Frankl wird nicht müde, die Bedeutung der Sinnfrage aufs Eindringlichste zu betonen, aber er beantwortet weder, was "Sinn" überhaupt bedeutet noch wie man ihn finden kann. Da wird man eher bei seinem verleugneten Lehrer Alfred Adler fündig.
Der Wiener Psychiater Viktor Frankl (1905 – 1997) ließ sich gern als den Begründer der "Dritten Wiener Schule" (der Tiefenpsychologie) feiern, der sogenannten Logotherapie – aber das ist eindeutig zu hoch gegriffen. Frankl hat keineswegs eine eigene (Theorie der) Psychologie entwickelt, seine Vorträge und Veröffentlichungen kreisen fast ausschließlich um das – unbestritten wichtige – Thema Sinn des Lebens bzw. der eigenen Existenz. Um andere Aspekte des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns hat er sich nach meiner Kenntnis nie intensiver gekümmert, geschweige denn eine eigene Theorie oder "Schule" dazu entwickelt.
Frankls "vergessene" Wurzeln
Vielmehr baut Frankl in vieler Hinsicht auf Alfred Adler und der von ihm begründeten Individualpsychologie auf, die er, obwohl er es eigentlich besser wissen musste, meist auf den "Willen zur Macht" verkürzt. Als Wiener Zeitgenossen und zeitweiligen Schüler Adlers war ihm ohne Zweifel bekannt, dass Adler das Machtstreben keineswegs als dominierendes menschliches Motiv verstand, sondern als ein neurotisches Kompensationsmuster für Minderwertigkeitsgefühle: Wer glaubt, dem Leben aus eigener Kraft nicht gewachsen zu sein, für den ergibt es Sinn, nach Macht zu streben und so zu versuchen, andere in den eigenen Dienst zu stellen.
So verdienstvoll Frankls Betonung der Sinnfrage ist, mich befremdet etwas, wie sehr er zentrale Quellen seines Denkens verschweigt. Obwohl er sie mit Sicherheit kannte, nimmt Frankl an keiner (mir bekannten) Stelle Bezug auf Alfred Adlers Bücher "Wozu leben wir?" ("What Life Should Mean to You", 1931) und "Der Sinn des Lebens" (1933). Desgleichen geht er an keiner (mir bekannten) Stelle auf die von Adler benannten und von Rudolf Dreikurs präzisierten drei bzw. vier "Lebensaufgaben" ein, nämlich Liebe, Beruf und Gemeinschaft.
Dabei sind diese "Lebensaufgaben" in gewisser Hinsicht präziser und konkreter als Frankls "Wille zum Sinn", weil sie angeben, auf welchen Gebieten der Sinn und die Aufgaben des Lebens zu finden sind, während Frankl selbst sich hierzu eher anekdotisch äußert und den Eindruck vermittelt, als sei das Finden des eigenen Lebenssinnes ein weites, offenes Feld, auf dem jeder Einzelne für sich seinen Sinn bzw. seine Aufgabe finden müsse.
Während Frankl ansonsten sehr gern und ausführlich alle möglichen Quellen zitiert, hält er sich bei diesen seinen Wurzeln sehr bedeckt und es erwähnt auch nie, wenn er individualpsychologische Gedanken und Konzepte nutzt. Aber zur "Dritten Schule" wird man nicht dadurch, dass man verschweigt, was man sich von der zweiten geborgt hat und wo man auf deren Vorarbeit aufbaut. Insofern muss man Frankl Werk wohl eher als Weiterführung der Individualpsychologie verstehen, die ein elementares Thema weiter ausarbeitet, denn als eigenständiges Theoriegebäude.
Frankl lässt offen, was Sinn ist und wie man ihn findet
Die Sinnfrage ist ein eher "modernes" Thema. Sich mit der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz zu beschäftigen, ist in gewisser Weise ein Luxusthema – was keineswegs heißen soll, dass es irrelevant wäre. aber es setzt eine gewisse Freiheit von materieller Not voraus: Wer um sein eigenes Überleben und um das seiner Familie kämpft, hat andere Sorgen als die Sinnfrage. Dazu passt der Befund, dass Depressionen und Selbstmorde, die für Frankl die Negation der Sinnfrage bedeuten, in Notzeiten nicht etwa steigen, sondern zurückgehen.
Was mich an Frankls Büchern und Vorträgen auf die Dauer etwas enttäuscht, ist, dass er zwar nicht müde wird, die existenzielle Bedeutung der Sinnfrage zu betonen, aber weder eine Antwort darauf gibt, wie man den Sinn seines Lebens findet (bzw. wählt oder festlegt), noch sonst irgendwelche gedanklichen oder methodischen Hilfen für die eigene Sinnsuche gibt.
Enttäuschend ist auch, dass man weder in diesem Buch noch, soweit mir bekannt, an anderer Stelle definiert oder zu (er)klären versucht, was er eigentlich unter "Sinn" versteht: Er scheint gar nicht zu bemerken, dass diese Frage in seinem Werk unbeantwortet bleibt. Dabei ist es alles andere als trivial, was es eigentlich genau bedeutet, wenn jemand sagt, dass sein Leben Sinn (oder keinen Sinn) hat. Dabei ließe sich sehr wohl empirisch untersuchen, unter welchen Bedingungen Menschen ihrem Leben einen Sinn bzw. keinen Sinn beimessen.
Deshalb finde ich es auf die Dauer auch unbefriedigend, Frankls Werke zu lesen oder seine Vorträge zu hören: Er wird nicht müde, die Bedeutung der Sinnfrage aufs Eindringlichste zu betonen, wobei er oft die immer gleichen Argumente und Beispiele wiederholt, aber er beantwortet weder, was "Sinn" überhaupt bedeutet noch wie man ihn findet.
Da wird man bei seinem verleugneten Lehrer Alfred Adler eher fündig: Der würde schlicht konstatieren, da der Mensch seinem Wesen nach ein soziales Wesen sei, kann der Sinn seines Lebens nur darin liegen, (s)einen Beitrag zur menschlichen Gemeinschaft zu leisten, und zwar in Erfüllung der drei Lebensaufgaben Liebe, Beruf und Gemeinschaft.
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