Wichtiger Artikel. Zorn ist trotz seiner Tabuisierung grundsätzlich ein nützliches Gefühl, weil er hilft, Beziehungen zu klären. Doch er lässt sich politisch-manipulativ missbrauchen, um Wut und Hass zu schüren und so seine Interessen voranzubringen.
Ärger und Zorn zählen in den USA – und mit Abstrichen auch bei uns – zu den Gefühlen, die sich "nicht gehören", schon gar nicht für eine reife Persönlichkeit, und die man infolgedessen zu unterdrücken und zu verbergen gelernt hat. Doch schon in den siebziger Jahren fand der Psychologieprofessor James Averill heraus, dass nicht nur jeder diese Gefühle kennt, sondern sie auch ziemlich häufig empfindet – oft sogar mehrmals täglich. Und dass sie, wenn man sie denn zum Ausdruck bringt, keineswegs zu der befürchteten Verschlechterung der zwischenmenschlichen Beziehungen führen, sondern in den meisten Fällen zu deren Klärung und Verbesserung.
Ärger und Zorn sind keine "negativen" Gefühle, sondern beziehungserhaltende
"In the vast majority of cases, expressing anger resulted in all parties becoming more willing to listen, more inclined to speak honestly, more accommodating of each other’s complaints. People reported that they tended to be much happier after yelling at an offending party. They felt relieved, more optimistic about the future, more energized. 'The ratio of beneficial to harmful consequences was about 3 to 1 for angry persons,' Averill wrote." (S. 65)
Sogar die Adressaten des Zornesausbruchs fanden ihn im Nachhinein zumeist hilfreich, weil er ihnen deutlich machte, dass etwas aus dem Takt war, und sie zwang, besser zuzuhören und ihr eigenes Verhalten zu überprüfen. Mehr als zwei Drittel von ihnen sagten, sie hätten eigene Fehler erkannt. Und sie berichteten, der Vorfall hätte ihre Beziehung zu der oder dem Betreffenden eher gestärkt als geschwächt; sie seien in ihrer Achtung eher gestiegen als gesunken.
"Anger, Averill concluded, is one of the densest forms of communication. It conveys more information, more quickly, than almost any other type of emotion. And it does an excellent job of forcing us to listen to and confront problems we might otherwise avoid." (a.a.O.)
Demnach sind Ärger, Zorn und Wut also doch keineswegs nur "negative Gefühle", die zu nichts gut sind und nur Schaden anrichten – oder bloße Konstruktionsfehler der Natur bzw. unnütze Überbleibsel der Evolution, die in der heutigen Zeit keinen Sinn und Nutzen mehr haben. Das allein wäre schon eine wichtige Erkenntnis, aber der brillante und glänzend geschriebene Artikel des Pulitzer-Preisträgers Charles Duhigg reicht weit darüber hinaus.
Permanenter, destruktiver Zorn wird zur Gefahr
Amerika war aus seiner Sicht schon immer eine zornige Nation, für die Kämpfe – auf Schlachtfeldern, in den Medien und an den Urnen – seit jeher eine bedeutende Rolle gespielt haben. "Recently, however, the tenor of our anger has shifted. It has become less episodic and more persistent, a constant drumbeat in our lives. It is directed less often at people we know and more often at distant groups that are easy to demonize." (a.a.O.)
Die direkte Feedbackschleife, die Averill als Dreh- und Angelpunkt der Beziehungsentlastung ausgemacht hat, ist damit unterbrochen: Da auf gesellschaftlicher Ebene keine Klärung zwischen den Betroffenen stattfindet, wirken Wutausbrüche nicht als reinigende Gewitter. Deshalb kommt es auch nicht mehr zu einer Katharsis; stattdessen baut sich der Zorn immer weiter auf. Wie in den Senatsanhörungen um den Richter Brett Kavanaugh beschuldigen und beschimpfen sich die gegnerischen Parteien aus der Distanz.
Dieser Zorn schlägt irgendwann in blanke Wut, Hass und Rachedurst um. Nach Duhiggs Überzeugung springt zu kurz, wer diese Entwicklung hauptsächlich auf die negative Ausstrahlung Donald Trumps zurückführt. Für ihn ist Trump eher das Symptom einer Entwicklung, die weit über dessen Person hinausgeht. Deshalb schreibt er auch den schockierenden Satz: "We may be further down a path toward widespread violence than we realize." (S. 73)
Gerechter Zorn
Andererseits gibt es auch einen "gerechten Zorn", und der spielt eine wichtige Rolle für den Erfolg sozialer Bewegungen. Duhigg erläutert dies am Beispiel kalifornischer Weinerntehelfer. Das waren großteils illegale Migranten aus Mexiko und den Philippinen, meist ohne Englischkenntnisse, die dort in den sechziger Jahren unter katastrophalen Arbeitsbedingungen und für Hungerlöhne schufteten. Trotzdem war es den Gewerkschaften nicht gelungen, erfolgreiche Streiks für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu organisieren: Die Ausstände brachen zusammen, sobald die Arbeitgeber minimale Zugeständnisse machten und zugleich den Druck erhöhten.
In Duhiggs Augen lag das daran, dass der große Gewerkschaftsverband AFL-CIO das Problem ausschließlich als klassischen Lohnkonflikt definierte und seine Vielschichtigkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Erst als einer der Betroffenen namens Cesar Chavez den Konflikt umdeutete als Gegenwehr gegen die schreiende Ungerechtigkeit, die den Erntearbeitern widerfuhr, änderte sich das Bild, und es entstand die Energie für einen entschlossenen Kampf.
Chavez organisierte einen Marsch der Erntehelfer in die 300 Meilen entfernte Hauptstadt Sacramento. Während sich die Gewerkschaft über die Idee lustig machte, schlossen sich immer mehr Menschen dem Protestzug an. An Ostern 1966 zogen dann Zehntausende unter großer öffentlicher Anteilnahme in die Hauptstadt ein. Und setzten damit erhebliche Zugeständnisse durch.
Aber wenn man zur Durchsetzung von Veränderungen "gerechten" – oder gar "heiligen" (!) – Zorn mobilisiert, ist es eine nichttriviale Führungsaufgabe, die eigenen Leute von diesem Zorn wieder herunter zu holen, nachdem wesentliche Erfolge erreicht sind und sie davon abzubringen, auf Maximalpositionen zu bestehen. Nicht selten spalten sich soziale Bewegungen an dieser Stelle: Ein großer Teil gibt sich mit dem Erreichten zufrieden, während eine mehr oder weniger große Minderheit auf den Forderungen beharrt und sich damit unter Umständen heillos vereint.
Kommerzielle Nutzung des Zorns
"One reason that America is so angry is that anger works", stellt Duhigg trocken fest. "But it's power isn't reserved for the righteous." (S. 69) Dabei denkt er nicht nur an Populisten aller Schattierungen, die den Zorn anfälliger Bevölkerungsgruppen schüren und ausbeuten, sondern auch an dessen kommerzielle Ausschlachtung.
Im Umgang von Inkassofirmen mit säumigen Schuldnern hat es sich als überaus wirksam erwiesen, Ärger und Zorn strategisch einzusetzen, um die Adressaten gefügig zu machen. Der Trick dabei ist, die Schuldner mit gespieltem Zorne unter Druck zu setzen, aber auf Gegenaggressionen deeskalierend zu reagieren, um zu verhindern, dass das Gespräch aus dem Ruder läuft oder abgebrochen wird. Robert Sutton, ein Schüler Averills, untersuchte dieses Vorgehen in teilnehmender Beobachtung und kam zu dem Fazit: "It was incredibly effective. People would be so charged up from getting mad and then so relieved you weren't blaming them anymore, and so they'd agree to almost anything." (S. 70)
Doch Inkassofirmen sind keineswegs die einzigen, die Ärger und Zorn strategisch nutzen. So unterrichtet die Harvard Business School, wie man kalkulierten Ärger als Druckmittel in Verhandlungen einsetzen kann – und auch in der Unternehmensführung ist es eine bewährte Strategie, die eigenen Reihen durch die Mobilisierung von Zorn auf einen Wettbewerber zu schließen.
Im Fernsehen erweist sich der Zorn, der durch das Aufeinandertreffen sehr unterschiedlicher und zum Teil extremer Positionen ausgelöst wird, als Zuschauermagnet – was wiederum einigen ansonsten eher uninteressanten Personen das Geschäftsmodell eröffnet, als Dauergast von Talkshow zu Talkshow zu tingeln. Die billigend in Kauf genommene "Nebenwirkung" dieser Vermarktungsstrategie ist freilich, dass sich der Zorn der Zuschauer nicht mehr auflöst, sondern zum Dauerzustand wird: Zorn und Ärger über "diese Idioten" werden zum Lebensgefühl ganzer Bevölkerungskreise.
Die Social Media schlagen voll in diese Kerbe und tragen über ihre Echokammer-Kommunikationsstruktur zur Verfestigung und Vertiefung der allgemeinen Wut bei. Wobei die Nutzer längst herausgefunden haben, dass extreme Aussagen die meiste Aufmerksamkeit bringen. Zugleich sind diese Plattformen aber auch sehr effektive Instrumente, um öffentliche Proteste und Aufmärsche zu organisieren, gleich ob für gerechte oder für weniger gerechte Anliegen.
Doch die zynische strategische Mobilisierung von Ärger und Zorn dominiert: "If you can map an electorate's fears, and then turn those in anger by moralizing your opponent's sins, they'll show up at the polls", zitiert Duhigg den an der Harvard Kennedy School lehrenden Kampagnenmanager Steve Jarding (S. 71). Das dürfte auch einen guten Teil des Erfolgs von Donald Trump erklären: Vermutlich wurde er nicht gewählt, obwohl er so wutschäumend auftritt, sondern weil er so auftritt. Aber er ist keineswegs der einzige, der durch das Mobilisieren von Wut auf den politischen Gegner Punkte zu machen versucht.
Wut und Rachedurst
Eine neue Dimension bekommt die Sache, wenn Willkür (bzw. das Gefühl von Willkür) ins Spiel kommt. Dann verwandelt sich der Zorn in Wut, und es kommt das Bedürfnis nach Rache auf – gern kaschiert hinter dem Wunsch, der Gegenseite "eine Lektion zu erteilen", oder in der Verschärfung, "eine Lektion, die sie nicht so bald wieder vergessen wird". (Der vorgebliche pädagogische Anspruch löst sich in Luft auf, wenn man sich bewusst macht, dass es bei dieser "Lektion" letztlich um nichts anderes geht als darum, die Adressaten leiden zu lassen.)
Duhigg zitiert als Beispiel eine Studie, nach der entlassene Arbeiter, wenn sie den Eindruck hatten, die Entlassungen seien fair gehandhabt wurden, deutlich weniger dazu neigten, zu protestieren oder sich zu beschweren, selbst wenn sie mit dem Ergebnis nicht einverstanden waren. Wenn sie umgekehrt das Gefühl hatten, das Management sei willkürlich vorgegangen, hätte seine Lieblinge geschont und stattdessen missliebige Personen gefeuert, waren Sabotageakte deutlich wahrscheinlicher.
Welche Rolle die wahrgenommene Fairness spielt, zeigt sich nirgendwo besser als bei demokratischen Wahlen. Alle vier oder fünf Jahre entsteht dabei ja unweigerlich eine Situation, in der ungefähr die Hälfte der Bevölkerung tief enttäuscht ist. Trotzdem akzeptieren sie das Ergebnis, wenn sie das Gefühl haben, dass die Wahlen fair abgelaufen sind. Falls jedoch der Eindruck aufkommt, dass das Ergebnis manipuliert wurde, kippt die Stimmung schlagartig, und es kommen wütende Proteste auf, die in Gewalt und bürgerkriegsähnliche Zustände umschlagen können.
Deshalb ist es so brandgefährlich, wenn unterlegene Kandidaten oder Parteien grundlos Zweifel an der Fairness von Wahlen säen. Und deshalb ist es auch so brisant, wenn Ärger, Zorn und Wut immer mehr zum dominierenden Gefühl ganzer Gesellschaften werden:
"This is a scary place to be—for us as individuals, and for the nation as a whole. The ways in which anger is constantly stoked from every side is new, and the partisan divide that such anger fosters may have pushed us further down a path toward widespread violence than we realize. One recent working paper found that the more partisan people become, the more likely they are to rationalize violence against those they don’t agree with, to experience schadenfreude or moral disinterest when they see an opponent get attacked, and even to endorse physical assaults on other groups." (S. 74)
Nützliche Konfrontation mit dem eigenen Extremismus
Was lässt sich tun? Eines jedenfalls scheint ziemlich nutzlos: Den Wütenden ins Gewissen zu reden, um sie irgendwie von ihrem Trip herunterzuholen. Israelische Forscher hatten eine andere Idee, die auf den ersten Blick ziemlich grotesk erscheint. Sie setzten sich das ehrgeizige, ja geradezu aberwitzige Ziel, die Bewohner eines religiös-konservativ geprägten Vororts von Tel-Aviv davon zu überzeugen, ihren Zorn auf die Palästinenser zu überwinden und das Einfrieren des Siedlungsbaus in Gaza und der Westbank zu unterstützen.
Ihr Experiment gestalteten sie als Online-Werbekampagne – aber als eine, die den Einwohnern suggerierte, ihr Zorn sei völlig berechtigt, ja, im Grunde müssten sie noch wütender sein. Mit Unterstützung einer Werbeagentur schalteten sie Anzeigen wie: "Without [war] we wouldn’t have had heroes. For the heroes, we probably need the conflict", unterlegt mit Wagners Walkürenritt. Oder "Without [war] we would never be moral. For morality, we probably need the conflict", unterlegt mit "What a Wonderful World". Die Anzeigen erschienen über einen Sechs-Wochen-Zeitraum, unterstützt von Broschüren und Plakaten; laut einer Befragung hatten sie fast alle der 25.000 Einwohner gesehen. (Als Kontrollgruppe standen benachbarte Vororte reichlich zur Verfügung.)
Wie eine Meinungsumfrage in dem Vorort erbrachte, hatten erstaunlicherweise vor allem die Bürger mit besonders extremen Positionen ihre Haltung gemäßigt: "The percentage of right-leaning residents who said that Arabs were solely responsible for Israel’s past wars decreased by 23 percent. The number of conservatives who said Israel should be more aggressive toward Palestinians fell by 17 percent. Incredibly, even though the advertisements never mentioned settlements, 78 percent more people said that Israel should consider freezing construction in the West Bank and Gaza." (S. 75)
In den Nachbarorten hatten sich die Haltungen dagegen nicht verändert. Auch ein Jahr nach Ende der Kampagne, als sich die meisten Einwohner nicht mehr an die Anzeigen erinnern konnten, erbrachten Befragungen eine gewachsene Toleranz: "The campaign wasn’t a panacea, but it is among the most successful conflict interventions in contemporary social science." (a.a.O.)
Vermutlich war sie gerade deshalb so wirksam, meinte einer der Forscher, weil sie den Adressaten nicht sagte, dass sie Unrecht hatten, sondern ihre Positionen bestärkten und noch weiter zuspitzten – und ihnen auf diese Weise klarmachten, wie nahe sie extremistischen Positionen waren. Möglicherweise ost es ein heilsames Erschrecken, wenn wir unsere Nähe zu radikalen Positionen entdecken müssen.
An einem Scheideweg
Zur Halbzeit der von Zorn geprägten Trump-Präsidentschaft sieht Duhigg die USA an einem Scheideweg: Das Land müsse sich entscheiden, ob es so weitermachen wolle oder ob es sein Syndrom von Zorn, Wut und Hass als eine Krankheit verstehen will, die der Heilung bedarf. Zwar lassen sich Ärger und Zorn nicht abschalten, und sie zum Ausdruck zu bringen, kann, wie wir gesehen haben, sogar nützlich sein – nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Gesellschaft.
Dennoch, so Duhigg, muss man sich klarmachen, dass unser Zorn oftmals nicht zu unserem Nutzen angestachelt werde: "When we scrutinize the sources of our anger, we should see clearly that our rage is often being stoked not for our benefit but for someone else’s. If we can stop and see the anger merchants’ self-serving motives, we can perhaps start to loosen their grip on us." (a.a.O.)
Auf der anderen Seite hat der Zorn oft auch reale Gründe: "Yet we can’t pin the blame entirely on the anger profiteers. At the heart of much of our discontent is a very real sense that our government systems are broken." Wenn es richtig verstanden und genutzt wird, könne das verbreitete Unbehagen auch zu etwas Gutem führen: "Historically, this feeling has been at the root of some of America’s most important movements for change. Ours, too, could be a moment for progress, if we can channel our anger to good ends, rather than the vanquishing of our enemies." (a.a.O.)
Allerdings, meint Duhigg mit Martin Luther King, reiche es dafür nicht aus, zornig zu sein. King habe darauf aufmerksam gemacht, dass es keine Lösung sei, seine Gegner zu beschimpfen, um auf diese Weise Dampf abzulassen, und sich dann in eine selbstgefällige, passive Zufriedenheit zurückzuziehen: "The supreme task is to organize and unite people so that their anger becomes a transforming force." (a.a.O.)
Insgesamt ist dieser Artikel ein wichtiger Impuls – nicht nur für die USA: Auch bei uns in Europa sind ja Populisten aller Schattierungen unterwegs, die Angst vor den und Zorn auf "die anderen" schüren, um damit ihr eigenes Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Diese auffällige Häufung von Zorn, Wut und Populismus gerade in dem letzten Jahren dürfte auch mit einem Faktor zu tun haben, auf den Duhigg nicht eingeht, den aber der linker Umtriebe unverdächtige Fondsmanager Howard Marks in seinem Buch "The Most Important Thing" (Besprechung demnächst) herausarbeitet: Dass nämlich bei der Bewältigung von Finanzkrisen die Ungleichheit der Einkommensverteilung stark zunimmt, mit der Folge, dass nicht nur die Zahl der Armen wächst, sondern auch die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung dahinschwindet. Dieses Gefühl, dass es trotz aller Anstrengung immer mehr übrig bleibt, macht Menschen anfällig für Zorn – und damit für Populismus.
|