Umfassende Informationen und wertvolle Hinweise von einem wirklichen Fachmann, wie Gewalt entsteht und verläuft und wie man sich vor ihr schützen kann, indem man auf seine Intuition hört, Frühwarnsignale erkennt und geeignet reagiert.
Dieses Buch habe ich beim Aufräumen gefunden – und es dann gleich gelesen, was zwar das Aufräumen etwas aus dem Takt gebracht hat, aber trotzdem kein schlechtes Zeichen ist. Sein zentrales Thema ist, wie man sich vor Gewaltverbrechen schützen kann. Es bezieht sich in erster Linie auf die USA und die "amerikanischen Verhältnisse", aber viele seiner Gedanken und Empfehlungen lassen sich entweder direkt oder mit leichten Anpassungen auch auf Mitteleuropa übertragen.
Gavin de Becker ist ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet. Er gehörte zu Präsident Reagans Zeiten dem Expertenstab des US-Justizministeriums an und leitet seit vielen Jahren seine eigene Sicherheitsfirma, die unter anderem den CIA, die Polizei von Los Angeles und zahlreiche Prominente berät. Vor allem aber hat er offenkundig unendlich viel Erfahrung mit den unterschiedlichsten Gefährdungssituationen, und er hat sie gedanklich sehr klar durchdrungen, ohne sich im Geringsten von konventioneller Weisheit beeindrucken zu lassen.
Auf die eigene Intuition achten und ihr vertrauen
Doch obwohl er ein glasklarer Denker ist, mahnt er immer wieder dringend, in Gefahrensituationen auf seine Intuition zu hören und ihr zu vertrauen – eine Empfehlung, der ich mich auch als bekennender Intuitionsskeptiker anschließend kann. Denn hier kommt die Intuition auf einem Feld zum Einsatz, für das uns die Evolution über Zehntausende von Jahren vorbereitet hat, nämlich zum Schutz unserer eigenen physischen Sicherheit und damit unseres Überlebens.
Auch wenn wir heute unter ganz anderen Umständen leben als unsere Vorfahren, ging doch damals wie heute eine wesentliche Bedrohung für Leib und Leben von anderen Menschen aus. Darin hat sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil: Da andere Gefahrenquellen wie Säbelzahntiger an Bedeutung verloren haben, ist ihre relative Bedrohlichkeit sogar gestiegen.
Auch wenn er den Begriff nicht explizit definiert, passt de Beckers Verständnis von Intuition perfekt zu der Definition von Herbert A. Simon, auf die auch ich mich stütze: "Intuition is nothing more and nothing less than the recognition of patterns stored in memory." Dementsprechend geht er, wenn er konkrete Intuitionen zu verstehen sucht, immer der Frage nach, welche konkreten Beobachtungen und Hinweisreize seine Mandanten wahrgenommen haben, die in einer bestimmten Situation ihre Angst auslösten. Das heißt, auch nach seinem Verständnis ist Intuition keine geheimnisvoll aus unserem tiefsten Inneren aufsteigende Eingebung, sondern das Erkennen und Interpretieren realer Wahrnehmungen.
Nach de Becker wissen wir oft mehr als wir zu wissen glauben, auch wenn uns die Hinweise, die wir da intuitiv registriert haben, oft selbst nicht bewusst sind und wir keinen Zugang zu ihnen haben. Um an dieses unbewusste Wissen heranzukommen, nutzt er im Gespräch sogenannte Satelliten, das heißt scheinbar nutzlos in der Schilderung herumschwirrende, scheinbar unnötige Einzelheiten und Details, die mit der eigentlichen Sache nichts zu tun zu haben scheinen – und die dennoch erwähnt werden, weil sie für den Erzählenden in irgend einem unerkannten Zusammenhang mit seiner Aussage stehen.
Weil er der Überzeugung ist, dass die Intuition in der Regel gute Gründe hat, wenn sie anschlägt, hält er es für fatal, wenn wir uns in solchen Fällen innerlich zur Ordnung rufen, ihre Signale angestrengt abwehren und uns einzureden versuchen, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gebe. Doch die Versuchung zu einer solchen falschen Selbstberuhigung kann sehr stark sein, weil unter Umständen viele "objektive Fakten" dem unguten Gefühl zu widersprechen scheinen. Aber man kann sich nicht nur eine Gefahr einbilden, man kann sich auch vormachen, dass keine bestünde.
Konkrete Angst von Befürchtungen unterscheiden
Hilfreich finde ich de Beckers Unterscheidung von Ängsten und Befürchtungen: Während Angst die emotionale Reaktion auf eine konkrete und akute wahrgenommene Bedrohung ist, sind Befürchtungen bloße Produkte unserer Fantasie: Keine Reaktion auf das, was gerade real stattfindet, sondern ein bloßes – und zumeist wenig produktives – Spekulieren darüber, was passieren könnte. Deshalb stellt er trocken fest: "Allein die Tatsache, dass Sie etwas befürchten, ist solider Beweis dafür, dass es im Augenblick nicht stattfindet."
De Becker hält es sogar für schädlich und gefährlich, sich ständig mit allen möglichen Befürchtungen zu quälen. Abgesehen davon, dass das kaum gesund sein kann, blockiert es auch unsere Wahrnehmungskanäle für reale Gefahren. Denn wenn wir sowieso ständig alarmiert sind, ist es schwierig, überhaupt noch Alarm auszulösen. Und die permanente Beschäftigung damit, was alles passieren könnte, überlagert und verdeckt möglicherweise ganz reale Anzeichen für Gefahr.
"Innere Unruhe, Besorgnis, Befürchtungen sind etwas, was wir selbst herstellen – es gibt sie nicht an sich", stellt de Becker fest (S. 385). Selbstverständlich habe jede/r das Recht, beliebige Befürchtungen zu entwickeln, aber er/sie sollte sich dabei bewusst sein, dass dies seine oder ihre eigene Wahl ist. Meistens hätten Befürchtungen einen versteckten psychologischen Nutzen, arbeitet er geradezu individualpsychologisch ihre Finalität, also ihren Sinn und Zweck heraus:
- "Befürchtungen dienen dazu, Veränderungen auszuweichen", sprich, sie liefern Ausreden, weshalb der Schritt, der eigentlich anstünde, zu gefährlich ist.
- "Befürchtungen dienen dazu, unsere Machtlosigkeit (…) nicht zugeben zu müssen" – sie wecken den Anschein von Tätigkeit, sind aber keine.
- "Befürchtungen und Sorgen sind eine besonders überladene Art der Beziehung zu Menschen, dahinter steht der Gedanke, dass die Sorge um jemanden ein Beweis der Liebe ist." Doch, so meint de Becker trocken, den meisten Adressaten wäre wohl das Erleben von Liebe wertvoller als dieser "Beweis".
- "Befürchtungen dienen auch als eine Art Versicherung gegen zukünftige Enttäuschungen" (alle Zitate S. 386). Sie kalibrieren sozusagen die Erwartungen nach unten, damit einen die befürchtete Entwicklung, so sie denn eintritt, nicht mehr so hart trifft. Und wenn sie dann doch ausbleibt, ist das eine positive Überraschung.
Mit Daniel Goleman meint de Becker, Befürchtungen seien so etwas wie ein "magisches Amulett", mit denen man Gefahren fernzuhalten hofft. Doch seine Haltung ist da glasklar: "Nach all den Jahrzehnten, in denen ich mit Befürchtungen und Sorgen aller Art konfrontiert wurde, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass sie dem Menschen wesentlich mehr schaden als ihm dienlich sind. Sie verhindern klares Denken, vergeuden Zeit und verkürzen das Leben." (S. 387)
Signale der Gefahr
Ausgesprochen nützlich finde ich die "Signale der Gefahr", die de Becker im vierten Kapitel aufzählt. Aus ihnen lässt sich frühzeitig erkennen, dass jemand Böses im Schilde führt:
- Erzwungene Gemeinsamkeit, wie zum Beispiel durch ein vereinnahmendes "Wir";
- Charme und Nettigkeit, die als Instrumente der "Entwaffnung" eingesetzt werden (können), weil der Adressat bzw. die Adressatin sich kaum gegen sie abgrenzen kann, ohne grob unhöflich zu erscheinen;
- Zu viele Details, die oft ein Ausdruck davon sind, dass der Akteur seine Geschichte selbst nicht so recht traut, und sie deshalb durch die unnötigen Einzelheiten glaubhafter machen will;
- Rollenfestlegung (oder negative Etikettierung), bei der der böse Bube seinem designierten Opfer eine negative Eigenschaft zuschreibt, wie zum Beispiel Vorurteile gegenüber einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, um es dadurch dazu zu nötigen, dieses falsche Bild durch sein praktisches Verhalten zu widerlegen – und sich damit dem Akteur weiter auszuliefern;
- Wucherer, die ihr Gegenüber durch eine unerbetene Gefälligkeit zu verpflichten suchen und dafür später auf eine überproportional hohe Gegenleistung drängen;
- Unerbetene Versprechen, die dem Opfer eine trügerische Sicherheit suggerieren, aber keinerlei Verbindlichkeit bieten. Sie sind für de Becker "eines der sichersten Signale (…) für fragwürdige Motive" (S. 91);
- Das Überhören des Wortes Nein, das die Nachgiebigkeit des Opfers austestet und für de Becker deshalb klar zeigt, "dass jemand entweder die Kontrolle haben möchte oder aber sich weigert, sie aufzugeben" (S. 93). Hier nachzugeben, heißt somit, ein Entgleiten der Situation zu riskieren.
Solche übergriffigen Handlungen lösen bei ihren Adressaten in aller Regel Unbehagen, Beklemmung und eine wachsende Besorgnis aus, doch oft wagen sie nicht, sich deutlich dagegen zu verwahren, weil der betreffende "ja so nett und hilfsbereit ist" (!!) und sie ihn deshalb nicht vor den Kopf stoßen und/oder nicht unhöflich erscheinen wollen. In solchen Fällen ist man daher gut beraten, auf das eigene "Bauchgefühl" zu hören und weniger auf die Wahrung der Form als auf die eigene Sicherheit Wert zu legen.
Auch Verwunderung, Irritationen und Misstrauen sind Warnsignale, die de Becker ernst zu nehmen rät. Ebenfalls ein Warnsignal, wenn auch ein ganz anderes, ist nach seinen Worten schwarze Humor. Er ist letztlich nichts anderes als die humoristische Einkleidung einer unguten Vorahnung bzw. aufkommenden Befürchtung. So gibt es neben den Gefahrensignalen im Verhalten anderer auch einen Kanon von Warnsignalen im eigenen Empfinden und Befinden.
Gewalttätigkeit vorhersehen – Risikoprognosen
Zu de Beckers Job gehört es auch, die Gewaltbereitschaft von Menschen (bzw. in aller Regel die von Männern) vorherzusagen – eine Prognose, bei der man als Chef einer Sicherheitsfirma lieber keine Fehler machen möchte. Wie er herausgefunden hat, gibt es eine Reihe von Kriterien, die eine ziemlich gute Vorhersage ermöglichen. Sie lassen sich systematisch einschätzen und mit Punkten bewerten.
Das genaue Verfahren ist nach seinen Worten für private Zwecke zu komplex, aber die zentralen Gedanken lassen sich ohne Weiteres übernehmen. Es geht dabei um vier zentrale Kriterien:
- J Justification: Die erste Schlüsselfrage ist, ob sich eine Person berechtigt fühlt, Gewalt anzuwenden, sei es aus Zorn und spontaner Wut heraus oder weil man im Recht ist und das Handeln der Gegenseite als verwerflich ansieht.
- A Alternatives: Das zweite wichtige Prüfkriterium ist, ob die handelnde Person für sich zielführende Handlungsalternativen zur Gewaltanwendung sieht. Da menschliches Verhalten immer zielgerichtet ist, steigt die Wahrscheinlichkeit von Gewalt, wenn dem (oder der) Betreffenden keine anderen Handlungsstrategien zu Verfügung stehen, um ihre Ziele zu erreichen.
- C Consequences: Vor jedem Handeln steht eine – zumindest kurze – Abwägung von positiven und negativen Konsequenzen dieses Handelns. Wenn die positiven Konsequenzen die negativen überwiegen, steigt die Wahrscheinlichkeit von Gewaltanwendung.
- A Ability: Die vierte Schlüsselfrage ist, ob jemand subjektiv der Überzeugung ist, dazu in der Lage zu sein, Gewalt erfolgreich einzusetzen, etwa weil er eine Waffe besitzt oder körperlich überlegen ist. Falls ja, steigt ebenfalls die Wahrscheinlichkeit von Gewaltanwendung.
Weiter befasst sich Gavin de Becker in seinem umfassenden Werk auch mit Morddrohungen, Stalkern und Besessenen, mit Geltungsbedürftigen ("Lieber von der Polizei gesucht als gar nicht wahrgenommen") und der besonderen Gefährdung von Prominenten.
Offenbar gibt es eine beängstigend hohe Zahl von Menschen, die sich größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit und möglicherweise eine immerwährende "Bedeutung" dadurch sichern wollen, dass sie eine prominente Persönlichkeit töten. Dabei kooperieren sie auf im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Weise mit den Medien, die zahlreiche Prominente, wann immer sie ihr geschütztes Haus oder Büro für öffentliche Auftritte verlassen, rund um die Uhr auf Video aufzeichnen lassen, nur um für den Fall des Falles Bilder und Filme "live vom Tatort" verfügbar zu haben.
Denjenigen, die auf diese Weise auf "Unsterblichkeit" spekulieren, könnte man mühelos jeden Anreiz nehmen, in dem man konsequent auf jede Bildberichterstattung vom Tatort und erst recht auf jede namentliche Nennung des Täters verzichtet. Aber das wäre gegen die wirtschaftlichen Interessen der betreffenden Medien; also bieten sie den Tätern, wonach sie gieren, nämlich maximale Aufmerksamkeit und "Berühmheit". Sollte man da nur vom Beihilfe oder von Mittäterschaft sprechen? Die "niedrigen Beweggründe", die laut Strafgesetzbuch ein Tatbestandsmerkmal von Mord sind (" aus Habgier"), dürften jedenfalls gegeben sein.
Die größte Gefahr ist das eigene Umfeld
Doch so spektakulär solche Zusammenhänge sind, für die meisten von uns Normalbürgern und – vor allem – Normalbürgerinnen sind andere Gefahren weitaus bedrohlicher. Für die meisten Menschen –insbesondere für Frauen und Kinder – ist das Risiko, durch wildfremde Menschen erheblich verletzt, vergewaltigt oder ums Leben gebracht zu werden, weitaus geringer als das, ein derartiges Schicksal durch den engsten Kreis von Verwandten oder (gut) Bekannten zu erfahren.
Leider kommt man in diesem Zusammenhang auch nicht um die Feststellung herum, dass wir Männer in Bezug auf körperliche Gewalt zwar nicht das alleinige Problem, aber doch unzweifelhaft und mit weitem Abstand das größte Problem sind.
Auch wenn die Genderdebatte es naheliegt, von Mörderinnen und Mördern, Gewalttäterinnen und Gewalttätern, Vergewaltigerinnen und Vergewaltiger anzusprechen, wahlweise mit Sterndl oder Binnen-I, spricht die Statistik hier klar gegen jede Gender-Neutralität. Zwar ist es nicht so, dass es überhaupt keine Mörderinnen, Gewalttäterinnen oder Vergewaltigerinnen gäbe, aber die Häufigkeitsverteilung spricht leider klar und eindeutig gegen uns Männer.
Empfehlenswerte Lektüre
Insgesamt finde ich "Vertraue deiner Angst" ein sehr wertvolles Buch – nicht nur, aber besonders für Frauen. Für Männer ist eines der Dinge, die man aus diesem Buch lernen kann, wenn man dazu bereit ist: Dass Frauen, gleich ob in den USA oder bei uns oder sonstwo auf der Welt noch in einem ganz anderen Ausmaß als wir Männer von physischer Gewalt bedroht sind und dass viele von ihnen deshalb auch mit einer anderen Haltung und Wahrnehmung durchs Leben gehen – sowohl in der Familie als auch im Bekanntenkreis als auch im Umgang mit Fremden und der Öffentlichkeit.
Deswegen muss man sich als Mann nicht zu einem schlechten Gewissen genötigt fühlen, wenn das eigene Verhalten dazu keinen Anlass bietet, aber man sollte es wissen und sich dessen bewusst sein. Denn es erklärt wohl auch manche irritierende Reaktion, die man von Frauen erleben kann, und hilft, sie nicht zu persönlich zu nehmen. Und vielleicht hilft es manchmal sogar, sich etwas empathischer zu verhalten und nicht selbst unbeabsichtigt zum Stressor zu werden.
Doch das Buch ist mehr als nur ein Sensibilitätstraining. Auch als Mann erlebt man ja zuweilen Situationen, in denen man zumindest ein mulmiges Gefühl hat, sprich, sich konkret bedroht fühlt. Oder aus denen man nur mit einem oder mehreren blauen Augen hervorgeht: Männer sind eben nicht nur Täter, sondern auch potenzielle Opfer.
Bei allem, was beunruhigend ist, habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass es mir mehr hilft, möglichst genau hinzuschauen. Stressentlastung entsteht nicht aus Verleugnung, sondern nur aus einer Auseinandersetzung mit der Quelle der Bedrohung, und zwar idealerweise anhand fundierter Informationen und klarer, geordneter Gedanken. Dabei ist dieses Buch eine große Hilfe.
Die Neuauflage von 2016 unterscheidet sich von der vor 17 Jahre erschienenen deutschen Originalausgabe (damals unter dem Titel "Mut zur Angst"), soweit ich festgestellt habe, nur durch drei relative Nebensächlichkeiten: Durch eine Vorbemerkung, in der de Becker zum Thema Internet anmerkt, dass es neue Kommunikationskanäle eröffnet, aber ansonsten an der Sachlage nichts ändere (was ich bezweifle); durch einen aktualisierten Text über de Beckers Sicherheitsfirma im Anhang sowie durch eine runderneuerte Liste deutscher Referenzadressen für akute und potenzielle Gewaltopfer.
Am Text selbst hat sich gegenüber 1999 nichts Erkennbares verändert. Selbst die Schreibfehler der ersten Ausgabe sind stehengeblieben.
|