Dass Emotionen allzuoft die rationalste Verhandlungsstrategie durchkreuzen, musste das Harvard Negotiating Project erfahren. Doch der vorgestellte Lösungsansatz seines Direktors begeistert mich weniger als der seines früheren Koautors William Ury.
Ich gebe es zu: Dieses Buch habe ich mehr aus selbstverordneter Disziplin zuende gelesen als aus Begeisterung. Ich wollte wissen, was Roger Fisher, der langjährige Direktor des Harvard Negotiating Project und Mitautor von "Getting to Yes", und sein Koautor, der Psychologe und Associate Director Daniel Shapiro zur Rolle von Emotionen in Verhandlungen sagen. Also habe ich mich durch die 230 Seiten mit begrenztem Vergnügen "hindurchgearbeitet".
Diese Unlust ist sicher nicht darin begründet, dass Fisher und Shapiro zu ihrem Thema nichts zu sagen hätten. Im Gegenteil: Der Ansatz, den sie wählen und im Hauptteil ihres Buches abhandeln, hat Hand und Fuß – und was sie darüber hinaus zu sagen haben auch. Trotzdem springt, wenigstens bei mir, der Funke nicht über: Das wirkt alles routiniert, erfahren, solide begründet – und dabei einfach etwas zu routiniert. Mir kommt es so vor, als sei meine Lustlosigkeit ein Echo der der Autoren.
Wie kommt dieser Eindruck zustande? Erst einmal schwer zu sagen, weil es ein Gesamteindruck ist und keine Beobachtung. Ein Grund ist sicher, dass Fisher und Shapiro ebenso routiniert wie ungeniert mit Versatzstücken amerikanischer Sachbücher hantieren, so etwa mit Fallbeispielen, bei denen sie die Namen (in ironischer Distanzierung?) in Anführungszeichen setzen: "John" und "Mary". Was die unpassende Frage aufkommen lässt, ob hier nur die Namen erfunden sind oder die Beispiele gleich mit.
Aus der Denkschule des Harvard Negotiating Project
Trotz aller Unlust ist dies kein schlechtes Buch – im Gegenteil: Es ist sogar ein sehr brauchbares Buch, und dies nicht nur für "Anfänger", sondern auch für erfahrene Verhandler, denn das Thema Emotionen hat man nie hinter sich: Der Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen bleibt eine Herausforderung, solange man mit anderen Menschen beruflich wie privat verhandelt, also lebenslang. Auch wenn man sich damit schon bei früheren Gelegenheiten auseinandergesetzt hat, ist es sinnvoll, immer wieder mal darauf zurückzukommen und es wieder aus einer etwas anderen Perspektive zu betrachten.
Das gilt erst recht, wenn solch ein Buch aus dem Harvard Negotiating Project kommt, einer der führenden Denk- und Methodenschulen zum Thema Verhandeln. Interessant ist dabei, dass sich beide Autoren des bahnbrechenden "Harvard-Konzepts" im Nachgang zu ihrem internationalen Bestseller "Getting to Yes" intensiv und mehrfach mit dem Thema Emotionen auseinandergesetzt haben. Denn so schlüssig, logisch und überzeugend ihr Konzept ist, die emotionale Seite ist darin in der Tat unterbelichtet, und sie konnte, wie beide Autoren erfahren mussten, die wunderbare Rationalität völlig durchkreuzen.
William Ury hat dazu 2015 ein großartiges Buch veröffentlicht, von dem ich wirklich begeistert bin, nämlich "Getting to Yes with Yourself and Other Worthy Opponents". Davor hatte er sich mit "Getting Past No" (deutsch: "Schwierige Verhandlungen") bereits 1991 an das Thema angenähert. 2005 folgte sein früherer "Seniorpartner" mit dem vorliegenden Buch, welches, auch wenn es mich nicht in der gleichen Weise überzeugt, ebenfalls, klar durchdacht und logisch strukturiert ist – wie man es von Harvard-Juristen auch erwartet.
Trotzdem erreicht es nicht die Tiefe von Urys neuestem Werk. Das beginnt schon damit, dass es mit der sehr amerikanischen (und zugleich recht bornierten) Unterscheidung von positiven und negativen Emotionen operiert. Offenbar haben sich die Autoren nicht die Frage gestellt, ob die Evolution nicht vielleicht gute Gründe hatte, uns auch mit "negativen" Emotionen auszustatten, und ob diese Gründe auch für Verhandlungen bedeutsam sein könnten. Vor allem aber bleiben sie beim Umgang mit eigenen und fremden Emotionen zu sehr auf der Ebene von (durchaus nützlichen) "Tipps", erreichen aber nicht den Grad von Selbstreflexion und "Empathie für sich selbst" wie William Ury.
An den Bedürfnissen ansetzen, nicht an den Emotionen
Trotzdem lohnt sich eine kurze Übersicht über den Inhalt. Das einführende erste Kapitel "Emotions Are Powerful, Always Present, and Hard to Handle" beschreiben Fisher und Shapiro das zentrale Problem, um das es ihnen in dem Buch geht, und zeigen, dass sich Emotionen weder abstellen noch iognorieren lassen, weil sie unweigerlich unseren Körper, unser Denken und unser Verhalten beeinflussen.
Ihren zentralen Lösungsansatz umreißen sie im zweiten Kapitel "Address the Concern, Not the Emotion" – und dieser Gedanke ist allein schon die Lektüre des Buches wert, auch wenn er einiges Nachdenken braucht, um ihn in seiner vollen Tragweite zu verstehen. Negative – oder besser: trennende, feindselige – Gefühle entstehen, wenn wichtige eigene oder fremde Bedürfnisse missachtet, verletzt oder gar mit Füßen getreten wurden. Statt daher auf das Symptom – die Emotionen – einzugehen, ist es sinnvoller, sich den dahinter stehenden Bedürfnissen zuzuwenden und ihren Gerechtigkeit angedeihen zu lassen.
Fisher und Shapiro machen dabei fünf zentrale (soziale) Grundbedürfnisse aus, die beim Verhandeln (und auch sonst in zwischenmenschlichen Beziehungen) eine entscheidende Rolle spielen, nämlich "Appreciation", "Affiliation", "Autonomy", "Status" und "Role". Jedem dieser fünf Grundbedürfnisse widmen sie ein eigenes Kapitel im zweiten Teil des Buchs.
Variationen über das Thema Ansehen und Geltung
Die ersten drei dieser Kategorien leuchten auf Anhieb ein. Die beiden letzten hingegen scheinen mir, so wie die Autoren sie definieren und beschreiben, diffus und unscharf. So finde ich nicht überzeugend, dass Fisher und Shapiro unter "Status" gesellschaftliche Ansehen und die Expertise für den jeweiligen Verhandlungsgegenstand vermengen. Zum einen sind das zwei ganz unterschiedliche Aspekte – zum anderen lässt sich das Grundbedürfnis dahinter in beiden Fällen unter "Appreciation" subsumieren, sodass auf Bedürfnisebene keine zusätzliche Kategorie erforderlich ist.
Klar, Menschen haben nicht nur ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit ("Affiliation"), sondern auch eines danach, in ihrer jeweiligen Bezugsgruppe eine anerkannte und geschätzte Position einzunehmen, die auch ihren besonderen Merkmalen gerecht wird. Aber das ist, nachdem "Appreciation" bereits eingeführt wurde, keine neue Kategorie – das ist eine Variation über das Thema Appreciation.
Auch dass "Rolle" unter den Grundbedürfnissen aufgeführt ist, wirkt zunächst befremdlich – entpuppt aber sich bei genauerem Hinsehen als das Bedürfnis nach einer anerkannten Rolle. Und damit letztlich als weitere Variation über "Appreciation", also über das Bedürfnis, in der jeweiligen Gruppe eine anerkannte, geschätzte Position bzw. Rolle einzunehmen.
Aus individualpsychologischer Perspektive ließe sich dieser Gedanke vielleicht zu einer eigenständigen Kategorie weiterentwickeln, indem man nicht die Rolle in den Blickpunkt stellt, sondern den Wunsch, aus dieser Rolle heraus einen Beitrag zum übergeordneten Ganzen zu leisten. Dann wäre es tatsächlich mehr als bloß das Bedürfnis nach Ansehen und Geltung – es wäre aus individualpsychologischer Perspektive der Ausfluss des Gemeinschaftsgefühls: der Wunsch, von der Gruppe, zu der man gehört, nicht nur zu partizipieren, sondern zu ihrem Funktionieren und ihrem Erfolg beizutragen.
Hoher praktischer Nutzen
Ungeachtet solcher Einwände und Weiterentwicklungsmöglichkeiten ist es ein entscheidender Schritt nach vorn, beim Umgang mit Emotionen in Verhandlungen nicht mehr auf das Symptom, nämlich die Emotion zu fokussieren, sondern die dahinter stehenden Bedürfnisse zu erkennen und zu beachten. Das dürfte für die zwischenmenschlichen Beziehungen auch dann einen wesentlichen Fortschritt bringen, wenn ihre analytische Systematisierung noch nicht das letzte Wort ist.
Hilfreich ist auch, was Fisher und Shapiro an praktischen Tipps zu dem Umgang mit Bedürfnissen geben – wie zum Beispiel: "We need
- To understand each other's point of view;
- To find merit in what each of us thinks, feels, or does;
- To communicate our understanding through words and actions." (S. 28)
Denn in der Tat: Die gute Absicht, dem Verhandlungspartner und seinen Bedürfnissen mit Wertschätzung zu begegnen, nutzt wenig, wenn es uns nicht gelingt, diese Wertschätzung im richtigen Moment auf anschlussfähige Weise zum Ausdruck zu bringen. Deshalb ist "find merit" mehr als nur ein guter Tipp, es ist eine andere Art, über die Einwände und Gegenargumente des Verhandlungspartners zu denken.
Hilfreich ist auch, die "Gegenseite" aufzuwerten, ihr also in heiklen Situationen Wertschätzung entgegenzubringen, indem man sie um Rat fragt: "Was würden Sie mir in dieser Situation empfehlen, um nicht mit leeren Händen in meine Firma zurückzukehren?" Desgleichen ist ein guter Tipp, sich aktiv eine befriedigende Rolle zu suchen, die einen klaren Zweck hat und für einen persönlich bedeutsam ist, statt einfach in der vordefinierten Rolle zu verharren.
Starke Emotionen – kommen vor in Verhandlungen
Mindestens ebenso ergiebig ist der dritte Teil des Buchs, der "Some Additional Advice" überschrieben ist – wohl ein anderes Wort für "Sonstiges". Gleich das erste der drei Kapitel geht ins Eingemachte: "On Strong Emotions – They Happen. Be Prepared". Schon diese Überschrift ist ein wohltuender Kontrast zu all den Darstellungen, die suggerieren, wenn man als Verhandler nur ausreichend geschult sei, würde "so etwas" nicht mehr vorkommen.
Doch, "they happen", auch wenn man an noch so vielen Seminaren, Schulungen und Lehrgängen teilgenommen hat. Statt also die ebenso verständliche wie unrealistische Hoffnung zu nähren, man könne seine Emotionen ein für alle Mal in den Griff zu bekommen oder, noch besser, so abgeklärt werden, dass man gar keine "negativen" Emotionen mehr entwickelt, ist es ebenso erfrischend wie befreiend, wenn Fisher und Shapiro dem entgegenzuhalten: "They happen. Be prepared."
Wenn man das erst einmal akzeptiert hat und zusätzlich begreift, dass sich Emotionen nicht durch Willenskraft oder positives Denken deaktivieren lassen, dann kann es nur noch darum gehen, seinen Frieden mit dem Unvermeidlichen zu machen und gestaltend damit umzugehen. Was vor allem heißt, zu vermeiden, dass heftige Emotionen einen unvorbereitet erwischen und einen zu einem Verhalten veranlassen, mit dem man den Schaden unnötig vergrößert.
Fisher und Shapiro schlagen hier etliche Möglichkeiten vor, wie man sich selbst und andere beruhigen kann, kommen aber letztlich zu der Feststellung, dass hier jeder seinen eigenen Weg finden muss (und dies im eigenen Interesse auch sollte). Weil wir meist dazu neigen, die momentane Situation zu wichtig zu nehmen, lautet eine ausgezeichnete Frage: "How important is this issue to me?" (S. 151) Das erinnert an Theo Schoenakers Mahnung: "Mach's nicht so wichtig!" Am Ende ist ja in der Tat fast alles besser als eine unkontrollierte Eskalation – deshalb ist auch alles besser als blind seinen Emotionen zu folgen.
Weiteres Sonstiges
"On Being Prepared" ist das nächste Kapitel überschrieben und nennt gleich drei Dimensionen der Vorbereitung: "Prepare on Process, Substance, and Emotions." (S. 169) Das klingt langweilig, doch es ist bei aller vermeintlichen Banalität weitaus klüger als sich bei seiner bevorstehenden Verhandlung nur auf seine Genialität, Routine oder Improvisationsfähigkeit zu verlassen.
Das letzte Kapitel bringt noch eine wirkliche Überraschung: Es stammt aus der Feder von Jamil Mahuad, der von 1998 – 2000 Präsident von Ecuador war und gleich in seinen ersten Tagen im Amt vor der Herausforderung stand, einen Krieg mit seinem mächtigen Nachbarn Peru um einen jahrhundertealten Grenzkonflikt zu verhindern.
Mahuad hatte zuvor an Kursen des Harvard Negotiating Project teilgenommen und ließ sich in den Verhandlungen durch Prof. Fisher coachen, und es gelang ihm nicht nur, einen Friedensvertrag mit Perus damaligem Präsidenten Alberto Fujimori zu schließen, sondern auch, die Akzeptanz der Öffentlichkeit beider Länder für diesen Friedensschluss zu gewinnen – sozusagen der bestandene Lackmustest für dessen Lehren: "Getting to Yes" und "Beyond Reason" in Praxis.
Ein spannender Schluss eines Buchs, das ich mit einigen neuen Erkenntnissen und Anregungen, aber dennoch ohne große Begeisterung aus der Hand lege.
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