Ökosystems führt.

Zum anderen spielt die absolute Zahl beim Menschen eine weit geringere Rolle als bei allen anderen Lebewesen, denn beim Menschen ist der Ressourcenverbrauch keine lineare Funktion der "Stückzahl", sondern kann sich in Abhängigkeit von der Lebensweise um den Faktor 100 und mehr unterscheiden: Ein 200-köpfiger Indiostamm im Amazonasbecken verbraucht weniger Ressourcen als ein einziger internationaler Jetsetter. Natürlich spielt die absolute Zahl trotzdem eine Rolle, aber der größere und vor allem leichter beeinflussbare Hebel – auf den ja auch "Faktor Vier" zielt – dürfte im Lebensstil der westlichen Welt liegen.

Zeitgewinn durch Effizienzrevolution

Der klassische Einwand gegen eine Steigerung der Ressourcenproduktivität ist der sogenannte Rebound-Effekt: Die erzielten Einsparungen verpuffen weitgehend oder kehren sich sogar in ihr Gegenteil um, weil sie sogleich für erhöhten Konsum genutzt werden. Beispielsweise wird ein reduzierter Benzinverbrauch (mehr als) aufgefressen durch größere Fahrzeuge und zusätzlich gefahrene Kilometer. Weizsäcker und die Lovins' bestreiten das nicht. Sie versprechen sich von ihren Vorschlägen nicht die Rettung der Welt, sondern einen "Zeitgewinn durch Effizienzrevolution" (S. 301).

Das ist sicher nicht die endgültige Lösung, aber es ist auch nicht wenig, vor allem angesichts der Alternative, ohne Steigerung der Ressourcenproduktivität einfach so weiterzumachen wie bisher – bis es irgendwann demnächst nicht mehr geht. Anhand der Software World3, die den Modellrechnungen der "Limits to Growth" zugrunde lag, zeigen sie sogar, dass mit Faktor Vier eine "weiche Landung" noch möglich (bzw. 1995 noch gewesen) wäre. (Wobei ich den Eindruck habe, dass sie den Rebound-Effekt hier außer Acht gelassen haben.)

In einem 22 Jahre alten Buch ist natürlich nicht mehr alles aktuell, und gerade die Bezüge zu zeitgenössischen Ereignissen wie etwa dem "Erdgipfel von Rio" sowie die mit ihm und seinen Folgekonferenzen verbundenen Hoffnungen sind Schnee von gestern. Lohnt es sich trotzdem noch, das Buch zu lesen bzw. wiederzulesen? In jedem Fall ist es eine Mahnung, wie weit kluge strategische Überlegungen auch 1995 schon gediehen waren.

Neuorientierung erforderlich

Dass wir noch nicht weiter sind, liegt nicht daran, dass wir vor 20 Jahren die Probleme noch nicht kannten, und es liegt auch nicht daran, dass es keine praktikablen Vorschläge gab, was getan werden könnte: Hier hat gerade dieses Buch – aber nicht nur dieses – eine Fülle konkreter Ansatzpunkte geliefert. Es liegt wohl hauptsächlich daran, dass der Druck – der politische, aber auch der der unerbittlichen Realität – noch nicht groß genug ist und dass falsche Anreize großflächig weiter bestehen.

Das könnte ein Grund sein, darüber nachzudenken, was uns ins Handeln bringen könnte, bevor die Grenzen des Wachstums zuschlagen. Denn die Endlichkeit der Erde ist nicht verhandelbar, und mit dem Ökosystem kann man keine politischen Kompromisse aushandeln. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie viel es bringt, den wohlmeinenden Vorschlägen früherer Jahre neue (oder aufgefrischte alte in modernisierter Verpackung) folgen zu lassen. Nachdem Faktor Vier (so gut wie) verpufft ist, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie realistisch ist, sich von Faktor Fünf, Faktor Sieben oder Faktor Zehn den Durchbruch zu erhoffen.

Vielleicht lohnt sich ein Wiederlesen gerade deshalb. Es könnte uns bewusst machen, dass es bereits genügend gute Ansätze gibt. Wer trotzdem unverdrossen weiter seine Zeit und Kraft investiert, um gut gemeinte und wohldurchdachte Vorschläge für eine Effizienzrevolution oder was auch immer auszuarbeiten, läuft Gefahr, zum Teil des Problems statt zum Teil der Lösung zu werden. Stattdessen sollten diejenigen, denen die Zukunft der Menschheit und des Ökosystems nicht gleichgültig ist, sich daran machen, herauszufinden, woran es liegt, dass so wenig von diesen guten Ideen umgesetzt wird, und diese kritischen Engpässe zu beseitigen.

Zwei Hebel scheinen mir dabei besonders entscheidend: Zum einen die politische Durchsetzung von Preisen, die die ökologische und soziale Wahrheit sagen, also sowohl die Knappheit von Ressourcen als auch deren externale Kosten widerspiegeln, zum anderen eine ökologische und soziale Steuerreform. Das erfordert zwingend europäisches Handeln, denn auf nationaler Ebene ist eine Verteuerung des Ressourcenverbrauchs, gleich wie berechtigt sie sein mag, weder durchzusetzen noch durchzuhalten. Ohne Zweifel ein großes Rad – doch werden wir nur dann einen entscheidenden Schritt weiterkommen, wenn wir es in Bewegung bringen.

Schlagworte:
Ökologie, Ressourcenverbrauch, Effizienzsteigerung, Ökosystem, Klimawandel, Ressourceneffizienz

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