Hartes Brot. Obwohl diese Einführung von den führenden Experten stammt, einen umfassenden Überblick gibt und eine Vielzahl wichtiger Informationen und kluger Gedanken enthält, kann ich sie nicht wirklich empfehlen: Sie ist allzu mühsam zu lesen.
Das Buch versammelt die Crème de la Crème der ökologischen Ökonomie, darunter viele Emeriti – von Herman Daly über den verstorbenen Robert Goodland bis zu John Cumberland und Richard Norgaard. Auch Erstautor Robert Costanza ist Jahrgang 1950, nur die beiden Koautorinnen (deren Namen mir nichts sagen) scheinen etwas jünger zu sein. Erfreulich, dass sich diese älteren Herrschaften, statt sich zu beeifersüchteln, zu einem gemeinsamen Buchprojekt zusammengefunden haben – ich wollte nur, sie hätten uns die Summe ihrer Einsichten in etwas besser lesbarer Form hinterlassen.
Das Buch ist eine Bleiwüste: Sehr viel Text pro Seite, zum Ausgleich (oft) zu wenige Absätze, wenn auch (meist) durch gelegentliche Zwischenüberschriften untergliedert. Der Stil so professoral wie man es sonst eher von deutschen Lehrbüchern kennt als von amerikanischen, sehr abstrakt und trocken geschrieben. Ich habe mich mehr durch das Buch gequält als es gelesen, oft nur zwei oder drei Seiten am Stück geschafft. Wie schade, dass so viel versammelte Kompetenz nicht besser aufbereitet wurde!
Für mich hat sich trotz der tiefen Dezimalgliederung auch keine durchgängige Logik oder "Storyline" erschlossen; der Text wirkte auf mich eher wie eine Aneinanderreihung von Kapiteln bzw. Abschnitten. Vielleicht liegt das daran, dass zu viele Köche an dem Brei mitgerührt haben und keiner so genau von dem anderen wusste, was er genau sagen würde und worauf man sich beziehen könnte. Zwischendurch gibt es immer mal Passagen, die sich relativ gut lesen, aber dann gerät man wieder in Abschnitte, in denen es zäh und trocken wird.
Den Grenzen des Wachstums sehr nahe
Das 300-Seiten-Buch besteht aus nur vier Kapiteln – was mit zu seiner Unübersichtlichkeit beiträgt. Denn die letzten beiden sind jeweils über 100 Seiten lang. Auch ihre tiefe Untergliederung kann nicht verhindern, dass da beim portionsweisen Lesen der Zusammenhang abreißt.
Das erste und mit 24 Seiten kürzester Kapitel befasst sich, wie nicht anders zu erwarten, mit "Humanity's Current Dilemma". Vieles davon deckt sich natürlich mit dem, was man auch anderswo liest, aber man muss ja das Problem beschreiben, mit dessen Lösung sich der Rest des Buchs beschäftigt.
Die wichtigste Erkenntnis, die ich diesem Kapitel verdanke, ist, in welch beängstigendem Ausmaß sich der Mensch die Erde bereits untertan gemacht hat: "The best evidence that there are imminent limits is that the human economy uses – directly or indirectly – from 30% to 55% of the net primary product (NPP) of terrestrial photosynthesis globally." (S. 8)
Wie nahe wir den Grenzen des Wachstums damit bereit sind, wird erschreckend deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass eine Nutzung von 100 % und vermutlich auch 80 % nicht einmal theoretisch erreichbar ist, weil es ja viele Flächen gibt, auf denen zwar auch Fotosynthese stattfindet, deren Erschließung für die menschliche Nutzung aus praktischen Gründen kaum möglich ist: von Wüsten und Felsenregionen bis hin zur Autobahnmittelstreifen und der Ruderalvegetation auf Betonflächen, Dächern und Brachflächen.
Das heißt, selbst wenn wir sämtliche Naturschutzgebiete, Nationalparks und die letzten Regenwälder in Startbahnen, Logistikzentren und landwirtschaftliche Nutzflächen verwandeln würden, hätten wir spätestens nach einer weiteren Verdoppelung den absoluten Anschlag erreicht, weil es dann keine unbewirtschafteten Flächen mehr gibt. Bei einem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3 Prozent wird das in 24 Jahren (ab Abfassung der Studien) der Fall sein; bei einem Wachstum von 2 Prozent hätten wir immerhin noch 36 Jahre (minus der bereits verstrichenen) Zeit.
Zwischen Ökonomie und Ökologie
Etliche neue Einsichten liefert, wenigstens für mich, das zweite Kapitel "The Historical Development of Economics and Ecology", und zwar einfach, indem es zentrale Denker und Gedanken der beiden Disziplinen chronologisch nebeneinander stellt. Deren rigide Separation ist neueren Datums; im Denken der Gründerväter der heutigen Ökonomie im 18. und frühen 19. Jahrhundert war die Einbettung menschlichen Wirtschaftens in die Natur durchaus noch präsent – wohl auch, weil damals die Erfahrung von Nahrungsmittelknappheit und Hunger noch allgegenwärtig war.
Entsprechende Gedanken finden sich nicht nur bei Adam Smith. So stellte der vom Kleriker zum Ökonomen konvertierte Thomas Malthus (1766 – 1843) fest, dass die Bevölkerung exponentiell wachsen könne, während die Nahrungsmittelproduktion nur linear wächst. Deshalb komme es immer wieder zu Hungersnöten und Kriegen. Und John Stuart Mill (1806 – 1873) trat explizit für die Bewahrung der Biodiversität und eine Gleichgewichtsökonomie ein. W. Stanley Jevons (1835 – 1882) erkannte die kritische Bedeutung der Energie, was in seinen Tagen vor allem Kohle bedeutete – und war den heutigen Ökonomen damit nicht nur zeitlich meilenweit voraus.
Während Ernst Haeckel (1834 – 1919) die Ökologie und Alfred J. Lotka (1880 – 1949) das Systemdenken begründeten, untersuchte Alfred C. Pigou (1877 – 1959), wie die freien Märkte versagen, wenn es um ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt geht. Denn die sogenannten "Externalitäten", das heißt ihre negativen und und – seltener – positiven Auswirkungen auf die ökologische und soziale Umwelt fließen nicht in die Marktpreise ein und bleiben somit außer Beachtung der Wirtschaftsakteure.
"Biodiversity is not adequatly protected beause its value is not included in the market signals that guide the economic decisions of producers and consumers and thereby the the overall operation of the economic system. The logic of market failure has led economists, and increasingly biologists as well, to argue that the critical environmental resources need to be incorporated into the market system." (S. 49)
Dies hätte eine gute Ausgangsbasis für eine gemeinsame Entwicklung von Ökologie und Ökonomie sein können, doch stattdessen entwickelten sich die beiden Disziplinen im Zuge der zunehmenden Spezialisierung des Wissenschaftsbetriebs auseinander. Die Ökologie betrachtete die Wirtschaft als außerhalb ihres Jagdreviers, und die Ökonomie verlor völlig aus den Augen, dass sie Input aus der Außenwelt aufnimmt und Müll, Abfälle und Schadstoffe an sie zurück gibt.
Sie interessierte sich immer weniger für das übergeordnete System, in das sie eingebettet und von dessen Funktionieren sie abhängig ist. Es war ihr gleichgültig, wo die Rohmaterialien herkamen und was aus ihren Hinterlassenschaften wurde – so als ob sie aus dem Nichts kämen und wieder ins Nichts verschwänden. Infolge ihrer verengten Sichtweise nahm die Ökonomie auch kaum wahr, dass jene Teile der Welt, die sie nicht mit Beschlag belegte, immer weniger wurden: Die "Empty World" hat sich in eine "Full World" verwandelt.
Die Ökologen mischen sich in die Wirtschaft ein
Während die klassischen Ökonomen immer noch von fortgesetztem Wachstum als Lösung aller Menschheitsprobleme träumen, wurden die Ökologen zunehmend nervös. So machte Kenneth Boulding mit seiner Metapher vom "Spaceship Earth" darauf aufmerksam, dass sich alle menschlichen Aktivitäten innerhalb eines (fast) geschlossenen Systems abspielten. Dennis Meadows und Kollegen loteten mit Systemsimulationen die "Limits to Growth" aus und fachten damit eine breite gesellschaftliche Debatte an.
Howard T. Odum und Nicholas Georgescu-Roegen betonten, anknüpfend an die Erkenntnisse der Thermodynamik, die Schlüsselrolle der Energie und deren Konsequenzen. Und Herman Daly propagierte "Steady-State Economics": Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Ökosystem Erde erstens endlich ist und zweitens nicht wächst, solle und müsse unser Wirtschaften nicht auf die Maximierung des Konsums, sondern auf die Minimierung des Durchsatzes gerichtet sein.
Insgesamt scheut die ökologische Ökonomie sich nicht, Methoden und Erkenntnisse aus der neoklassischen zu übernehmen (und scheint deren unglückliche Liebe für abstrakte Funktionen sogar zu teilen, die Spötter als eine Art mathematischen Penisneid betrachten), aber sie verfolgt grundlegend andere Ziele und Werte. Während die neoklassische Ökonomie primär um das Ziel der Effizienz kreist, steht dieser Wert für ihre ökologisch ausgerichteten Kollegen erst an dritter Stelle. Davor stehen für sie erstens die Integrität des Ökosystems und zweitens eine gerechte Verteilung.
Dass die Integrität des Ökosystems das erste und oberste Ziel ist und sein muss, ergibt sich zwingend daraus, dass eine ernsthafte Destabilisierung des Ökosystems leicht auch das Ende des Menschen und seines Wirtschaftens bedeuten könnte. Die gerechte Verteilung als zweithöchstes Ziel folgt fast zwangsläufig, wenn man akzeptiert, dass das Gesamtsystem begrenzt ist. Denn wenn die ökonomischen Bäume nicht in den Himmel wachsen können bzw. dürfen, folgt daraus, dass die Menge der zu verteilenden Güter begrenzt ist. Unbegrenzter Reichtum wäre daher nur dann möglich, wenn viele – vermutlich sehr viele – andere nichts oder so gut wie nichts bekämen, was ethisch inakzeptabel wäre.
Ökologie und Ökonomie in Koevolution untrennbar verbunden
Eine Trennung von Ökonomie und Ökologie ist nicht möglich. In Wirklichkeit findet ständig eine "coevolution of ecological and economic systems" (S. 72) statt. So übt zum Beispiel die Einführung neuer Schädlingsbekämpfungsmittel in der Landwirtschaft einen massiven Selektionsdruck auf die "Schädlinge" aus, mit der Folge, dass die sich entweder anpassen und Resistenzen entwickeln oder tatsächlich verdrängt werden – womit sie eine freie ökologische Nische hinterlassen, die früher oder später von besser angepassten Schädlingen besetzt wird. Was wiederum die Weiterentwicklung der Schädlingsbekämpfungsmittel notwendig macht.
Schädlinge und Schädlingsbekämpfungsmittel sind so in einer Koevolution verbunden – ein klassischer Rüstungswettlauf. Der Spielstand ist nach mehr als einem halben Jahrhundert unentschieden, obwohl vermeintlich immer "bessere" Pestizide immer massiver eingesetzt werden: "Preharvest crop losses due to pest since World War II have remained around 35% while pesticide use has increased dramatically." (S. 75)
Das müsste uns eigentlich nachdenklich machen. Denn wenn wir in diesem Rüstungswettlauf trotz aller Forschungen und Investitionen von Bayer, BASF und Montsanto und trotz immer höherer Kosten für die Landwirte keinen Boden gewonnen haben, dann werden wir ihn erst recht nicht gewinnen, wenn uns die fossilen Energieträger ausgehen, auf denen sowohl die Chemieindustrie als auch die "moderne" Landwirtschaft basieren.
Der Fehler dabei liegt wohl auch in einem falschen Denkmodell. Explizit oder implizit gehen wir bei vielem, was wir unternehmen, von einer statischen Welt aus: Ein neues Schädlingsbekämpfungsmittel hat im Labor oder Feldversuch seine Wirksamkeit bewiesen – also verspricht sein Einsatz deutlich bessere Ernten. In Wirklichkeit stößt die Neuentwicklung aber nur die nächste Runde der Koevolution an. Letzten Endes züchten bessere Pestizide nur besser angepasste Schädlinge.
Aber das Konzept der Koevolution trägt noch weiter und lässt sich letztlich auf das Industriezeitalter insgesamt anwenden: "Our values, knowledge, and social organizations have coevolved around fossil hydocarbons. Our fossil-fuel driven economy has not simply transformed the environment, it has selected for individualist, materialist values, favored the development of reductionist understanding at the expense of systemic understanding, and preferred a bureaucratic, centralized form of control." (S. 76)
Der gefährliche Mythos von der Substituierbarkeit
Nach diesem intellektuellen Aufwärmen folgen die beiden Monster-Kapitel mit jeweils über 100 Seiten. Ich will nicht versuchen, ihre wesentlichen Inhalte zusammenzufassen zumal ich mir damit die Geduldsprobe der Lektüre noch ein weiteres Mal antun müsste. Stattdessen gebe hier nur einige Gedanken wieder, die mir besonders wichtig erscheinen.
Ein wichtiger Unterschied zwischen neoklassischer und ökologischer Ökonomie ist, dass die Neoklassiker ohne jede Differenzierung die wechselseitige Substituierbarkeit der Produktionsfaktoren unterstellen. Genau dies bezweifeln die ökologischen Ökonomen. Nach ihrer Auffassung müssen zwei Klassen von Produktionsfaktoren unterschieden werden, nämlich natürliches und menschengemachtes Kapital (natural vs. man-made capital) – und diese beiden sind, von Ausnahmen abgesehen, nicht substituierbar. Gleich ob es Wasser ist, der Ozonschild oder die Fischbestände, es gibt für sie kein menschengemachtes Substitut.
Das klingt sehr technisch und trocken, hat aber dramatische Konsequenzen. Denn es bedeutet, dass ein Wirtschaftszweig am Ende ist, wenn ihm der Nachschub an den benötigten natürlichen Ressourcen ausgeht, weil es für sie in aller Regel kein Substitut – und schon gar kein menschengemachtes – gibt. Die gedankenlose Unterstellung von fast beliebiger Substituierbarkeit dürfte sich daher als lebensgefährlicher methodischer Fehler erweisen – man könnte es auch Pfusch nennen.
Da wir einer "vollen Welt" schon gefährlich nahe gekommen sind, müssten sich die Anstrengungen von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft eigentlich dringend darauf richten, den hohen Verbrauch von Naturkapital zu senken und auf ein nachhaltiges Maß zu reduzieren, das heißt auf eines, das keinesfalls höher ist als der jährliche natürliche Zuwachs. Solange die Kosten dieses Raubbaus jedoch externalisiert sind, wird das großflächig kaum stattfinden. Deshalb müsste dringend für eine Internalisierung der Inanspruchnahme dieser Ökosystemleistungen gesorgt werden.
Die Reduzierung des Ressourcenverbrauchs auf ein nachhaltiges Maß wird nicht ohne Regulierungen und damit nicht ohne ein gewisses Maß an Bürokratie zu erreichen sein. Dagegen wird es massive Widerstände geben, zumal die Industriestaaten hier wohl erhebliche Einschränkungen hinnehmen müssten, weil man den Entwicklungs- und Schwellenländern gleiche Rechte nicht verwehren kann, es aber mit dem Ziel der Nachhaltigkeit unvereinbar ist, dass sie in ihrem Verbrauch zu den Industriestaaten aufschließen.
Die Ablenkungsdebatte um die Geburtenrate
Im Abschnitt "Population and Carrying Capacity" befassen sich die Autoren mit einer Frage, die seit Jahren viele ökologisch Interessierte umtreibt – und sie machen dabei den gleichen Denkfehler wie viele andere auch. Zwar stellen sie zu Recht (und trivialerweise) fest, dass der gesamte Ressourcenverbrauch der Menschheit sich aus der Kopfzahl mal dem Durchschnittsverbrauch errechnet – und dass dieser Gesamtverbrauch in einem endlichen Ökosystem nicht beliebig hoch sein kann.
Aber daraus schließen sie implizit, die Bevölkerungszahl und damit die Geburtenrate seien der entscheidende Hebel, um die Tragfähigkeit der Erde nicht zu überfordern. Dabei berücksichtigen sie ebenso wenig wie die meisten anderen Denkmodelle (einschließlich der berühmt-berüchtigten IPAT-Formel), dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, bei dem es keinen linearen Zusammenhang zwischen der Stückzahl und dem Ressourcenverbrauch gibt:
Ein einziger wohlhabender Amerikaner, Europäer oder Chinese, der auf großem Fuße lebt und aus geschäftlichen und/oder privaten Gründen ständig um die Welt jettet, verbraucht unendlich viel mehr an Ressourcen als ein ganzes auf Subsistenzniveau lebendes afrikanisches Dorf oder ein brasilianischer Slum. Oder, plakativer gesagt: Ein einziger Al Gore, der um die Welt jettet, um gegen saftige Honorare vor dem Klimawandel zu warnen, trägt mehr zu diesem Klimawandel bei als die allermeisten, zu denen er predigt, zusammen.
Zwar spielt natürlich auch die absolute Zahl lebender Menschen eine Rolle, weil selbst ein halbverhungertes indisches oder afrikanisches Kind einen von Null verschiedenen Beitrag zum Gesamtverbrauch der Menschheit addiert. Aber dieser Betrag dürfte pro Jahr geringer sein als das, was wir im Westen täglich in den Müll schmeißen. Deshalb ist die Diskussion über eine Begrenzung des Bevölkerungswachstums letztlich eine nutz- und gedankenlose Ablenkung von dem entscheidenden Hebel, an den wir aus nachvollziehbaren Gründen nicht heran wollen, nämlich unserem eigenen Verbrauch.
Paradoxerweise würde eine Senkung der Geburtenrate möglicherweise sogar zu einer Steigerung des Gesamtverbrauchs führen. Denn das wirksamste Mittel zu ihrer Senkung ist Bildung, wie die Autoren mit einer Weltbankstudie belegen: "when the income of the poor rises by 1%, general fertility rate drops by 3%" (S. 124). Doch Bildung führt auch zu höheren Einkommen und einer höheren Lebenserwartung – und damit zweifach zu einem höheren Verbrauch.
Immerhin kommt die genannte Weltbankstudie, die Costanza und Kollegen sozusagen als Minderheitenmeinung zitieren, zu dem Ergebnis, dass "population is not a revelant variable in terms of resource depletion"; der entscheidende Faktor sei vielmehr "overconsumption by the affluent" (S. 124).
Falsches Wohlstandsmaß fördert falsche Politik
Das Bruttoinlandsprodukt (Gross Domestic Product), an dem die Entwicklung von Volkswirtschaften üblicherweise gemessen wird, ist ein überaus anfechtbares Konstrukt: Es ist gespickt mit zweifelhaften Konventionen, wie etwa, dass eine Volkswirtschaft eine niedrigere Zahl ausweist, wenn sich die Bürger teilweise aus ihrem eigenen Garten selbst versorgen oder wenn Kinder- und Altenbetreuung, Gemeindearbeit und andere Leistungen zu einem hohen Anteil durch (unbezahltes) bürgerschaftliches Engagement abgedeckt werden – und das, obwohl solche Länder nicht nur resilienter sind, sondern auch eine höhere Lebensqualität aufweisen. Wenn dagegen die Mieten steigern, die Bürger längere Anfahrtswege zur Arbeit in Kauf nehmen müssen oder mehr Polizei zur Verbrechensbekämpfung erforderlich ist, weist das Bruttoinlandsprodukt ein entsprechendes Wachstum aus.
Hier zeigt sich die Macht einer etablierten Messgröße: Obwohl sie allen, die sich auch nur ein bisschen mit ihr beschäftigen, äußerst suspekt sein muss, leitet sie dennoch das Handeln von Politikern und Ökonomen. Alle atmen auf, wenn das BIP steigt, und bekommen Sorgenfalten, wenn es rückläufig ist. Dabei könnte das Erste ein gutes Zeichen sein, etwa für mehr bürgerschaftliches Engagement in der Altenbetreuung, und das Zweite ein Problem anzeigen – wie etwa explodierende Kosten für Rüstung oder die Bewältigung einer Nuklearkatastrophe.
Der Grund, weshalb das BIP bzw. GDP dennoch so durchgängig als Leitgröße genutzt wird, ist entgegen manchen Beteuerungen keineswegs, dass wir nichts Besseres haben. Wir hätten sehr wohl Besseres – aber das BIP ist erstens etabliert und dient zweitens den Interessen mächtiger Lobbygruppen, weil es Staat und Politik dazu anhält, die Wirtschaft nach Kräften zu fördern und ihr keine "überflüssigen" "bürokratischen" Hürden in den Weg zu legen. Andere Maße könnten eine ganz andere Politik nahelegen, die mehr Restriktionen für die Wirtschaft mit sich bringt, und das will man doch nicht riskieren.
Das Ringen um ein besseres Maß für Wohlstand
Ergänzte man das BIP nur um einige wesentliche Korrekturen, nämlich erstens den Zugewinn oder Verlust an natürlichen Ressourcen, den eine Volkswirtschaft im Verlaufe des Wirtschaftsjahres bewirkt hat, zweitens um alle positiven und negativen "Externalitäten", und drittens um den Wert unentgeltlich geleisteter Arbeit, dann hätte man den "Index for Sustainable Economic Welfare" (ISEW), den Herman Daly und John B. Cobb schon 1989 vorgeschlagen haben (und der inzwischen zum "Genuine Progress Indicator" (GPI) weiterentwickelt wurde).
Mit einer solchen Kennzahl könnte man weitaus treffender abbilden, ob sich der tatsächliche Wohlstand eines Landes im Jahresverlauf positiv oder negativ entwickelt hat. Aber eine solche Messgröße würde natürlich dazu anhalten, achtsamer mit natürlichen Ressourcen umzugehen, "negative Externalitäten" konsequenter zu erfassen und einzudämmen und die "Professionalisierung" sozialer Leistungen nicht mehr als gesellschaftlichen Fortschritt (fehl-)zuinterpretieren.
Kennzahlen wie ISEW und GPI haben den Vorteil, dass sie auf dem GDP aufbauen und so eine Kontinuität der Zeitreihen ermöglichen – auch wenn sie dabei manche von deren Unzulänglichkeiten perpetuieren. Vergleicht man das GDP und den GPI, stellt sich heraus, "that there is a marked difference between what GDP measures and economic welfare, and that the latter has been growing much more slowly than the former." (S. 149)
Bei genauerer Analyse wird sichtbar, dass "beyond a certain point, GDP growth no longer correlates with increased economic welfare." (S. 150) Auch wenn es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Ländern gibt, macht sowohl die Länder- als die globale Perspektive eine wachsende Fehlsteuerung durch das angebliche Wohlstandsmaß GDP sichtbar: Während das GDP (fast) kontinuierlich nach oben geht, steigt etwa der "Genuine Progress Indicator" seit Beginn der siebziger Jahre nicht mehr, sondern ist sogar leicht rückläufig.
Auf der Suche nach einem ganzheitlichen Indikator für Lebensqualität
Statt unsere gesamte Politik an – noch dazu windigen – ökonomischen Kennzahlen auszurichten, wäre es weitaus sinnvoller, regelmäßig zu erheben, (a) ob es dem Ökosystem gut geht und (b) ob es den Menschen gut geht. Das Ökosystem muss dabei Vorrang haben, selbst wenn sich daraus Restriktionen für die Menschen ergeben, weil es unser aller Lebensgrundlage ist:
"Human, social, and produced assets depend entirely on the natural world, and natural capital is therefore ulitmately non-substitutable. Sustainability therefore requires that we live off the interest (sustainable yields) generated by natural capital without depleting the capital itself." (S. 130)
Auch ISEW und GPI sind, da sie aus dem GDP abgeleitet sind, trotz aller Verbesserungen, die sie bringen, Indikatoren für ökonomischen Wohlstand – und damit etwas prinzipiell anderes als das, worum es "eigentlich" geht, nämlich Zufriedenheit, Glück und Lebensqualität. Wer einen ganzheitlichen Indikator für Lebensqualität sucht, müsste daher das BIP (und damit auch die Zeitreihen-Vergleichbarkeit) wohl hinter sich lassen und einen ganz neuen Indikator entwickeln.
Gibt es ein objektives Maß für Lebensqualität?
Doch damit begibt man auf schwieriges Terrain. Denn dafür bräuchte man entweder eine objektive Methode, zu bestimmen, was Zufriedenheit, Glück und Lebensqualität eigentlich ausmacht, oder zumindest einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Das führt in die schwierige Diskussion über "objektive Bedürfnisse", die es dann von "künstlich geweckten" oder sonstwie unnatürlichen abzugrenzen gälte. (Gibt es zum Beispiel ein "objektives Bedürfnis" nach Luxus oder nach Rauschzuständen?)
Ernstzunehmende Vorschläge für eine Taxonomie der objektiven Bedürfnisse gibt es durchaus, etwa von dem deutsch-chilenischen Ökonomen Manfred Max-Neef, der neun Kategorien von "axiological human needs" vorschlägt, nämlich "(1) subsistence, (2) protection, (3) affection, (4) understanding, (5) participation, (6) leisure, (7) creation, (8) identity, and (9) freedom." (S. 158)
So achtbar das ist, ich sehe nicht, wie man diese Diskussion innerhalb vernünftiger Zeit zu einem breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens führen sollte. Spätestens wenn die diversen Lobbygruppen ihre jeweiligen Produkte und Dienstleistung als "die Erfüllung objektiver Bedürfnisse" zu verkaufen versuchen und/oder der eine oder andere totalitäre Staat prinzipiell bestreitet, dass Werte wie Partizipation oder Freiheit zu den wirklichen menschlichen Bedürfnissen zählen, dürfte diese Debatte im Nirwana enden.
Doch selbst wenn es gelänge, einen Konsens zu erzielen, wäre der Beweis erst noch zu erbringen, dass die – vermutlich irgendwie zu gewichtende – Summe der festgelegten Kategorien tatsächlich sehr hoch mit Glück und Lebensqualität korreliert. Da wir Menschen zu Nichtlinearitäten neigen, wäre diese Forschung wohl für einige Überraschungen gut. Und was würden wir schließen, wenn zum Beispiel die Chinesen trotz (aus unserer westlichen Sicht) fehlender Teilhabe und Freiheit eine hohe Zufriedenheit und Lebensqualität berichten, während, sagen wir, die Katalanen ein Leben ohne Freiheit als überaus unbefriedigend empfinden?
Das spricht in meinen Augen dafür, die Energie eher auf die gesellschaftliche und politische Durchsetzung des ISEW bzw. seines "Nachfolgers" GPI zu richten und uns nicht in einer Debatte zu verzetteln, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu nichts Greifbarem führen wird.
Enttäuschtes Resümee
Lassen wir es dabei. Das Buch enthält sicher noch mehr gute und kluge Gedanken, aber es ist mir einfach zu mühsam, sie weiter zu exzerpieren. Auch beim zweiten Lesen gelingt es mir nur mit Mühe, aus den beim ersten Durchgang angestrichenen Punkten eine kohärente Zusammenfassung zu generieren. Das mag auch an meinen Anstreichungen liegen – aber ich glaube, nicht nur an ihnen.
Insgesamt kann ich das Buch leider nicht empfehlen. Und wegen der schlechten Lesbarkeit fällt auch meine Bewertung des Nutzens relativ niedrig aus. Wirklich schade: Von diesem illustren Autorenkreis hätte ich mir sehr viel mehr erhofft. Ein Trost ist zumindest, dass es eine empfehlenswerte Alternative gibt, nämlich die "Ecological Economics" von Herman Daly und Joshua Farley (2nd edition 2010). Das ist zwar auch keine ganz leichte Kost, aber im Vergleich geradezu Ferienlektüre.
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