Lehrreich, aber auch ernüchternd. Die renommierten Neurobiologen rücken den universalen Erklärungsanspruch mancher Populär-Gehirnforscher zurecht und erklären, was die Gehirnforschung derzeit einigermaßen verlässlich sagen kann und was nicht.
Das Cover irritiert. Dort nimmt der Name des Erstautors Gerhard Roth, seines Zeichens Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie an der Universität Bremen und langjähriger Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes, den sechsfachen Raum seiner Mitarbeiterin und Koautorin Dr. Nicole Strüber ein, deren Name im Vergleich beinahe zum Schatten wird. In der Titelei erscheint sie dagegen als gleichberechtigte Koautorin. Ob dieses Ungleichgewicht nur dem Zweck dient, Roths bekannte(re)n Namen für die Vermarktung des Buchs auszuschlachten oder ob Strüber tatsächlich ein nur einen Bruchteil zu dessen Inhalten beigetragen hat, bleibt im Dunklen.
Der gegenwärtige Stand der Gehirnforschung
Unabhängig davon ist dies ein wirklich empfehlenswertes Buch für alle, die sich ein Bild vom gegenwärtigen Stand der Gehirnforschung und dem Zusammenhang zwischen neuronalen Vorgängen und unserem Seelenleben machen wollen. Im Gegensatz zu manchen populären Werken ist es von seriösen Forschern verfasst, die nicht nur die Literatur und den Stand der Forschung im Detail kennen, sondern selbst dazu beigetragen haben – und die sich darüber hinaus auch auf den angrenzenden Gebieten von Philosophie, Psychologie und Psychotherapie auskennen. (Roth ist auch promovierter Philosoph.)
Ihr Blick auf ihr Fachgebiet ist von unangebrachter Bescheidenheit ebenso frei wie von jener unangemessenen Euphorie, die manche Möchtegern-Gehirnforscher zu einem Universalerklärungsanspruch vergaloppieren lässt: Sie kennen und benennen auch die Grenzen der (derzeitigen) Erkenntnis. Noch dazu schreiben sie klar und gut verständlich, auch wenn die Materie ihrer Natur nach "challenging" ist und es streckenweise schwerfällt, die vielen Abkürzungen, die meist nur über eine Klammer eingeführt werden, präsent zu behalten.
Es ist wirklich eine Menge, was die Gehirnforschung inzwischen nicht nur über die Funktionsweise unseres Gehirns, sondern auch über unser Seelenleben weiß. Nach einem wissenschaftsphilosophischen ersten Kapitel über "Die Suche nach dem Sitz der Seele" wenden sich Roth und Strüber in zwei Kapiteln der "technischen Ebene" zu, nämlich "Gehirn und limbisches System" sowie "Die Sprache der Seele: Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone".
Diese anatomischen und physiologischen Zusammenhänge sind einerseits das Fundament von allem Weiteren, andererseits ungefähr so nützlich wie die Funktionsweise des BIOS in einem Computer im Detail zu verstehen. Das ist (vermutlich) sehr hilfreich, wenn man ein Mainboard entwickeln will, doch für die praktische Nutzung ist es ohne Wert und damit unnötiger Ballast, den das Gehirn, schlau wie es ist, umgehend abwirft: Man vergisst die Details schon während des Lesens.
Sechs psychoneuronale Grundsysteme
Trotzdem sollte man diese Kapitel nicht ganz überblättern, sondern zumindest die Zusammenfassung (Abschnitt 3.9) lesen, denn darin beschreiben Roth und Strüber "sechs psychoneuronale Grundsysteme", die sozusagen das Betriebssystem unseres Seelenlebens darstellen:
- "Das Stressverarbeitungssystem
- Das interne Beruhigungssystem
- Das interne Bewertungs- und Belohnungssystem
- Das Impulshemmungssystem
- Das Bindungssystem
- Das System des Realitätssinns und der Risikobewertung" (S. 145ff.)
Diese Systeme sind das Fundament, auf dem die ganze Psychologie samt ihrer Anwendungen aufbaut, deshalb wäre es sicherlich angezeigt, wenn diese Grundsysteme in der Psychologie stärker berücksichtigt und bei ihrer Theoriebildung stärker aufgegriffen würden. Denn in der Tat ist ein fundamentaler Mangel unserer derzeitigen Psychologie, dass sie weder den evolutionären Sinn und Zweck unserer psychischen Funktionen ausreichend beachtet noch das "Betriebssystem" auf das sie aufsetzt.
Es liegt nahe, einen Zusammenhang zwischen diesen sechs Systemen und unserer Persönlichkeit sowie unseren psychischen Auffälligkeiten bis hin zu seelischen Störungen zu vermuten. Ihm gehen Roth und Strüber im fünften Kapitel nach. Nachdem sie zu Recht die Willkürlichkeit und Beliebigkeit der gängigen Persönlichkeitstheorien und -tests kritisiert haben, verknüpfen sie diese Grundsysteme mit der Persönlichkeit ("Stressverarbeitung und Persönlichkeit", "Selbstberuhigung und Persönlichkeit", etc.)
So einleuchtend das ist, als Persönlichkeitstheorie überzeugt mich dieser Ansatz nicht: Er ist ausgeprägt defizitorientiert und lässt weitgehend außer Acht, was eine Persönlichkeit im Positiven ausmacht. So plausibel es ist, dass Schwächen in einzelnen dieser Systeme sich (manchmal? meistens? immer?) in charakteristischen Spuren in der Persönlichkeit widerspiegeln, so zweifelhaft erscheint mir, ob, wenn alle sechs Grundsysteme perfekt funktionieren, unweigerlich mehr oder weniger dieselbe "abgerundete" Persönlichkeit zum Vorschein kommt.
Neben einer gewissen Stabilität und Ausgeglichenheit gibt es ja auch Persönlichkeitsaspekte wie Wärme, Präsenz, Humor, zupackende Entschlossenheit, Nachdenklichkeit, Hartnäckigkeit, Weitsicht, Charme, Ideenreichtum, Eloquenz und unzählige andere. Manche dieser Merkmale mögen durchaus mit den sechs Grundsystemen korreliert sein, dennoch sind sie entscheidend mehr als bloß Ausprägungen dieser Systeme.
Offen bleibt ebenfalls, ob Einschränkungen in den Grundsystemen einen Rahmen stecken, aus dem wir nicht herauskönnen, oder ob sie Raum für kompensatorische Anstrengungen bis hin zur Überkompensation im Sinne Alfred Adlers lassen. Im Grunde bewegen wir uns hier ja in einer modernen Variante dessen, was Adler vor über 100 Jahren als "Organminderwertigkeit" beschrieben hat. Nur sah er sie eben nicht als endgültige Limitierung an, sondern als Herausforderung, an der wir wachsen können.
Bestätigungen und Korrekturen gängiger Sichtweisen
Die drei mittleren Kapitel des Buchs behandeln zentrale Aspekte, wie das Gesamtsystem Gehirn funktioniert – wenn es funktioniert: "Die Entwicklung des Gehirns und die kindliche Psyche", "Persönlichkeit und ihre neurobiologischen Grundlagen" sowie "Das Bewusste, das Vorbewusste und das Unbewusste".
Diese Kapitel sind wirklich lehrreich, vor allem weil sie im Detail erklären, was man inzwischen über die Gehirnentwicklung und seine Funktionen weiß und welche "vor-neurobiologischen" Erklärungsmodelle sich in ihrem Licht bestätigen oder falsifizieren lassen. Beispielsweise ist es wohl tatsächlich so, dass das menschliche Gehirn in seiner Entwicklung "kritische Perioden" (S. 155) durchläuft. Dinge, die ihm in dieser Phase "eingebrannt" werden, sind in späteren Lebensphasen kaum noch zu verändern. Dies bestätigt tiefenpsychologische Erklärungsmodelle, wonach frühkindliche Prägungen Weichenstellungen für das ganze Leben sind.
Umgekehrt relativiert die Neurobiologie den Anspruch insbesondere der Psychoanalyse, Heilung zu erreichen, indem sie Unbewusstes bewusst macht, gemäß Freuds Diktum: "Wo Es war, soll Ich werden." Geht leider nicht, sagen Roth und Strüber: Was beispielsweise unter die "infantile Amnesie" fällt, ist für immer verschwunden, und was wirklich "unbewusst" ist, liegt außerhalb der Zugriffsmöglichkeiten unseres Bewusstseins. Wer hier beharrlich bohrt, läuft eher Gefahr, Pseudoerinnerungen hervorzurufen.
Diese Unzugänglichkeit des Unbewussten betrifft in durchaus tragischer Weise auch frühkindliche wie auch vorgeburtliche Traumatisierungen: Da sie sich nicht bewusst machen lassen, können sie auch nicht therapeutisch bearbeitet werden. Ihre destruktive Wirkung auf das gesamte weitere Leben lässt sich daher nicht unterbrechen. Umgekehrt verschafft uns ein gelungener Lebensstart eine höhere Resilienz für alles, was danach kommen mag.
Das ungelöste Rätsel des Bewusstseins
Viel Stoff zum Nachdenken liefert insbesondere das sechste Kapitel "Das Bewusste, das Vorbewusste und das Unbewusste". Ich habe es mehrfach gelesen und dennoch wohl nicht ganz durchdrungen – was zum Teil wohl auch daran liegt, dass es per se kompliziert ist, wenn Gehirne über Gehirne nachdenken und sich das Bewusstsein ein Bild von Bewusstseinsvorgängen und ihrem Zusammenhang und ihren Abgrenzungen von Vorgängen zu machen sucht, die eben diesem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Aber es liegt nach meinem Eindruck zum Teil auch daran, dass Roth und Strüber hier in ihrer Argumentation etwas schlingern, zumindest jedoch nicht so klar und nachvollziehbar sind wie in den meisten anderen Abschnitten des Buchs.
Am spannendsten finde ich die Frage, was Bewusstsein eigentlich ist und wozu es gut ist. Da alle Wahrnehmungen erst einmal für 200 bis 300 Millisekunden unbewusst bleiben, bevor sie (bzw. manche davon) das Bewusstsein erreichen ("primäre Unbewusstheit"), sind manche Autoren auf die Idee gekommen, darin ein "'Epiphänomen' ohne jede Funktion" (S. 201) zu sehen. Aber das würde bedeuten, dass die Evolution ziemlich viel Zeit und Mühe darauf verwendet hätte, uns mit etwas völlig Nutzlosem auszustatten – nicht sehr wahrscheinlich.
Roth und Strüber erklären seine Funktion so: "Bewusstsein ist nötig, wenn es darum geht, (1) vom Gehirn als 'neu und wichtig' eingestufte Inhalte zu bearbeiten, (2) Geschehnisse in größeren Details zu verarbeiten, insbesondere was ihre komplexe Zeitstruktur betrifft, (3) verschiedenartige Gedächtnisinhalte zusammenzufügen und sie in dieser Form langfristig im deklarativen Gedächtnis zu verankern, (4) Geschehnisse und Mitteilungen in bedeutungshafter Weise zu verarbeiten, (5) komplexe Handlungsplanung in neuartigen Situationen zu leisten und schnelle Voraussagen zu machen und (6) komplexe soziale Interaktionen, insbesondere im Bereich sprachlicher Kommunikation durchzuführen." (S. 211)
Das klingt auf den ersten Blick plausibel – auf den zweiten und dritten bin ich nicht so sicher. Mir kommt das so vor, als würde man das Bewusstsein das kleine Männchen betrachten, das im Inneren unseres Kopfes am Monitor sitzt und unsere Wahrnehmungen verarbeitet. Ihre "Erklärung" lässt die zentrale Frage offen: Warum ist angesichts all der wundersamen Dinge, zu denen unser Gehirn auch ohne Bewusstsein in der Lage ist, überhaupt eine bewusste Verarbeitung erforderlich – warum reicht dafür nicht eine unbewusste? Welche Fähigkeiten genau addiert hier das Bewusstsein, die das Unbewusste nicht besitzt?
Wo genau liegt der Mehrwert des Bewusstseins?
Und außerdem: Heißt das, dass alle Lebewesen Bewusstsein besitzen, die einige der aufgezählten Dinge tun, also zum Beispiel "vom Gehirn als 'neu und wichtig' eingestufte Inhalte bearbeiten", "Geschehnisse in größeren Details verarbeiten", "verschiedenartige Gedächtnisinhalte zusammenfügen" et cetera? Besitzen demnach auch Hunde, Ratten und Rabenkrähen ein Bewusstsein?
Bewusstseinszustände wie "Wachheit (Vigilanz)", Aufmerksamkeit und "Emotionen, Affekte, Bedürfniszustände" (S. 209) wird man vielen höheren Arten jedenfalls kaum absprechen können. Und ihre "mentalen Reisen in die Zukunft" (S. 214) mögen kürzer sein als bei uns Menschen, aber wenn Rabenkrähen auf einen unbeobachteten Moment warten, um ihre Vorräte zu verstecken, wenn ihre Artgenossen Unaufmerksamkeit vortäuschen, um sich das Versteck zu merken und es später zu plündern, ist das ohne mentale Antizipation möglicher Zukünfte kaum vorstellbar. Ist dafür Bewusstsein erforderlich?
"Zusammengefasst stellt sich Bewusstsein aus psychologischer Sicht als ein Format zur Verarbeitung neuer, wichtiger und bedeutungshafter Informationen dar, gleichgültig ob es sich um perzeptive, kognitive oder emotionale Geschehnisse handelt. Das kann von unbewusst oder intuitiv arbeitenden Hirnmechanismen nicht geleistet werden", stellen Roth und Strüber fest (S. 215)
Doch leider belegen und erklären sie nicht, weshalb für derartige Leistungen zwingend ein Bewusstsein benötigt wird und was dessen entscheidender Vorteil gegenüber unbewusster Verarbeitung ist. Im Gegenteil: Wenn sie einige Seiten später über Intuition schreiben, zeigen sie, dass eine solche un- oder vorbewusste Verarbeitung sehr wohl möglich ist.
"Intuitives Problemlösen unterscheidet sich qualitativ vom gedanklich konzentrierten Problemlösen dadurch, dass es nicht linear-sequenziell, nicht Überlegung für Überlegung fortschreitet, sondern in 'parallel-verteilter' Weise, wobei die Lösungssuche anstrengungslos und ohne Detailerleben verläuft." (S. 229) Das beschreibt Intuition weitaus treffender als bewusstes Denken, das in Wirklichkeit oftmals ebenfalls sprunghaft, kreuz und quer und wild assoziativ verläuft. Dass dies im Falle der Intuition "ohne Detailerleben" geschieht, ist keine wirklich Erkenntnis: Das ist die Definition unbewusster Prozesse.
Bloßes Echo oder zentrale Verarbeitungs- und Entscheidungsinstanz?
Spannend – und irritierend – ist, "dass Bewusstseinsvorgängen unbewusste Prozesse vorhergehen" (S. 231). Voreilig ist indes die Schlussfolgerung, die manche (nicht Roth und Strüber) daraus ableiten, dass unser Bewusstsein nämlich sozusagen nur der "Pressesprecher" unserer aus dem Unbewussten kommenden Handlungen und Entscheidungen sei, der nur darum ringe, ein halbwegs schlüssiges "Narrativ" für die (externe oder interne) Öffentlichkeit zu konfabulieren – ganz abgesehen davon, dass völlig unklar ist, was der evolutionsbiologische Mehrwert eines solchen "Pressesprechers" sein sollte.
Eine alternative Erklärung ist die Unterscheidung zweier kognitiver Systeme. Wie Daniel Kahneman in "Thinking, Fast and Slow" (siehe Rezension) unter Bezugnahme auf die Psychologen Keith Stanovich und Richart West schreibt, ruft das unbewusste "System 1" (unser Autopilot) das "System 2" (unser bewusstes Denken) immer dann auf, wenn es sich mit einem Problem konfrontiert sieht, das zu lösen es selbst überfordert ist.
Die "Verursachung des Geistes durch Hirnprozesse" (S. 232) bedeutet nicht zwingend, dass das Bewusstsein nur ein verspätetes Echo längst getroffener Entscheidungen ist. Wenn wir einen Arzt konsultieren, folgt dessen Rat ja unzweifelhaft auch nach unserer Beschreibung des Leidens – und ist dennoch alles andere als ein bloßes Echo unserer Beschwerden. Desgleichen, wenn Fachabteilungen in einem Unternehmen eine Entscheidungsvorlage für den Vorstand machen: Dann folgt dessen Tätigkeit zeitlich ebenfalls auf die Aktivität der Fachabteilungen, wird aber gemeinhin dennoch nicht als bloßes "Epiphänomen" angesehen.
Die entscheidende Frage ist in diesen und ähnlichen Fällen doch wohl, ob die Aktivität des Bewusstseins ein bloßer Nachhall der aus dem Unbewussten kommenden Informationen in unserem Erleben ist oder ob das Bewusstsein auf der Basis der zugespielten Informationen einen echten Mehrwert erzeugt, der aus einer besseren Verarbeitung, ihrer Verbindung mit zusätzlichen Informationen (z.B. aus dem Gedächtnis) und/oder in einer höheren "Veredelungsstufe" besteht. Roth und Strüber gehen offenkundig davon aus, dass das Letztere der Fall ist, doch sie begründen es nicht ausreichend.
Unbefriedigende Erklärung
Die zentrale Frage, was Bewusstsein eigentlich genau ist und worin sein Nutzen liegt, ist daher für mich letztlich nicht befriedigend beantwortet. Wie erwähnt, kann man mit hoher Plausibilität, Kausalität unterstellend, von einer "Verursachung des Geistes durch Gehirnprozesse" (S. 232) ausgehen, vielleicht sogar von einer Aktivierung. Und man kann seine Korrelation mit Gamma-Wellen feststellen. Doch wie Roth und Strüber zutreffend feststellen, ist das Phänomen damit nicht erklärt: "Bewusstsein kommt in der Beobachtung der Gamma-Oszillation nicht vor, sondern nur im subjektiven Empfinden eines Menschen." (S. 233)
Doch "Geist und Bewusstsein als emergente physikalische Eigenschaften" zu charakterisieren (S. 234), erklärt nichts, es gibt letztlich nur unserer Hilflosigkeit vor dem Unerklärlichen einen Namen. Da hilft es auch nichts, darauf zu verweisen, dass es solche letztlich (bislang) unerklärlichen Emergenzen auch anderswo gebe, etwa bei der Entstehung des Lebens oder – etwas weit hergeholt – bei physikalischen Phänomenen wie dem Licht. Aber der Hinweis auf andere (bislang) unerklärte Emergenzen trägt nichts zur Erklärung dieser einen statt, die Gegenstand dieses Buchs ist.
Vollends rätselhaft ist mir, wieso Roth und Strüber von "physikalischen" Eigenschaften und "immaterielle(n) physikalische(n) Zustände(n)" (S. 236) sprechen. Zwar gibt es in der Tat "eindeutige Wechselwirkungen mit physikalischen Zuständen, wie sie im Gehirn vorkommen" (a.a.O.), doch "immaterielle physikalische Zustände", die sich jeglicher physikalischer Erfassung und Beschreibung entziehen, sind eine merkwürdige Sache. Insofern kann ich die Befriedigung der Autoren, die sie zum Abschluss von ihnen gegebenen Erklärungen feststellen (S. 241), nicht so recht nachvollziehen.
Neurobiologie psychischer Störungen und der Psychotherapie
Die dritte und letzte Kapitel-Trias behandelt "Psychische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen", "Psychotherapien" und "Die Wirkungsweise von Psychotherapie aus Sicht der Neurowissenschaften".
Das erste dieser drei Kapitel ist im Grunde eine Psychopathologie aus neurobiologischer Sicht: Es beschreibt, welche Beeinträchtigungen bei den sechs wichtigsten Störungen jeweils vorliegen und was man über ihre Neurobiologie weiß. Dargestellt werden (1) Depressionen, (2) Angststörungen, (3) Posttraumatische Belastungsstörungen, (4) Zwangsstörungen, (5) Borderline-Persönlichkeitsstörungen und (6) Antisoziale Persönlichkeitsstörungen und Psychopathien.
Die Darstellung der Psychotherapien im achten Kapitel beschränkt sich auf Psychoanalyse und Verhaltenstherapie; dabei werden aber nicht nur die jeweiligen "Urformen" beschrieben, sondern auch neuere Entwicklungen. In der Verhaltenstherapie ist das insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie in den Varianten von Albert Ellis und (hauptsächlich) Aaron Beck.
Diese Therapiemodelle konfrontieren die Autoren sodann mit den "Ergebnissen der Psychotherapiewirksamkeitsforschung", und zwar sowohl, was die Ergebnisse ("Outcome") als auch, was den Prozess betrifft. Dabei tritt eine massive "Störvariable" zutage: Die wenigsten Therapeuten folgen in ihrer praktischen Arbeit der reinen Lehre des Behandlungsansatzes, zu dem sie sich bekennen. Unabhängig von ihrer Schulzuordnung tun sie, was sie in der konkreten Situation für richtig halten. Was einerseits beruhigend ist, andererseits einen Vergleich der Schulen enorm erschwert.
Schlüsselrolle der therapeutischen Beziehung
Angesichts der mangelnden "Schultreue" der Praktiker hat sich die Therapieforschung auf andere Erklärungsmodelle verlagert. Ein besonders ergiebiges ist die Suche nach schulübergreifenden Faktoren, berichten die Autoren: "In der Tat zeigen diese Metastudien, dass der wichtigste Faktor für den Behandlungserfolg ein positives Verhältnis zwischen Klient/Patient und Behandelndem ist: die 'therapeutische Allianz'. Sie beruht auf einer vertrauensvollen Zusammenarbeit, auf der Fähigkeit des Behandelnden, die Befindlichkeiten des Patienten zu erfassen, zu verstehen und darüber zu kommunizieren, sowie auf dem Vertrauen des Patienten in den Behandelnden und seine Vorgehensweise." (S. 331)
Bereits 1961 hatte der amerikanische Psychologe und Mediziner Jerome D. Frank (1909 – 2005) vier allgemeine "Heilelemente" herausgearbeitet, nämlich (1) einer Vertrauensbeziehung zwischen Patient und Helfer, (2) eine vertrauenserweckende Rahmensituation der Behandlung, (3) eine explizite Behandlungstheorie bzw. ein "Behandlungsmythos", sowie (4) "die Anordnung bestimmter Maßnahmen, an die sich der Leidende genau zu halten hat." (S. 328)
Was, so einleuchtend es klingt, die durchaus wesentliche Frage nach dem Wirksamkeitsvergleich unterschiedlicher Therapieansätze nicht beantwortet, sondern umschifft. Denn so wichtig die therapeutische Beziehung sein mag, es scheint mir unplausibel, dass der Denkansatz, das Menschenbild und die therapeutische Logik der jeweiligen Schule völlig unerheblich für den Behandlungserfolg sein sollten. Denn wenn man dem Grundsatz "The proof is in the pudding" folgt, dann wäre ja die entscheidende Bewährungsprobe für jede therapeutische Schule ihre Heilerfolge.
Festzuhalten ist indes, dass all die in diesem Kapitel wiedergegebenen Erkenntnisse nicht aus der Neurobiologie stammen: Es ist eine gute Zusammenfassung der klassischen Psychotherapieforschung, wie sie spätestens seit den sechziger Jahren stattfindet.
Eine nützliche Ernüchterung
Die Neurobiologie und ihre Erkenntnisse kommen erst im neunten Kapitel ins Spiel, und da verblüfft beim Lesen zunehmend, wie zurückhaltend und bescheiden Roth und Strüber in ihren Aussagen sind. Nur zu einigen Erklärungsmodellen, die nach ihrer Darstellung neurobiologisch eindeutig falsch sind, nehmen sie klar und dezidiert Stellung; ansonsten wimmelt es in diesem Kapitel von Konjunktiven, Vermutungen und hypothetischen Aussagen.
Das liegt sicher nicht daran, dass Roth und Strüber ihr Fachgebiet unter Wert verkaufen – es dürfte vielmehr daran liegen, dass die Grenzen neurobiologischer Erkenntnisse über psychische Vorgänge sehr viel enger gesteckt sind als manche Scharlatane glauben machen und viele Fans glauben wollen.
Deshalb dürfte dieses Kapitel – und damit letztlich das gesamte Buch – für all diejenigen eine Ernüchterung sein, die sich von der Neurobiologie umfassende Erklärungen dafür erhoffen, wie das menschliche Seelenleben und die zuweilen komplizierte Interaktion zwischen uns Menschen wirklich funktioniert.
Dabei sollte das eigentlich nicht überraschen, denn, wie die Autoren im Abschnitt 9.1 "'Neuropsychotherapeutische' Korrelate und Messmethoden" darlegen, können uns die Neurobiologen ja nicht ins Gehirn schauen und erkennen, was dort vorgeht, sie können lediglich jene Ströme und Magnetfelder interpretieren, die sozusagen als Nebengeräusche unserer Gedanken und Gefühle entstehen. Das ist so ähnlich wie wenn man aus dem Rattern und Quietschen einer Maschine erraten möchte, was in ihr vorgeht.
Entsprechend stellen Roth und Strüber fest: "Schwierig ist auch die Deutung der gemessenen Signale. Wie geschildert, misst die fMRI relative Aktivitätsveränderungen im neuronalen Gewebe unter Stimulationsbedingungen, wobei erst einmal nicht klar ist, was diese Veränderungen überhaupt bedeuten." (S. 339, Hervorhebung von mir) Das erinnert an Platons Höhlengleichnis, wonach wir nur die Schatten der Ereignisse beobachten und interpretieren, die Ereignisse selbst aber nicht erkennen können.
Etwas ernüchternd endeten auch die Versuche, nach erfolgreicher Psychotherapie neurologische Veränderungen festzustellen: Die Ergebnisse sind quer über die unterschiedlichsten Störungen weitaus unspezifischer als auf der Grundlage der neurobiologischen Theoriebildung erwartet: "Der beobachtete Haupteffekt war demnach eine Normalisierung von ganz unterschiedlichen Ausgangszuständen aus." (S. 345) Etwas ratlos resümieren die Forscher: "Irgendetwas, das vorher im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten war, wurde durch die Psychotherapie augenscheinlich wieder ins Lot gebracht. Wieso dies geschah, konnte in diesen Untersuchungen nicht geklärt werden." (S. 345)
Ich finde es hoch respektabel, dass Roth und Strüber diese – derzeitigen – Grenzen der Erkenntnis so ehrlich bilanzieren. Trotzdem: Von einer wirklich aussagekräftigen Neurobiologie der Psychotherapie oder gar einer "Neuropsychotherapie" scheinen wir noch unendlich weit entfernt. Bislang scheint die Forschung hauptsächlich darum bemüht, die Schatten an den Höhenwänden zu deuten.
Korrektur falscher Lehrmeinungen
Klar und unmissverständlich sind ihre Aussagen nur, wenn es um falsche Denkmodelle geht. So weisen Roth und Strüber die in Lerntheorie und Verhaltenstherapie gängige Lehre von der "Löschung" unerwünschter Gedächtnisinhalte als neurologisch unhaltbar zurück und stellen mit Klaus Grawe fest, "dass eine Psychotherapie niemals eine frühere Traumatisierung auslöscht, sondern vielmehr die vorher zu schwache hemmende Wirkung corticaler Areale verstärkt. Das Motto lautet: 'Hemmen statt Ausradieren!" (S. 343f.) Was sie ein paar Seiten später noch einmal plakativ bekräftigen: "Die Amygdala vergisst nicht!" (S. 366)
Mit einem Schuss ketzerischem Pragmatismus könnte man fragen, wie wichtig diese Korrektur ist: Verlangt sie eine Veränderung des therapeutischen Vorgehens oder verfeinert sie lediglich die explizite Behandlungstheorie bzw. den "Behandlungsmythos", ohne dass sich daraus praktische Konsequenzen für die Behandlung ergeben? Ich vermute das Letztere – allenfalls dämpft sie den überschießenden therapeutischen Optimismus der "alten" Verhaltenstherapie (der inzwischen ohnehin größerem Realismus gewichen ist) und macht auf eine erhöhte Rückfallgefahr aufmerksam: Das nicht gelöschte, sondern nur "überlernte" Verhalten kann unter Stress zurückkehren.
Einem Missverständnis scheint mir hingegen der zentrale Vorwurf zu entspringen, den Roth und Strüber der Kognitiven (Verhaltens-)Therapie machen. Sie hat, wie sie schreiben, "als zentrales Dogma die Aussage, dass das Denken mehr das Fühlen bestimmt als umgekehrt und dass deshalb eine erfolgreiche Therapie vornehmlich darin besteht, den Patienten zu der Einsicht zu bringen, dass er sich selbst, sein Handeln und die Welt im Sinne kognitiver Verzerrungen falsch 'sieht'. Entsprechend muss sich daran eine 'kognitive Umstrukturierung' anschließen, die dann zum Therapieerfolg führt." (S. 366f.)
Dem halten sie entgegen: "Aus Sicht der Neurobiologie ist dies jedoch unzutreffend, denn emotionale, oft unbewusste Zustände bedingen weitestgehend die kognitiven Zustände im Gehirn und nicht umgekehrt: Dies ist schon bei jedem Wahrnehmungsakt so, denn Emotionen beeinflussen erheblich, was wir in unserer Umwelt erfassen." (S. 367)
Henne und Rührei
Nun muss ich zugeben, die Literatur zur Kognitiven Therapie nur sehr unvollständig zu kennen, doch wüsste ich von keinem kognitiven Therapeuten, der die Wechselwirkungen von Gefühlen und Denken bestritte. Die biologische Funktion von Emotionen ist ja gerade, unser Denken und Handeln voll auf den Auslöser unserer jeweiligen Gefühle zu fokussieren. Womit sie uns zuweilen halt auch in eine hochgradig unzweckmäßige Handlungsdisposition bringen.
Albert Ellis zum Beispiel hat – meines Erachtens völlig zu Recht – darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns durch bestimmte Denkmuster wie Dramatisieren, Katastrophisieren etc. immer mehr in bestimmte Gefühle hineinsteigern. Er hat sich meines Wissens nicht dazu geäußert, ob diese Gefühle auf unser Denken zurückwirken, aber er hätte wohl kaum in Zweifel gezogen, dass uns solche Gefühlsaufwallungen ihrerseits enorm dabei unterstützen, in unserem "Kopfkino" noch mehr zu dramatisieren und zu katastrophisieren. Denn das war für seinen therapeutischen Ansatz nicht relevant, weil der schlicht lautete: Unsere Gedanken beeinflussen unsere Gefühle – wenn wir also unser Denken verändern, verändern wir damit indirekt auch unsere Gefühle.
Auch wenn die wechselseitige Beeinflussung unstrittig ist, muss doch das Henne-Ei-Problem beantwortet werden: Was ist zuerst, das Gefühl oder der Gedanke? Nach meiner nicht auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützten Empirie scheint es beides zu geben: Sowohl den Fall, dass wir – aus welchen biochemischen Gründen auch immer – in einer bestimmten emotionalen Verfassung sind und uns dann – selektive Wahrnehmung – in unserer Umgebung die Gründe und Begründungen dafür suchen: Wer innerlich auf Krawall gebürstet ist, findet einen Anlass zum Streiten. Wer voller Lebensfreude ist, sucht und findet Dinge, über die er sich freuen kann.
Durch Bewertungen aktivierte Gefühle
Es gibt aber auch den Fall, dass unsere Gefühle, wie etwa Angst oder Wut, durch äußere Ereignisse ausgelöst werden. Und in diesen Fällen kommt einen Sekundenbruchteil vor dem Gefühl eine Bewertung des äußeren Ereignisses, also ein Gedanke. Kein langer Denkprozess, nur ein blitzschnelles Abprüfen: In Ordnung vs. nicht in Ordnung. Bedrohlich vs. nicht bedrohlich. Erst diese Bewertung, also ein Gedanke, aktiviert das passende Gefühl. Nur so ist es zu erklären, dass unterschiedliche (psychisch gesunde) Menschen auf das gleiche Auslöseereignis mit unterschiedlichen Gefühlen reagieren.
Warum zum Beispiel reagiert der eine wütend auf das Verhalten eines anderen Menschen und der andere nicht? Warum reagiert der eine sauer, der andere hektisch und der dritte gelassen, wenn ihnen der Chef eine zusätzliche Aufgabe aufs Auge drückt? Die objektive Situation ist die gleiche, die Reaktionen sind völlig unterschiedlich. Da fehlt doch etwas zwischen Reiz und Reaktion, das die Unterschiedlichkeit der Reaktionen erklärt. Insofern finde ich es keineswegs "unverständlich, warum sie [die KVT-Vertreter] (…) am Primat der Kognition festhalten" (S. 367) – mich überrascht eher Roths und Strübers ärgerliche Reaktion darauf.
Dass bildgebende Studien, wie sie schreiben, "keinerlei Belege" für eine Dominanz von Kognition, Verstand und Intelligenz gegenüber den limbischen Arealen liefern, ist kein Beweis für ihre These, sondern eher ein Versuch, die Beweislast umzukehren. Es wäre ja auch denkbar, dass diese blitzschnellen Bewertungen nur so flüchtige und verdeckte Schatten an die neurobiologische Höhlenwand werfen, dass sie mit den bisherigen groben Messverfahren nicht sichtbar werden.
Aber das scheint gar nicht der Fall zu sein: In Abschnitt 6.3 beschreiben Roth und Strüber detailliert, wie unsere Wahrnehmung abläuft. Danach werden Wahrnehmungen, bevor sie überhaupt unser Bewusstsein erreichen, "nach den Kriterien 'unbekannt-bekannt' und dann nach 'unwichtig-wichtig' (selektiert]. (…) Ist ein Reiz neu, so entsteht (…) eine stärkere negative Welle, N100 genannt." (S. 212) Und weiter: "Falls ein Reiz als 'neu und potenziell wichtig' eingestuft wird, gelangt er ins Bewusstsein." (a.a.O.) Das dürfte genau der gemeinte Bewertungsprozess sein, und dass er schon im Vorbewussten beginnt, scheint mir nicht spielentscheidend zu sein; wesentlich ist vielmehr, dass die Bewertung vor der Emotion kommt. Möglicherweise ist die vermeintliche Uneinsichtigkeit der Kognitiven Therapeuten also nur ein Missverständnis …
Resümee: Lohnendes Buch, falsche Beschreibungsebene
Insgesamt trotz kleinerer Einwände ein lohnendes Buch, wenn man sich über die Erkenntnisse und die Grenzen der modernen Gehirnforschung aus kundiger und seriöser Quelle informieren will – oder auch, wenn man einfach nur wissen möchte, was an dem momentanen Hype um die Gehirnforschung sowohl im Bereich der Erziehung als auch in der Personalentwicklung wirklich dran ist. Das Resümee fällt unter dem Strich ernüchternd aus: Die Neurobiologie korrigiert zwar an einigen Stellen falsche Auffassungen von Philosophie, Psychologie und Psychotherapie, vermag aber längst nicht in dem von manchen beanspruchtem Ausmaß eine positive Neuorientierung für alles Mögliche zu liefern.
Aber das ist kein Mangel des Buchs, es ist einfach Stand der Forschung – und vermutlich auch Ausdruck dessen, dass die Neurobiologie für psychische Vorgänge nicht die optimale Beschreibungs- und Erklärungsebene ist. Zwar ist sie gewissermaßen das "Fundament" der Psychologie, so wie die Physik das Fundament der Chemie und die Chemie das der Biologie ist. Aber aus gutem Grund versucht kaum jemand, chemische Vorgänge in physikalischen Gleichungen oder biologische Vorgänge in chemischen Formeln zu beschreiben.
Die jeweiligen Grundlagenwissenschaften liefern zuweilen Hinweise darauf, was im Theoriegebäude der darauf aufbauenden Wissenschaften nicht stimmen kann, aber sie sind nicht die adäquate Beschreibungs- und Erklärungsebene für das jeweilige Gebiet: Es bringt nicht viel, die Entwicklung von Pflanzen und Tieren oder deren Verhalten in der Sprache der Chemie zu beschreiben. In ähnlicher Weise lassen sich meines Erachtens auch Bewusstsein und seelische Vorgänge nur sehr unvollkommen mit den Mitteln der Neurobiologie erfassen: Sie deuten in der Tat wohl nur die Schatten an der Höhlenwand.
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