Kann man von militärischen Führungsprinzipien für die Unternehmensführung lernen? Zu meiner Überraschung ja – verblüffenderweise ausgerechnet über Empowerment sowie darüber, wie man Menschen ermutigt und ihnen eine verlässliche Orientierung gibt.
Es ist schon kurios, wenn ausgerechnet ein Brite den Blick eines Deutschen auf die preußische Armee grundlegend verändert – erst recht, wenn dieser Brite ein alter Bekannter ist. Stephen Bungay, der ausgezeichnet Deutsch spricht, war genau wie ich viele Jahre bei der Boston Consulting Group; Anfang der neunziger Jahre kam er im Rahmen eines Programms zur besseren Vernetzung der europäischen BCG-Büros für einige Jahre von London nach München, und wir arbeiteten in der BCG-internen Praxisgruppe Organisation zusammen. Nach meinem Weggang vom BCG verloren wir uns aus den Augen.
Kurz vor Weihnachten 2018 machte mich ein begeisterter Kunde auf dieses Buch aufmerksam – und im Gespräch stellte sich heraus, dass es von meinem alten Ex-Kollegen Stephen Bungay stammt. Nur dieser Konstellation ist diese Besprechung zu verdanken – ansonsten wäre ich kaum auf die Idee gekommen, ein Buch in die Hand zu nehmen, das aus militärischen Konzepten Empfehlungen für die Unternehmensführung ableiten will. Doch ich muss sagen, es hat sich gelohnt: Ich habe nicht nur etwas gelernt, ich habe deutlich mehr als erwartet gelernt.
Was kann man vom Militär fürs Business lernen?
Da ich Stephen Bungay kenne, war ich sicher, dass er seine Leser mit ebenso dümmlichen wie abwegigen Gleichsetzungen à la "Business is War" verschonen würde. Im Business geht es gerade nicht darum, Feinde zu besiegen, unter bewusster Inkaufnahme eigener Verluste (wobei der Begriff "Verluste" verschleiert, dass Generäle dabei nur einen Teil ihrer Soldaten verlieren, die Soldaten aber ihr einziges Leben, und deren Eltern ihre Kinder).
Vielmehr geht es im Geschäftsleben darum, das eigene Unternehmen mit einer klugen Strategie in einem Wettbewerbsumfeld voranzubringen – und zwar ohne Verlust, unter konsequenter Wahrung und Mehrung des Unternehmenswerts. Wer als Unternehmenschef meint, Krieg spielen zu müssen, und dafür auch substanzielle Verluste in Kauf nimmt, dem wird der Aufsichtsrat alsbald Gelegenheit geben, nach seiner Ablösung noch wesentlich mehr Zeit mit seinen Kriegsfantasien zu verbringen.
Doch auch wenn solche platten Denkmodelle von Stephen Bungay nicht zu befürchten waren, hatte ich keine Vorstellung, was mich stattdessen erwarten würde. Und das blieb auch in den ersten beiden Kapiteln so, in denen Bungay einige normal-verfahrene Managementsituationen beschreibt, die so oder so ähnlich wohl jeder schon erlebt hat, der einige Jahre mit Unternehmensführung zu tun hatte.
Er arbeitet darin drei "Gaps" heraus, die nach seinen Worten im Business – und auch in der Armeeführung – regelmäßig wiederkehren, nämlich
- das "Knowledge Gap", sprich die Differenz zwischen dem, was wir tatsächlich wissen, und dem, was wir gerne wissen würden;
- das "Alignment Gap", sprich, der Unterschied zwischen dem, was wir wollen, dass die Leute tun, und dem, was sie tatsächlich tun;
- das "Effects Gap", sprich, der Unterschied zwischen dem, was wir uns von unseren Aktionen versprechen, und dem, was sie tatsächlich bewirken.
Die natürliche Reaktion auf diese drei Gaps ist, erstens mehr Informationen zu wollen, zweitens immer minuziösere Anweisungen zu geben und drittens die Kontrollen – Verzeihung, das Controlling mit immer weiteren Messgrößen zu verschärfen. Doch diese Lösungsversuche gehen nach hinten los, sagt Bungay: "These natural reactions do not simply fail to solve the problem, they make it worse." (S. 49) Die Suche nach zusätzlichen Informationen bringt das Handeln zum Stillstand, und immer detailliertere Anweisungen und Kontrollen werden zum Motivationskiller: "Controls add to cost, slow things down further, and increase rigidity. (…) Commitment is replaced by compliance, energy is sapped, and moral declines. The end result is a slow, expensive robot." (S. 49)
Gegen diese Analyse lässt sich nicht viel sagen, das ist plausibel, aber doch auch recht abstrakt und irgendwie keine bahnbrechende neue Einsicht – ich konnte nicht erkennen, worauf Stephen damit hinaus wollte: Der Funke war noch nicht übergesprungen.
Eine neue Führungsphilosophie
Das änderte sich im dritten Kapitel "Elements of a Solution", das Bungay mit der vernichtenden Niederlage der preußischen Armee gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt anno 1806 beginnt. Nach seiner Analyse war dies die Niederlage eines überholten Führungsmodells gegen die ersten Umrisse eines modernen: Die alte preußische Armee war mit brachialen Methoden auf sklavischen Gehorsam getrimmt, und eine wesentliche Aufgabe der Offiziere bestand nach Bungays Worten darin, die Soldaten am Desertieren zu hindern.
Im Gegensatz dazu war Napoleons Armee schlecht ausgebildet, aber von patriotischer Begeisterung beseelt – und sie verstand es, aus der Not eine Tugend zu machen. Da die Befehlskette nicht funktionierte, mussten sich die Einheiten vor Ort auf ihre eigene Einschätzung der Situation und ihre eigenen Ideen verlassen, und das taten sie offenbar sehr erfolgreich: Statt sich auf das Spiel der in Reih und Glied angetretenen preußischen Armee einzulassen und ihr in ähnlicher Formation entgegenzutreten, manövrierten sie sie mit improvisierten Taktiken nach allen Regeln der Kunst aus.
In gängigen Managementphrasen würde man hier von "Musterbrechen" sprechen – aber Bungay hält sich mit solchen Plattitüden nicht auf, sondern arbeitet Schritt für Schritt die dahinterstehende, sich damals erst in Umrissen abzeichnende neue Führungsphilosophie heraus. Ihr Kerngedanke ist, dass es prinzipiell unmöglich ist, von einer zentralen Stabsstelle aus die konkrete Gefechtslage vor Ort so genau vorherzusehen, dass situationsadäquate Befehle gegeben werden können. (In diesem Kontext steht Moltkes berühmter Satz, wonach jede Strategie nur bis zur ersten Feindberührung hält – und dass danach blanke Improvisation herrscht ["ein System der Aushülfen"].)
Was sich Carl von Clausewitz als Lösung für dieses Problem ausdachte, war eine Revolution (nicht nur) der militärischen Führung: Nach seiner Analyse konnten nur die Einheiten vor Ort selbst die Lage analysieren und entscheiden, was zu tun ist. Der Generalstab solle sich hüten, den Leuten vor Ort detaillierte Vorgaben zu machen, was sie tun oder unterlassen sollen; er kann nur die übergeordneten Ziele und die Strategie vorgeben – das jedoch kann und muss er auch tun.
Ein grundlegend anderes Menschenbild
Das war glasklar und konsequent gedacht – aber es stellte das bisherige Verständnis (nicht nur) von militärischer Führung auf den Kopf. Entsprechend erbittert und zäh waren die Widerstände – und entsprechend schwer fällt es auch heute noch nicht nur Militärs, sondern auch vielen Managern, sich auf das Vorgeben der großen Richtung zu beschränken und sich aus den operativen Details herauszuhalten.
Dieses Führungsverständnis mutet auch heute noch, 200 Jahre nach Clausewitz, höchst modern an (und ist auch 2019 in vielen Firmen noch weit davon entfernt, praktische Realität zu sein). Um es realisieren zu können, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss das Personal vor Ort qualifiziert sein, die Situation vor Ort richtig einzuschätzen und geeignete Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, zweitens muss es die Strategie und seine Rolle darin verstehen – und drittens müssen die Vorgesetzten die Bereitschaft und Fähigkeit besitzen, so zu führen.
Wie groß die Zumutung war, mit der Clausewitz das preußische Offizierskorps des frühen 19. Jahrhunderts konfrontierte, wird klar, wenn man sich bewusst macht, welch fundamentaler Gegensatz zwischen dem Menschenbild hinter dem traditionellen Führungsverständnis des preußischen Militärs und seinen damals neuen Ideen bestand. Mit ungebildeten, willenlosen Befehlsempfängern, die darauf konditioniert waren, die eigenen Offiziere mehr zu fürchten als die feindlichen Kugeln, war an eine intelligente Umsetzung der Strategie vor Ort überhaupt nicht zu denken.
Um so führen zu können, muss man Vertrauen und Zutrauen zu den Leuten an der Front haben: Man muss überzeugt sein, dass sie die Strategie tatsächlich umsetzen wollen, statt nur ihre Haut zu retten und/oder sich einen faulen Lenz zu machen, und man muss ihnen die dafür erforderlichen Fähigkeit zutrauen. Das ist ein frühes Vorecho von McGregors Theorie X vs. Theorie Y – und es ist aufschlussreich, dass es auch 200 Jahre später noch allzu oft genau an dieser Frage des Menschenbilds scheitert.
Wer Initiative fördern will, darf Fehler nicht bestrafen
Auch der General-Feldmarschall Helmuth Graf von Moltke sah das eigenverantwortliche Denken und Handeln der Mannschaften vor Ort als zentrales Erfolgsprinzip an, im vollen Bewusstsein, dass dabei auch Fehler vorkommen würden – oder genauer: Entscheidungen, die sich später, im Lichte besserer Informationen und vor allem in Kenntnis des Ergebnisses als falsch herausstellen. Und er warnte nachdrücklich davor, solche aus dem Rückblick falschen Entscheidungen zu hart zu brandmarken oder gar zu bestrafen. Denn dadurch würde man den Leuten nur jeden Mut zu raschen und beherzten Entscheidungen unter Ungewissheit nehmen.
"Fear of retribution should not curb the willingness of subordinates to exercise their judgement. In the confusion and uncertainty of war, people who do so take risks. That must be accepted. The outcome of decisions involves luck and chance." (S. 58) Mit anderen Worten, unter geringfügig anderen Umständen hätte die Sache auch anders ausgehen können, und dann wären sie die Helden gewesen. Es ist ebenso billig wie kontraproduktiv, Entscheidungen in Kenntnis des Ergebnisses zu be- und zu verurteilen: Es ist das, was man in der Chirurgie "postmortale Klugscheißerei" nennt.
Das ist ein hochmoderner Gedanke, der auch heute noch in jedem Führungsratgeber Platz verdient hätte – und mit dem sich auch heute noch die allermeisten Führungskräfte bis hinauf ins Top-Management schwer tun: Wer möchte, dass die eigenen Leute auch unter Stress eigenverantwortlich und mutig handeln, muss die dabei unvermeidlich entstehenden Fehler akzeptieren. Je schärfer er sie tadelt und je mehr er ein Drama aus ihnen macht, umso mehr hintertreibt er, was er angeblich fördern möchte. Denn die Leute werden sich hüten, Entscheidungen zu treffen, wenn sie damit rechnen müssen, dafür hinterher in den Senkel gestellt zu werden.
Was man von den nachgeordneten Ebenen jedoch erwarten kann und muss, ist, sich an die übergeordnete Strategie, an die ihnen vorgegebenen Ziele und die gesetzten Rahmenbedingungen halten. Das Resultat ist ein völlig neues Verständnis von Disziplin: Danach wäre Disziplin nicht blinder Gehorsam, sondern aktives Mitdenken und eigenständiges Handeln. "For junior officers, discipline means being ready to act on your own initiative in line with the will of your commander." (S. 60)
"Selbstständig denkender Gehorsam"
Als Voraussetzung dafür verlangte von Moltke von den Kommandeuren, nicht mehr vorzugeben als zwingend erforderlich und nicht weiter zu planen, als sie vorhersehen konnten. Denn im Krieg änderten sich die Umstände schnell, dementsprechend ist es äußerst unwahrscheinlich, dass eine detaillierte Planung zu der späteren Realität passt. Solche Detailvorgaben seien nicht nur nutzlos, sondern untergrüben das Selbstvertrauen der Truppe und erzeugten Unsicherheit, wenn sich die Dinge anders entwickelten als angenommen.
Ein Kommandeur, der sich in operative Details einmische, mache sich in der Regel etwas vor, wenn er glaube, damit etwas Positives zu bewirken. In Wirklichkeit nähme er nur seinen Leuten ihre Aufgabe aus der Hand, statt sich um seine eigenen zu kümmern. Die bestünden darin, ein möglichst klares Bild von der Lage zu behalten, statt seine Leute damit zu verunsichern, dass er ihnen ins Lenkrad greift.
"Having issued some warnings about what not to do, von Moltke formulates his positive guidance on giving direction as follows: 'The higher the level of command, the shorter and more general the order should be. The next level down should add whatever further specification it feels to be necessary, and the details of execution are left to verbal instructions or perhaps a word of command. This ensures that everyone retains freedom of movement and decision within the bounds of their authority.'" (S. 61)
Mit diesem Führungsmodell überbrückt Moltke alle drei Gaps, die Bungay herausgearbeitet hat: Das Knowledge Gap reduziert er, indem er sich von der Hoffnung auf zentrales Vorausdenken verabschiedet und empfiehlt, nicht mehr zu planen, als planbar ist; alles Weitere überlässt er der Beurteilung und Entscheidung der Verantwortlichen vor Ort. Dementsprechend musste die oberste Führung nur noch mit der groben Richtung richtig liegen; alles Weitere lag in der Verantwortung der operativen Einheiten.
Das Alignment Gap verringert er über einen Kaskadierungsprozess, bei dem jede Ebene tiefer ins Detail geht, aber alle auf eine gemeinsame Strategie verpflichtet sind. Und das Effects Gap versucht zu schließen, indem er die unteren Ebenen zur Eigeninitiative im Rahmen der übergeordneten Intention ermutigt. Um dies zu erreichen, ist der Verzicht auf Sanktionen für Fehlentscheidungen so wichtig.
Ein immer noch revolutionäres Führungsmodell
Die Tragweite dieses Modells ist kaum zu unterschätzen. Wie Bungay zu Recht hervorhebt, bedeutet es den Abschied von einem Denkmodell, nach dem ein (im Idealfall) genialer, geradezu hellsichtiger Oberkommandierender willenlose Kampfmaschinen von zum Sieg führt. Stattdessen den Aufbau setzt er auf eine intelligente Organisation, in der eigenverantwortliche Teams und Individuen vor Ort das Beste aus der vorgefundenen Situation machen, wie auch immer sie sich darstellen mag, und sich dabei an der übergeordneten Linie ausrichten.
Dabei – und das ist nicht nur historisch neu, sondern auch für das heutige Führungsverständnis revolutionär – haben die unteren Ebenen nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, von Vorgaben abzuweichen, wenn die entweder aufgrund veränderter Umstände keinen Sinn mehr ergeben oder – welch gotteslästerlicher Gedanke! – von vornherein untauglich waren. Auch in unseren ach so modernen Zeiten muss man das zweimal lesen, bis man sicher ist, dass man dieses über 150 Jahre alte Führungsprinzip tatsächlich richtig verstanden hat.
Noch mal, weil es so wichtig war: Die nachgeordneten Ebenen sind gehalten (!), in der akuten Gefechtssituation von erteilten Befehlen abzuweichen, wenn sie dies in der gegebenen Lage im übergeordneten Interesse für sinnvoll halten. Dabei dürfen sie natürlich nicht aus der Strategie ausbrechen, sondern müssen sich an der übergeordneten Absicht orientieren: "The intention was binding, the task was not." (S. 71) Die Leitfrage ist dabei: Was würde unser Vorgesetzter wollen, dass wir in dieser unerwarteten Situation tun?
Donnerwetter, von Moltke, möchte man da ausrufen, Sie haben Empowerment vor 150 Jahren besser durchdrungen als viele unserer Zeitgenossen heute! Auch wenn Sie es unglücklicherweise mit der altväterlich klingenden Bezeichnung "selbständig denkender Gehorsam" belegt haben. Aber ich verstehe, dass Sie damit Ihr Offizierskorps beruhigen mussten, von dem viele wohl den Ausbruch von Chaos und Anarchie fürchteten. (Wir erleben solche Diskussionen ja auch heute noch …)
Briefing und Backbriefing – die Schlüssel zur Umsetzung
Nachdem Bungay auf diese Weise im dritten Kapitel das Herzstück des preußischen Führungsmodells vorgestellt hat, befasst er sich in den drei folgenden Kapiteln damit, wie die drei Gaps im Einzelnen überbrückt werden können und wie sich das auf das Geschäftsleben übertragen lässt. Am wichtigsten finde ich dabei, was er im fünften Kapitel über das Überbrücken das Alignment Gaps durch "Briefing and Backbriefing" schreibt.
Denn ein zentrales Problem, dass offensichtlich nicht nur viele Vorstände haben, sondern auch das Militär, ist, sowohl die mittleren Führungsebenen als auch die gesamte Organisation dazu zu bewegen, die festgelegte Strategie in die Tat umzusetzen. In vielen Fällen scheitert dies gar nicht daran, dass die Leute nicht wollen, sondern dass der Organisation die Übersetzung der Intentionen des Top-Managements in das operative Handeln nicht gelingt.
Dass die Mannschaften nicht mitziehen, wenn der Vorstand eine neue Strategie ausgerufen hat, ist sehr häufig kein Widerstand, sondern "nur" Ausdruck der Tatsache, dass sie nicht verstehen, was sie konkret tun sollen. Das heißt, es ist letztlich ein Verständigungsproblem. Dementsprechend ist es nicht durch eine Erhöhung des Drucks zu lösen, sondern nur durch bessere Kommunikation.
Präzise Aufträge zu formulieren, kann und muss man lernen
Moltke erkannte, dass der Erfolg dieser Verständigung von zwei Faktoren abhängt: Zum einen von der Klarheit der Ansagen, zum anderen von der Überprüfung, was die Adressaten verstanden und daraus abgeleitet haben. In beiden Punkten sind die alten Preußen der heutigen Führungspraxis in geradezu peinlicher Weise voraus. Während wir zu glauben scheinen, dass jede(r) dazu in der Lage ist, klare Ansagen zu machen, wenn sie oder er sich nur ein bisschen anstrengt, begriff Moltke, dass das Formulieren klarer, unmissverständlicher Befehle eine Fähigkeit ist, die man erlernen kann, aber auch muss:
"'Orders were to be clear: logically arranged, short sentences, using universally understood expressions (…) Orders were to be precise: subordinates were to be made acquainted with the intentions of the superior. Orders were to be complete – distinguishing the part that each unit was asked to perform. Orders were to be short. The rule was that they should never contain a single word by the omission of which their meaning would not be suddenly and completely affected.'" (S. 131, Hervorhebungen von mir)
Moltke machte das Formulieren präziser und verständlicher Befehle zum Bestandteil der Offiziersausbildung – ein geradezu schreiender Kontrast zu der Unfähigkeit vieler Führungskräfte heute, ihren Mitarbeitern klar und unmissverständlich zu sagen, was sie von ihnen erwarten, sobald es über quantifizierbare Leistungen hinausgeht. Eine gute Direktive sollte danach folgende Elemente enthalten:
- "An account of the situation, bringing out the essential features which bear on the course of action to be taken. It is useful to cover the state of the knowledge, distinguish what is known, what is probable but uncertain, and what is not known but could be relevant. (…)
- A short statement of the overall intent. This is classically stated as a task plus a purpose. In other words, what we need to achieve now and why (…)
- An extrapolation of the more specific tasks implied by the intent. (…)
- Finally, it should give any further guidance about boundaries, in particular the constraints to be observed, and indicate for decisions which may have to be taken. (…) Constraints do not only define boundaries, but help to clarify what is wanted by making explicit what is not wanted." (S. 137f.)
Bemerkenswert daran finde ich dreierlei: Erstens, dass hier eben nicht bloß eine nackte Anweisung gegeben wird, sondern großer Wert darauf gelegt wird, den Sinn und Zweck des formulierten Auftrags zu verdeutlichen.
Zweitens, dass sowohl die Rahmenbedingungen des Handelns abgesteckt werden als auch benannt wird, welche Ergebnisse und/oder Nebenwirkungen ausdrücklich unerwünscht sind. Es leuchtet auf Anhieb ein, dass ein so formulierter Auftrag seinen Adressaten ungleich mehr Klarheit und damit Sicherheit gibt als eine schlampig dahingerotzte Anweisung – und dass man es in der Tat lernen muss, Aufträge so klar zu formulieren, statt sich vergeblich auf seine Naturbegabung zu verlassen.
Drittens finde ich bemerkenswert, wie konsequent darauf geachtet wird, nur die Intentionen zu vermitteln und die Zielrichtung vorzugeben, nicht aber das Vorgehen im Detail. Ich kann und will nicht leugnen, dass mir so viel gedankliche Sorgfalt und Selbstdisziplin in der Führung Respekt abnötigt.
Eine qualifizierte Rückkopplung sicherstellen
Doch trotz aller Sorgfalt und Präzision gibt es in der Kommunikation zwischen Menschen keine Garantie, dass der oder die Adressaten auch tatsächlich das verstanden haben, was man ihnen vermitteln wollte – geschweige denn, dass sie dies auch einige Stunden oder Tage später noch genau im Kopf haben. Die einzige Chance, dies sicherzustellen, ist, eine explizite Feedbackschleife zu etablieren.
Die einfachste Methode, dies zu tun, ist, den erteilten Auftrag mit eigenen Worten wiederholen zu lassen. Im Gegensatz zu einer wörtlichen Wiederholung, die nur die kurzfristige Gedächtnisleistung testet, macht die Rückformulierung mit eigenen Worten sichtbar, ob der Auftrag richtig verstanden worden ist – und ob man ihn unmissverständlich und klar formuliert hat. Wenn nicht, muss man nachbessern.
Das ist ein großer Fortschritt gegenüber einer bloßen pauschalen Bestätigung des Auftrags. Denn die lässt den Vorgesetzten in der Ungewissheit zurück, was der oder die Adressaten wirklich verstanden haben und was sie nun zu tun gedenken. In diesem Fall kann er nur hoffen und beten, dass seine Intentionen richtig angekommen sind; Missverständnisse werden erst sehr viel später sichtbar, wenn schon viel Arbeit nutzlos investiert wurde oder die Ausführung unter Umständen sogar in die völlig falsche Richtung gegangen ist. Allerdings wird diese Wiederholung des Auftrags von vielen Menschen als peinlich oder sogar demütigend empfunden.
Einen entscheidenden Schritt weiter geht das "Backbriefing" (für das ich keine brauchbare deutsche Übersetzung gefunden habe). Es besteht darin, den Auftrag nicht nur zu paraphrasieren, sondern – entweder ad hoc oder nach etwas Vorbereitungszeit – mit einer groben Skizze des geplanten Vorgehens zu beantworten. Also etwa: "Bitte sagen Sie mir, wie Sie meinen Auftrag verstanden haben, und geben Sie mir eine grobe Idee, wie Sie zu seiner Realisierung vorzugehen beabsichtigen!"
Klären, worauf es wirklich ankommt
Dieses Vorgehen begeistert mich völlig, weil es drei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Erstens klärt es, ob der Auftrag richtig verstanden worden ist und ob er wirklich klar und vollständig war. Sonst stellt sich unter Umständen erst bei der Umsetzung heraus, dass der Vorgesetzte einige wichtige Restriktionen zu erwähnen vergessen hat: Das kann nicht nur vorkommen, es kommt immer wieder vor. Zweitens gibt es den Vorgesetzten die wertvolle Information, ob der eingeschlagene Weg in die richtige Richtung geht.
Zum dritten hat dieser frühzeitige Abgleich eine wichtige friedensstiftende Funktion: Nicht nur erspart er allen Beteiligten die extrem frustrierenden nachträglichen Diskussionen, ob der Auftrag missverständlich war oder ob der Mitarbeiter sich nicht an die Vorgaben gehalten hat; vor allem entlastet er die Vorgesetzten aber von der Sorge, ob ihr Auftrag in der von ihnen gewünschten Weise umgesetzt wird, und reduziert für sie so die Versuchung, sich ständig nach dem Stand der Dinge zu erkundigen und/oder sich in die Details einzumischen.
Bungay unterstreicht, wie wichtig solche Gespräche für den Geschäftserfolg sind: "Briefing is difficult to do well and has a major impact, for it essentially determines how people are going to spend their time and what outcomes they are going to try to achieve. Few things could be more important for any business. In view of its importance and its difficulty, it is remarkable that it is little taught." (S. 164)
Was missverstanden werden kann, wird missverstanden
"The purpose of briefing is to enable people to act independently", stellt Bungay fest (a.a.O.) Dafür muss mit den Adressaten ein klares und gemeinsames Bewusstsein dafür erarbeitet werden, worauf es wirklich ankommt. Bei wichtigen Themen wird das nicht immer innerhalb eines einzigen Gesprächs gelingen; wenn nötig, muss die Qualität des Denkens dabei iterativ in mehreren Schleifen und Revisionen verfeinert werden.
Dabei geht es darum, größtmögliche Klarheit und Einfachheit zu erreichen, gemäß dem schönen Satz des preußischen Generalmajors Jacob Meckel: "Jede Anweisung, die missverstanden werden kann, wird missverstanden." Nur wenn diese Klarheit erreicht wird, ist es den Leuten möglich, eigenständig die richtigen Abwägungen zu treffen.
Um einen solchen Führungsstil zu etablieren, sieht Bungay mit Moltke die Auswahl der Offiziere für entscheiden an. Frühzeitig aussortiert müssten vor allem zwei Typen werden: Solche mit einem ausgeprägten Hang zum Mikromanagement, das oft von einem unüberwindlichen Misstrauen in andere Menschen getrieben ist, sowie "natural authoritarians who only feed save if they have total personal control." (S. 183)
Das ist die nächste Überraschung für notorische Zivilisten wie mich: Das moderne Militär kann zumindest aus Moltkes Sicht keine autoritären Machtmenschen brauchen! Aber tatsächlich konstatiert Bungay hier ein Problem, das wir auch aus Wirtschaft und Verwaltung nur allzu gut kennen: "One of the greatest fears is of letting go an thereby losing direct control. In delegating authority for decision making one gives away power without giving away accountability." (S. 189)
Steigerung der Effizienz durch systematische Schulung
Konsequenterweise war von Moltke die Offiziersausbildung ein großes Anliegen. Deshalb gründete er eine "Allgemeine Kriegsschule", 1859 in "Kriegsakademie" umbenannt und ab 1872 vom Generalstab selbst betrieben. Neben der individuellen Qualifikation förderte dies auch die Berechenbarkeit des Offizierskorps':
"Adopting a unified set of common practices has advantages in itself by raising the level of internal predictability. Rather than being left entirely to the 'individual style', the way leadership is exercised is constrained within acceptable boundaries. There were set ways of giving direction. If a commander's intent was not clear, subordinates had the right, indeed the duty, to demand clarity that they had the right to exercise free judgment. Everybody knew that." (S. 179)
Von 1856 bis 1881, also 35 Jahre lang, kümmerte sich Moltke persönlich um das Programm für den Kommandeursnachwuchs: "They were taught to identify the essentials of the situation and act rapidly and incisively. They were taught to recognize patterns and use their intuition, to take decisions which were 'about right – now' rather than wait for more information, and then take another decision as they saw the effects of the first. They were taught to think independently and use their own judgment; one exercise put officers in a position in which they had to disobey orders in order to be successful. the result was, von Moltke said, that in a given situation, 99 out of 100 officers would react as he would himself." (S. 179f.)
Besonderen Wert legte Moltke darauf, wie Offiziere auf Fehler reagierten. Weil die Bestrafung von Fehlentscheidungen auf Jahre hinaus jeden Versuch abwürgen würde, im Offizierskorps Eigeninitiative zu fördern, verlangte er von den höheren Offizieren, auf harsche und verletzende Kritik von Fehlern zu verzichten, um das Selbstvertrauen der Adressaten nicht zu unterminieren. Stattdessen sollten sie deren Initiative loben und sie dann auf eine Weise korrigieren, aus der sie lernen konnten. Andernfalls würde man, um einen einzigen Fehler zu verhindern, hundert positive Initiativen auslöschen und auf diese Weise eine unglaubliche Menge an Energie verlieren.
Von Moltke ging sogar soweit, nur solche Offiziere zum Generalstab zuzulassen, die zumindest in einer Übung bewiesen hatten, dass sie bereit waren, sich über Befehle hinwegzusetzen, wenn ihnen dies in einer konkreten Situation geboten schien, um die übergeordneten Ziele zu erreichen. Zu Recht stellt Bungay fest: "Not many of us are prepared to be that radical today." (S. 181)
Der Managementmythos der schnellen Entscheidungen
Wie sich hier andeutet, geht der populäre Managementmythos vom schnellen Entscheiden wohl auf das Militär zurück, vielleicht sogar direkt auf Moltkes Kriegsakademie. Die Forderung, schnell und beherzt zu entscheiden, ist im Krieg sicherlich sinnvoll – und generell in Krisensituationen, in denen jede Verzögerung zu einer Verschlechterung der Lage führen könnte.
Trotzdem muss die Allgemeingültigkeit dieses Prinzips hinterfragt werden: Gilt die Regel, schnell zu entscheiden, auch für die Entscheidung, einen Krieg zu beginnen? Gilt sie auch für die Grundsatzentscheidung über eine Kapitulation oder die Fortsetzung eines Kriegs? Hoffentlich nicht, denn solche Entscheidungen sind erstens von ungleich größerer Tragweite, und zweitens sind sie im Grunde nicht korrigierbar; zugleich bringt hier der Zeitaufwand für eine sorgfältige und geduldige Abwägung – in der Regel – keinen nennenswerten Nachteil.
Natürlich ist mir bewusst, dass die Entscheidung, einen Krieg zu beginnen, und auch die über eine Kapitulation (normalerweise) nicht von den Militärs getroffen wird. Doch darum geht es nicht, es geht um die Tragweite und Irreversibilität einer anstehenden Entscheidung. In seinem berühmten Aufsatz "Über Strategie" von 1871 nennt Moltke selbst einen solchen Fall: "Ein Fehler in der ursprünglichen Versammlung der Heere ist im ganzen Verlauf des Feldzugs kaum wieder gut zu machen. Aber diese Anordnungen lassen sich lange vorher erwägen" (3. Absatz).
Das ist gewiss keine Rechtfertigung, solche zentralen Entscheidungen zu verschleppen – aber ebenso wenig ergibt es Sinn, einen Druck aufzubauen, sie überstürzt und ohne reiflicher Abwägung zu treffen. Bei Entscheidungen von größter Tragweite muss zwingend Qualität vor Schnelligkeit stehen, erst recht wenn sie – wie etwa die Trennung von einem Mitarbeiter oder der Verkauf eines Geschäftsfelds – kaum rückgängig zu machen sind.
Indikationen und Kontraindikationen
In einem ersten Resümee lässt sich festhalten, dass diese uralten militärischen Führungsprinzipien erstaunlich relevant für das heutige Geschäftsleben sind, ja, dass sie bei ehrlicher Betrachtung sogar vieles in den Schatten stellen, was heute zum Thema Führung gelehrt und gelebt wird. Denn sie fordern gerade nicht stumpfsinnigen Drill und die Unterwerfung unter eine Hierarchie, in der die Oberen kommandieren und die Unteren blind zu gehorchen haben, sondern fördern und fordern Mitdenken, Eigeninitiative und Übernahme von Verantwortung – also ziemlich genau das, was heute viele Manager mit Schlagworten wie Entrepreneurship oder unternehmerisches Denken (zumeist vergeblich) fordern.
Dieses Erstaunen wird noch größer, wenn man diese 150 Jahre alten Prinzipien vergleicht mit Führungsliteratur, die nicht einmal halb so alt ist, sondern etwa aus den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahren stammt. Selbst Fredmund Maliks im Jahr erstmals 2000 erschienener Beststeller "Führen – Leisten – Leben", den ich für eines der besten Führungsbücher auf dem Markt halte, macht im Vergleich mit Moltkes Gedanken nicht durchgehend eine gute Figur.
Trotzdem darf und muss man fragen, ob sich die Führungsprinzipien, die Bungay hier gestützt auf Clausewitz und Moltke beschreibt, tatsächlich als "allgemeines Prinzip" für die Führung im Business eignen – und zwar nicht im ethisch-moralischen Sinne, sondern in einem schlichten Blick auf die Indikationsgebiete. Und da fällt sofort auf: So kann (und sollte) man eine Beratungsfirma, einen anspruchsvollen Vertrieb oder auch eine Forschungsabteilung führen, aber bitte keine Serienfertigung, keine Buchhaltung und schon gar keine Massenproduktion.
Das militärische Führungsmodell ist optimal geeignet, wo es um das rasche Erfassen unvorhersehbarer Situationen und um mutiges, schnelles Handeln vor Ort geht, aber es wäre völlig deplatziert, wo es auf die effiziente Abwicklung wiederkehrender Routinen ankommt, und erst recht auf die hochstandardisierte Abwicklung verbindlich vorgegebener Prozesse. Denn in solchen standardisierten Prozessen kann man keine Eigeninitiative brauchen, jede Abweichung von den definierten Arbeitsschritten schmeißt unweigerlich den gesamten Prozess über den Haufen.
Taktiken vs. Organisationsprinzip
Bungay macht einen ähnlichen Punkt selbst, aber er macht ihn nicht mit seiner sonst so vorbildlichen Klarheit. Im letzten Kapitel "Leadership That Works" unterscheidet er die drei Ebenen Strategie, Operation und Taktik, wobei er mit "Operation" Kampfeinsätze und Vergleichbares meint, mit Taktiken Standard-Spielzüge wie etwa den Aufbau einer Straßensperre. Letztere sind sorgsam eingeübt und können sozusagen im Halbschlaf vollzogen werden, mit hoher Effizienz und ohne Führungsaufmerksamkeit.
Aber diese Taktiken sind, wenn ich ihn richtig verstehe, keine von den Operationen getrennten Aktivtäten, sie sind vielmehr ein Repertoire von Standard-Bausteinen, die ihm Rahmen von Operationen eingesetzt werden können und sollen, wo sie nützlich sind.
Bungay meint, solche "Taktiken" könnten in manchen Geschäftsfeldern einen sehr großen und in anderen einen sehr geringen Raum einnehmen. Doch trifft meines Erachtens dies die Situation nicht richtig. Denn in einer Serienfertigung, in der Pharma- und der Automobilproduktion sind diese Routineprozesse eben nicht bloß Versatzstücke, die punktuell zur Effizienzsteigerung eingesetzt werden, sie sind das zentrale Prinzip, nach dem das ganze Unternehmen – oder zumindest dieser Teil davon – aufgebaut ist.
Standardisierung fördert Effizienz, Qualität und Sicherheit
Standardisierte Routinen sind in Unternehmen beliebt, nicht nur, weil sie den Vorteil maximaler Effizienz haben, sondern auch, weil sie eine stabile und hohe Qualität ermöglichen. Sie setzen aber voraus, dass man den Prozess erstens vollständig beherrscht und dass zweitens nichts Unvorhergesehenes passiert. Sobald etwas nicht so läuft wie es in der standardisierten Prozessbeschreibung vorgesehen ist, ist der Prozess gesprengt, und man betritt das "System der Aushülfen", von dem von Moltke gesprochen hat.
Die große Stärke des Moltkeschen Modells liegt in Anwendungsfeldern, die sich jeder Standardisierung entziehen, sei es, weil einem, wie im Gefecht, der "unabhängige Wille" der Gegenseite die schönsten Spielzüge verdirbt, sei es, weil sich die Eigendynamik einer Katastrophe, sei es die eines Brandes, eines Unfalls oder einer Naturkatastrophe, jeder Vorhersehbarkeit entzieht.
Doch interessanterweise entstehen selbst in sich wiederholenden Krisensituationen Routinen, und es ist auch ausgesprochen sinnvoll, sie zu entwickeln, weil sie helfen, Fehler zu vermeiden und wirksam und effizient zu arbeiten. So wie die Feuerwehr die meisten Brände mit einem komplexen System von Routinen angeht, so ist für Stromnetzbetreiber die Behebung von Störungen zu großen Teilen eine standardisierbare Routine.
In diesen und vielen ähnlichen Fällen ist deren Routinisierung nicht nur aus Effizienz-, sondern auch aus Sicherheitsgründen absolut sinnvoll – wobei genauso wichtig die Fähigkeit ist, zu erkennen, wo ein Brand oder eine Störung außerhalb der Routinen liegt und deshalb anders behandelt werden muss.
Erweiterung des gängigen Führungsverständnisses
Zum Schluss dieses inhaltsreichen Buches stellt Bungay auch noch eine – aus meiner Sicht sehr überzeugende – Erweiterung des gängigen Führungsverständnisses vor. Zu Recht bemängelt er, dass die derzeit gängige, auf Abraham Zalaznik zurückgehende Unterscheidung von "Managing" und "Leading" einen wesentlichen Aspekt des Führens außer Acht lässt, nämlich den, die Ziele und die strategische Richtung vorzugeben und die Organisationen sprechend aufzustellen.
Dieser zentrale Aspekt wird in der Literatur, sofern er den überhaupt wahrgenommen wird, der Leadership zugeschlagen wird. Aber das ist nicht überzeugend. Denn es ist eine Sache, Leute für ein Vorhaben zu gewinnen oder gar zu begeistern, aber eine ganz andere Sache, zu bestimmen bzw. zu definieren, was für ein Unternehmen in der gegebenen Situation das strategisch richtige Vorhaben ist. Es gibt Führungskräfte, die das eine sehr gut können, aber das andere nicht, und umgekehrt. Wenn Dimensionen aber einen Sinn haben sollen, ist es notwendig, sie einigermaßen homogen zu halten.
Bungay schlägt daher zusätzlich zu Managing und Leading eine dritte Dimension der Führung vor. Sie heißt beim Militär "Commanding", aber er vermutet wohl zu Recht, dass dieser Begriff uns Zivilisten nicht zu vermitteln ist, und schlägt stattdessen "Directing" vor – was mich wiederum vor das Problem der Übersetzung stellt. Ich denke, "Leiten" trifft es ganz gut, auch wenn der Begriff schwächer ist als "Directing" und sicher auch etwas abgegriffener.
Leiten im Sinne von: die richtige Richtung bestimmen
Im Gegensatz zu dem charismatisch-autoerotisch getönten "Leading" hört sich "Leiten" relativ nüchtern an – aber so ist es auch zu verstehen, denn der/die/das Leiter fokussiert sich in erster Linie darauf, welche Schwerpunkte von der Sache her Sinn ergeben, also etwa von den Stärken und Schwächen eines Unternehmens, von der Markt- und Wettbewerbsentwicklung und den sich daraus ergebenden Chancen und Bedrohungen, und nicht dafür, was die tollste Show ist und den größten Applaus bringt.
Auf diese Weise führt Bungay den gängigen zwei Dimensionen der Führung eine dritte, konzeptionelle (oder intellektuelle) hinzu mit den Teilaspekten "Developing strategy", "Giving direction" und "Building the organization" (S. 229). Demgegenüber richtet sich "Leadership" vor allem auf die sozialen, also die zwischenmenschlichen Aspekte ("Task" / "Team" / "Individual") und "Management" auf die operativen bzw. technischen Erfordernisse ("Resourcing" / "Organizing" / "Controlling", a.a.O.).
Das finde ich ausgesprochen schlüssig. Nur eine Facette seines Modells würde ich modifizieren: Bungay ordnet den Aspekt "moral" dem "Leading" zu; dagegen fände ich den moralisch-ethischen Aspekt der Führung beim "Directing" besser aufgehoben. Zwar hat ohne Zweifel auch das Führen seine moralisch-ethische Seite, doch die Frage, ob ein Vorhaben ethisch-moralisch zu rechtfertigen ist, stellt sich nicht erst, den es darum geht, Mitarbeiter dafür zu motivieren, es stellt sich bereits bei der grundlegenden Entscheidung über die einzuschlagende Richtung.
Unabhängig davon empfinde ich sein dreidimensionales Modell der Führung (dass er frivolerweise als "The Executive's Trinity" bezeichnet) als eine substanzielle und wertvolle Erweiterung der gängigen Führungsmodelle. Denn das Setzen des Kurses ist mehr als ein Teilaspekt der Mitarbeiterführung, es ist eine eigene Dimension des Führens, die weit über das Motivieren und Begeistern von Menschen hinausgeht und primär strategische Fähigkeiten erfordert. Deshalb scheint mir eine eigene Dimension dafür mehr als gerechtfertigt.
Diese sachliche Nüchternheit hat etwas Gespenstisches
Bei aller Bewunderung für das überraschend moderne Führungsverständnis der preußischen Militärs gruselte es mich beim Lesen immer wieder, mit welcher nüchternen Sachlichkeit hier die Optimierung eines "Geschäfts" betrieben wird, das zum Ziel hat, den Feind zur Kapitulation zu bewegen, indem man ihm möglichst große "Verluste" – sprich: möglichst viele Tote und Verwundete – beibringt und dafür substanzielle eigene "Verluste" – sprich: viele Tote und Verwundete – in Kauf nimmt.
Diese nüchterne Sachlichkeit hat schon ihre eigene Qualität: Sie blendet das Grauen des Kriegs und das menschliche Leid, das ja Jahrzehnte über die Schlachten selbst hinausreicht, konsequent aus. Offenbar kann man ganze Bücher über militärische Fragen schreiben und lesen, ohne auch nur ein einziges Mal an die Schicksale hinter den "Verlusten" zu denken. Mit der gleichen sachlichen Nüchternheit kann man wohl jedes "Geschäft" unabhängig von seiner Ethik optimieren, auch ein Drogenkartell, einen Mädchenhändlerring oder eine Terrororganisation.
Damit will ich selbstverständlich keine Gleichsetzung vornehmen: Das verursachte menschliche Leid dürfte bei einem Krieg ungleich höher sein. So fragwürdig andere "Branchen" von ihrer Ethik her auch sein mögen, sie haben es nicht leicht, mit dem 60.000 "casualties" mitzuhalten, die Bungay für eine einzige Schlacht des Ersten Weltkriegs allein auf britischer Seite berichtet (S. 218). Verglichen mit dem Horror eines Kriegs ist Terrorismus kaum mehr als eine Belästigung.
Ich finde es wichtig und ethisch geradezu zwingend, diese Verführung der sachlichen Nüchternheit zu erkennen und ihr zu widerstehen: Es ist unabdingbar, sich bei jedem Geschäft – also keineswegs nur beim "Kriegshandwerk" – bewusst auch mit dessen menschlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen auseinanderzusetzen. So betrachtet, bietet die sachliche Nüchternheit von Bungays Buch eine letzte wichtige Erkenntnis, nämlich, wie leicht man mithilfe ihrer Hilfe die Folgen des eigenen Handelns ausblenden kann – und wie wichtig es ist, genau das nicht zu tun.
Prioritäre Empfehlung
Trotzdem ist "The Art of Action" ein Buch, aus dem ich extrem viel gelernt habe – und keineswegs nur über die Aktualität des preußischen Führungsverständnisses, über das ich mich in dieser Besprechung ja schon mehrfach positiv geäußert habe. Ich empfinde es als geradezu peinlich, wie weit unsere heutige Führungstheorie und -praxis in wesentlichen Aspekten hinter dem zurückbleibt, was die preußischen Militärs schon vor 150 Jahren herausgearbeitet hatten. Dabei finde ich es ebenso verblüffend wie erschreckend, dass wertvolle Führungsprinzipien einfach wieder verloren gehen können – und zwar nicht, weil sie keinen praktischen Nutzen mehr haben, sondern obwohl sie ihn hätten.
Woran das liegt, kann ich nicht beurteilen: Ob es an der geringen Überlappung der betreffenden gesellschaftlichen Subkulturen scheitert oder an einer generellen Verweigerung, irritierende er Konzepte zur Kenntnis zu nehmen oder an noch anderen Faktoren, das Ergebnis ist beunruhigend klar: Wir haben es als Gesellschaft geschafft, prinzipiell verfügbare Erkenntnisse nicht zur Kenntnis zu nehmen; stattdessen ziehen wir uns vor, mit diesem fundamentalen Thema immer wieder neu anzufangen, immer neue Führungstheorien und -modelle zu propagieren – und trotzdem hinter dem zurückzubleiben, was vor 150 Jahren schon klar herausgearbeitet wurde.
Mein Fazit: Trotz des militärischen Hintergrunds, der manche irritieren mag, gehört dieses Buch ganz weit oben auf die Leseliste für alle, die sich ernsthaft mit Führung auseinandersetzen – auch und gerade für bekennende Nichtmilitaristen.
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