Glänzend geschrieben, aber in seinen Aussagen längst nicht so klar wie der Vorläufer "The Tipping Point". Eher ein Potpourri von Geschichten und Befunden als eine Quelle grundle-gender Einsichten.
Man kann über Malcolm Gladwell sagen, was man will, er schreibt einfach überragend. Bevor man bei anderen Büchern entschieden hat, ob man sie lesen soll, hat man seine schon zu einem Drittel durch. Er referiert nicht abstrakte Erkenntnisse, er baut Rätsel auf (im Sinne des gerade rezensierten Buchs "Pre-Suasion" von Robert Cialdini), erzählt Geschichten und abstrahiert erst am Schluss einige allgemeine Erkenntnisse.
Trotzdem fand ich es bei "Blink" schwieriger als bei "The Tipping Point", nach der Lektüre anzugeben, was eigentlich die zentralen Aussagen und Erkenntnisse dieses Buchs sind.
Ziele und Inhalte des Buchs
"Blink" handelt von Intuitionen, also von Urteilen und Entscheidungen, die sich "in the blink of an eye" ereignen, in der Dauer eines Blinzelns. Und die trotz dieser Schnelligkeit und "Unbedachtheit" oft treffsicherer sind als Urteile und Entscheidungen, die sehr viel mehr Zeit in Anspruch genommen haben, weil sie unter bestmöglicher Nutzung aller verfügbaren Daten und Fakten erarbeitet wurden. Dies zu belegen, ist Gladwells erstes Ziel.
Aber manchmal liegen Intuitionen auch völlig daneben. "Our unconsciousness is a powerful force. But it’s fallible." (S. 15) Herauszuarbeiten, wann wir unseren Instinkten trauen dürfen und wann besser nicht, ist das zweite Ziel von "Blink". "The third and most important task of this book is to convince you that our snap judgements and first impressions can be educated and controlled." (S. 15)
Was das erste und das dritte Ziel betrifft, rennt Gladwell bei mir offene Türen ein: Das ist die Position, die ich seit Jahren vertrete und lehre. Das zweite verfehlt er nach meinem Eindruck. Stattdessen mäandriert er zwischen Beispielen für treffsichere Intuitionen und völligen Missweisungen hin und her, mit situativen Erklärungen, aus denen es zumindest mir nicht gelingt, ein übergeordnetes Muster zu erkennen.
Durch "Thin-Slicing" Muster erkennen
Dazwischen schiebt Gladwell (s)eine "Theory of Thin-Slicing", also vom In-dünne-Scheiben-Schneiden, die mir nicht so hundertprozentig dazu zu passen scheint, auch wenn sie interessante Erkenntnisse liefert. So lassen sich durch sorgfältige wissenschaftliche Analysen in alltäglichen Interaktionen aufschlussreiche Muster erkennen, und daraus, wenn man die Muster erkannt hat, treffsichere Prognosen ableiten.
So kann man die Lebenserwartung von Paarbeziehungen sehr sicher vorhersagen, wenn man darauf achtet, ob bei Gesprächen des Paares über kontroverse Themen die "four horsemen" vorkommen, die apokalyptischen Reiter "defensiveness, stonewalling, criticism, and contempt" (S. 32). Am verheerenden von allen ist Verachtung. Wenn sie in der Interaktion der Partner eine Rolle spielt, kann man risikolos darauf wetten, dass die Beziehung nicht mehr lange halten wird.
Einleuchtend. Eindrucksvoll. Aber was hat das mit Intuition zu tun? Wenn ich, gestützt auf Ergebnisse der empirischen Forschung, weiß, worauf ich achten muss, und dann gezielt darauf achte, kann ich ziemlich gute Vorhersagen machen. Nach einer Weile auch intuitiv, ohne lange darüber nachzudenken.
Aber diese Fähigkeit, sich gezielt auf die entscheidenden Beobachtungspunkte zu konzentrieren, ist das Ergebnis eines geradezu prototypischen analytischen Vorgehens. Dass man von ihr, wenn man eine Weile geübt hat, auch ohne langes Nachdenken, also intuitiv Gebrauch macht, ist lediglich die Routinisierung eines häufig wiederholten Ablaufs, ähnlich wie das Schalten im Auto, das nach einigem Training von dem bewussten "System 1" an das vorbewusste "System 2" übergeben wurde, also an unseren Autopiloten.
Ähnliches gilt für ein beeindruckendes Beispiel zum Thema Arzthaftung, also der Frage, wann Ärzte von ihren Patienten wegen Behandlungsfehlern verklagt werden. Wie die Auswertung einer großen Zahl von Fällen gezeigt hat, ist der wichtigste Treiber für eine Klage nicht etwa, wie man vermuten würde, die Fachkompetenz des Arztes, sondern die Qualität seiner Kommunikation mit dem Patienten und der insbesondere seine Fähigkeit, dem Patienten zuzuhören und auf seine Beschwerden einzugehen, statt sie wegzuwischen und ihm die Welt zu erklären.
Das ist ohne Zweifel überraschend – aber wenn man das weiß, dann hat es eigentlich nicht mehr viel mit Intuition zu tun, zur Bestimmung des Klagerisikos mehr auf die Kommunikation des Arztes zu achten als auf seine Kompetenz.
Lenkung der Aufmerksamkeit ("Priming")
Intuitive Urteile sind schnell, und sie sind unbewusst. Wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, macht sie das anfällig für "Priming" – also für das, was Robert Cialdini als "Pre-Suasion" bezeichnet. Wenn Versuchspersonen zum Beispiel in Richtung auf Ungeduld und Durchsetzung "geprimt" wurden, und zwar einfach durch Stichworte, die in eine Aufgabe eingestreut waren, dann waren sie sehr viel schneller bereit, wegen eines eigenen Anliegens ein Gespräch zu unterbrechen, als wenn sie in Richtung Höflichkeit und Geduld eingestimmt worden waren.
Noch eindrucksvoller sind Experimente, an denen schwarze College-Studenten teilnahmen. Wurden sie durch eine vorausgehende Frage an ihre Hautfarbe erinnert, lösten sie bei einem nachfolgenden Leistungstest nur noch halb so viele (!) Aufgaben richtig wie ohne ein solches Priming. Offenbar genügte die bloße Vergegenwärtigung der Hautfarbe, um bei ihnen negative Vorurteile zu aktivieren, die sich leistungshemmend auswirken – und zwar selbst bei Studenten, die von sich sagten, dass sie einen positives und selbstbewusstes Verhältnis zu ihrer ethnischen Identität hätten.
Versuchspersonen, die mit Begriffen aus dem Assoziationsfeld "alt" eingestimmt wurden, bewegten sich beim Verlassen des Labors und auf ihrem anschließenden Weg durch das Gebäude messbar langsamer als die Kontrollgruppe. Doch war ihnen weder diese Tatsache bewusst noch ihr Auslöser. Auch den schwarzen Studenten war der Grund ihrer schlechten Leistung nicht bewusst – stattdessen glaubten sie, sie wären für diese Aufgaben einfach nicht intelligent genug!
Das wirft natürlich auch im Positiven die Frage auf, wie viel von unseren besonderen Stärken auch nur das Echo unseres jeweiligen Primings sind – und wie viel Aussagekraft derartige Messungen dann überhaupt haben: "If a white student from a prestigious private high school gets a higher SAT score than a black student from an inner-city school, is it because she's truly a better student, or is it because to be white and to attend a prestigious high school is to be constantly primed with the idea of 'smart'?" (S. 57)
Die Schattenseiten der Intuition
Ein Problem an unseren intuitiven Urteilen ist, dass sie, wie Gladwell es nennt, "behind a locked door" stattfinden und damit unserem bewussten Denken und Wollen entzogen sind. Jeder Versuch, ihnen mit bewussten Überlegungen auf die Sprünge zu helfen, bringt sie nur durcheinander.
Das hat auch seine Schattenseiten, stellt Gladwell fest: "Part of what it means to take thin-slicing and first impressions seriously is accepting the fact that sometimes we can know more about someone or something in the blink of an eye than we can after months of study. But we also have to acknowledge and understand those circumstances when rapid cogition leads us astray." (S. 76)
Beispielsweise neigen wir dazu, dass wir großgewachsenen, gut aussehenden Männern mehr Führungsqualitäten zuschreiben, dass wir intuitiv Männer mehr mit Erfolg und Karriere und Frauen mehr mit Haushalt und Familie assoziieren und dass wir positive Charaktereigenschaften eher Weißen als Schwarzen zuschreiben. Das gilt unabhängig von eigener Einstellung, Geschlecht und Hautfarbe!
Was hinter der "verschlossenen Tür" stattfindet, lässt sich mit dem "Implicit Associations Test" (IAT) herausfinden, der mit Hinterlist so konstruiert ist, dass er vorbewusste Assoziationen messbar macht. Bei diesem Test muss man zunächst verschiedene Begriffe wie "Capitalist" oder "Housework" möglichst schnell entweder der Kategorie "männlich / Karriere" oder "weiblich / Familie" zuordnen. Das ist einfach und geht schnell. Dann wird es ernst, und muss man weitere Begriffe wie "Babies" oder "Entrepreneur" entweder der Kategorie (Achtung!) "weiblich / Karriere" oder der "männlich / Familie" zuordnen. Das ist spürbar anstrengender und geht messbar langsamer – und zwar auch dann, wenn man der beruflichen Karriere von Frauen positiv gegenübersteht.
Analog funktioniert der Race Implicit Associations Test. Er macht die unbewussten Verknüpfungen von Hautfarbe und Charaktereigenschaften sichtbar. Das führt zu Befunden, die für Menschen, die von der Gleichwertigkeit aller Menschen überzeugt sind, ausgesprochen peinlich sein können: "It turns out that more than 80 percent of all those who have ever taken the test end up having pro-white associations, meaning that it takes them measurably longer to complete answers when they are required to put good words into the 'Black' category" (S. 84).
Inwieweit sind wir Herr im eigenen Haus?
Dass unsere intuitiven Urteilstendenzen nicht immer synchron mit unseren Überzeugungen sind, muss man nicht unbedingt als eine Entlarvung unserer wahren inneren Haltung interpretieren, die "in Wirklichkeit" eben doch weit frauenfeindlicher und rassistischer ist als wir uns das eingestehen wollen – man kann es auch als Spiegelbild unserer erlebten Realität verstehen.
Trotzdem machen mich diese Befunde sehr nachdenklich. Denn sie werfen natürlich die Frage auf, wie belastbar die eigene Überzeugung ist, niemanden wegen seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, Herkunft oder – seiner Körpergröße vorzuziehen oder zu benachteiligen. Es mag ja sein, dass dies tatsächlich die eigene ehrliche Überzeugung ist – aber da unsere impliziten Assoziationen "hinter verschlossenener Tür" wirken, könnte es sein, dass wir ihr Wirken bloß nicht bemerken.
Nehmen wir ein unverdächtiges Merkmal wie die Körpergröße: "When corrected for such variables as age and gender and weight, an inch in height is worth $789 a year in salary", stellt Gladwell fest (S. 88) – auf 30 Berufsjahre gerechnet, ein erklecklicher Betrag. Wie ist das möglich, wo doch wohl niemand einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin aufgrund seiner/ihrer Körpergröße diskriminieren würde? Letztlich führt das zu der Frage, inwieweit wir eigentlich Herr im eigenen Haus sind: "Our selection decisions are a good deal less rational than wie think." (S. 88)
Trotzdem sind wir unserer Intuition nicht hilflos ausgeliefert, tröstet uns Gladwell – wir können uns auch selber "primen": "Think about Dr. King" (S. 96). Indem wir uns bewusst beeindruckende und erfolgreiche Menschen aus der jeweiligen Gruppe vor Augen führen, wirken wir der unbewussten Verzerrung entgegen: "Our first impressions are generated by our experiences and our environment, which means that we can change our first impressions – we can alter the way we thin-slide – by changing the experiences that comprise those impressions." (S. 97)
Das ist einerseits erfreulich. Andererseits stellt sich die Frage, um wieviel objektiver und neutraler unsere Urteile werden, wenn wir uns selbst in die gewünschte Richtung "primen": Korrigieren wir unsere unbewussten Verzerrungen auf diese Weise, oder machen wir damit alles nur noch schlimmer?
Spannend, aber oft auch verwirrend
So weit, so nachvollziehbar. Bei einigen der späteren Kapitel treten jedoch auch die Nachteile von Gladwells Stil zunehmend zutage. Meist springt er wie ähnlich in einem Roman ohne Einführung oder Erklärung mit beiden Beinen in eine Geschichte hinein; im weiteren Verlauf lässt er gern Experten auftreten, um systematische Muster hinter dem jeweiligen Fallbeispiel aufzuzeigen.
Zuweilen wechselt er auch übergangslos in eine zweite Geschichte, noch bevor das erste Fallbeispiel wirklich aufgelöst und entschlüsselt ist, von dort vielleicht noch weiter in eine dritte, bevor er die Fäden irgendwann später zusammenführt.
Das ist spannend zu lesen, weil es sehr anschaulich ist und immer wieder Überraschungen bietet. Aber zuweilen übertreibt er es damit, und dann wird es verwirrend, wie in einem Film mit zu vielen Schnitten und Sprüngen, bei dem man irgendwann den Überblick verliert.
Obwohl ich mir beim Lesen zentrale Gedanken anstreiche, gelang es mir bei manchen Kapiteln auch beim zweiten Lesen nicht, herauszufinden, wofür die Beispiele eigentlich Beispiele waren. So packend, unterhaltsam und einleuchtend die Geschichten sind, zuweilen bleibt (mir) unklar, was uns der Dichter damit eigentlich sagen wollte. Während das bei einem Film oder Roman eine lässliche Sünde wäre, ist es bei einem Sachbuch doch ein erheblicher Mangel.
Wackeliger gemeinsamer Nenner
So beschreibt er im vierten Kapitel zunächst einen Militärkommandeur, dem es mit einer cleveren Taktik gelang, bei einem Manöver eine neue ausgetüftelte Kampfstrategie der Militärakademie völlig auszuhebeln und der Gegenseite eine vernichtende Niederlage beizubringen. (Meine wichtigste Anstreichung in diesem Abschnitt: [In a battle,] "we would be in command but out of control", S. 118). Das dürfte auch viele Führungssituationen treffend charakterisieren.
Zwischendurch springt er zum Improvisationstheater – was mit Militärübungen auf den zweiten Blick vielleicht doch mehr zu tun hat als es auf Anhieb scheint ("spontaneity isn't random", S. 114), streut einen Exkurs zur Gesichtserkennung ein ("We all have an instinctive memory for faces", S. 120), lässt danach zwei Denksportaufgaben und die Analyse eines Feuerwehreinsatzes folgen und wendet sich sodann der Krise in der völlig überlasteten Kardiologie-Notaufnahme einer Vorstadtklinik zu, die schließlich etwas überraschend, aber überzeugend, durch einen simplen Algorithmus zur Bewertung der kardiologischen Notfälle gelöst wird.
Dieser Algorithmus weist nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Einfachheit eine deutlich höhere Treffsicherheit auf als die detaillierte Diagnose der Ärzte, woraus Gladwell ableitet: "Extra information is more than useless. It's harmful." (S. 137) Das ist dann wohl auch die zentrale Aussage des Kapitels, die alle erwähnten Fälle irgendwie zusammenbinden soll.
Aber dieses Resümee ist mehr als windig, denn zum einen sind zusätzliche Informationen natürlich nur dann schädlich, wenn man alle wesentlichen Informationen schon hat: Nur dann bergen zusätzliche Daten die Gefahr, die wesentlichen zu überlagern und zu verwischen.
Zum anderen resultierte die schnelle Erfassung der wesentlichen Informationen in den aufgeführten Beispielen aus ganz unterschiedlichen Quellen: Teils aus strategischen Überlegungen, wie im Falle des Militärkommandeurs, teils aus trainierter Intuition, wie bei den Feuerwehrleuten, teils aus sorgfältigen empirischen Untersuchungen, wie im Falle der Kardiologie.
Kein Meisterwerk
Kein Wunder also, wenn man beim Lesen zuweilen den Eindruck hat, dass sich die Geschichten nicht so recht zusammenfügen und kein kohärentes Bild ergeben. Erst recht geben sie keine Antwort darauf, wie man denn nun vorgehen soll, um zu optimalen Entscheidungen zu gelangen: Soll man sich eine Strategie überlegen, seine Intuition walten lassen oder eine wissenschaftliche Studie in Auftrag geben?
Insgesamt ist "Blink" in meinen Augen bei Weitem nicht so gut gelungen wie "The Tipping Point". Während man aus Gladwells Erstling wirklich grundlegende Erkenntnisse ziehen konnte, ist das bei "Blink" nur sehr eingeschränkt der Fall. Es ist gut und amüsant zu lesen, aber wirklich grundlegende Erkenntnisse sollte man sich davon nicht erhoffen.
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