Nichts ist in einer kritischen Lage wertvoller als, die Sichtweisen der anderen Seite(n) besser zu verstehen. Die Chance dazu eröffnet uns Mahbubani für die zunehmende Spannung zwischen "West" und "Rest". Wir sollten sie nicht verstreichen lassen
Kishore Mahbubani, Jahrgang 1948, arbeitete über 30 Jahre im diplomatischen Dienst von Singapur und war etliche Jahre dessen UN-Botschafter. Heute lehrt er "Practice of Public Policy" an der National-Universität von Singapur. Aus seinem Buch The New Asian Hemisphere (2008) habe ich viel darüber gelernt, wie der "Rest der Welt" und speziell Asien auf den Westen blicken – und diese Sichtweise, denke ich, in den Grundzügen auch gefühlsmäßig verstanden, im Sinne von: "Ja, aus deren Perspektive würde ich das wahrscheinlich ähnlich sehen." Seither packt mich manchmal das blanke Entsetzen, wenn ich das Auftreten und Verhalten "des Westens" gegenüber der nicht-westlichen Welt sehe.
Deshalb habe ich sofort zugegriffen, als ich – wie üblich, mit etwas Verspätung – erfuhr, dass Mahbubani ein neues Buch veröffentlicht hat. Es entpuppt sich als ein schmales Bändchen mit netto 90 Seiten und großzügigen Satzspiegel (34 Zeilen pro Seite), also im Grunde kaum mehr als ein längerer Essay. Aber das hat den Vorteil, dass man es schneller – und wahrscheinlich auch viel früher – gelesen und resorbiert hat, als wenn er sich auf 800 Seiten über das Thema ausgelassen hätte.
Wachsende Ungeduld
Im Vergleich zu seinem Buch von 2008 scheint mir Mahbubani ungeduldiger geworden. Zuweilen klingt ein Anflug von Gereiztheit oder Sarkasmus heraus – was ich verstehen kann wenn man bedenkt, als wie beratungsresistent sich "der Westen" erweist. Weiterhin treten wir vielerorts so auf, als ob wir die Erziehungsberechtigten der Welt wären: Da hilft auch keine noch so sorgsame Political Correctness in den Formulierungen – das ist eine Frage der Grundhaltung. Wesentliche Entwicklungen in Asien bekommen wir entweder gar nicht mit, wenn sie uns nicht direkt betreffen, oder reagieren defensiv, statt uns um eine mutige und konstruktive strategische Antwort zu bemühen.
Das zentrale Thema dieses neuen Büchleins ist dasselbe wie bei seinem Vorläufer von 2008, nämlich "that a cycle of Western domination of the world is coming to a natural end" (S. 4). Dieser Prognose ist schwer zu widersprechen, wenn man weiß, dass China und Indien jeweils doppelt so viele Einwohner haben wir Europa und die USA zusammen und ganz Asien etwa siebenmal so viele – und dass deren Produktivität rapide zunimmt.
Dass China und später auch Indien die USA an Wirtschaftsleistung und damit auch an politischem Gewicht überholen werden, ist keine Gefahr, sondern eine Gewissheit; fraglich ist lediglich der Zeitpunkt. Also kann es aus seiner Sicht nur darum gehen, diesen Übergang so zu gestalten, dass er möglichst reibungslos verläuft und dabei möglichst wenig menschlicher und ökonomischer Schaden entsteht.
Mahbubani ist bei allem Selbstbewusstsein, das er als Repräsentant Asiens an den Tag legt, ein Freund des Westens, aber er scheint zunehmend verärgert und verzweifelt, dass wir Westler einfach nicht begreifen wollen, worum es geht und was auf dem Spiel steht. Stattdessen beschäftigen in nebensächlichen Scharmützeln à la Brexit mit uns selbst und begegnen allem, was nicht westlich ist, mit kaum erträglicher Arroganz und Anmaßung.
Er wirkt wie ein Lehrer gegenüber einem adeligen, aber leider ziemlich begriffsstutzigen Schüler, der sich mit allem befasst außer mit dem, womit er sich beschäftigen müsste, seine Hausaufgaben nicht macht, aber auf seine an ihm vorbeiziehenden Mitschüler mit einem unverschuldeten Gefühl von Überlegenheit herabschaut: "Verdammt noch mal", so scheint er zu sagen, "warum begreifst du nicht, dass du jetzt langsam die Kurve kriegen musst, wenn du nicht in ein Riesenschlamassel geraten willst?!"
Unbarmherzig den Spiegel vorgehalten
Das Ärgerliche an alledem ist, dass Mahbubani so furchtbar recht hat. Als Provokation, wie der Untertitel warnt, habe ich seine Aussagen kaum je empfunden, nur als zuweilen ziemlich peinliche Konfrontation damit, wie unsensibel, vorurteilsbeladen und zugleich aggressiv-defensiv wir uns in der Welt bewegen: Wir schwanken zwischen Herablassung und panischer Aggressivität ("Angstbeißer"), gleich ob es um Migration oder um militärische Interventionen, um die Belieferung durch chinesische Firmen beim Mobilfunk oder um ausländische Wahlbeeinflussung geht.
Trotz zuweilen spürbarer Frustration ist Mahbubani ein ausgesprochen wohlwollender und geduldiger Lehrer. Er gibt sich große Mühe, die historischen Verdienste des Westens hervorzuheben und zu würdigen, sei es die Aufklärung, die Überwindung des Feudalismus oder die Entwicklung einer evidenzbasierten Wissenschaft: "The biggest gift the West gave to the Rest was the power of reasoning." (S. 11) Das ist freundlich, auch wenn es sich bei genauerem Hinsehen wohl nur auf die Naturwissenschaften und die dadurch ermöglichte Technik bezieht.
Aber er schont uns nicht, wenn es darum geht, uns mit Fehlern, Versäumnissen und Versagen zu konfrontieren – wie etwa mit unserer penetranten Unwilligkeit, unserer hehren Prinzipien auch auf und selbst anzuwenden. Unsere Aufregung über ausländische Wahlbeeinflussung beispielsweise wirkt geradezu grotesk, wenn man sich vor Augen führt, was die USA – und in geringerem Ausmaß wohl auch europäische Geheimdienste – jahrzehntelang in Afrika, Asien und Südamerika praktiziert haben. Und warum fürchten wir chinesische Ausspähung, wo wir doch wissen, dass amerikanische Lieferanten ihren Geheimdiensten jederzeit sämtliche Türen öffnen?
Während sich der Westen in nutzlosen Interventionen verzettelt, die nur den Hass auf die USA und den Westen anheizen, und mit dem gewonnenen Kalten Krieg das "Ende der Geschichte" gekommen wähnte, ist der Osten aufgewacht: Nicht nur China und Indien, sondern auch viele andere asiatische Länder haben begonnen, ihre Entwicklung in die eigenen Hände zu nehmen. Und während die G7, die sieben mächtigsten Industriestaaten, wenig zuwege bringen, haben die "E7", die sieben größten "Emerging Markets" sie, unbemerkt vom Westen, überholt und schicken sich an, sie immer weiter hinter sich zu lassen.
Aus Mahbubanis Sicht hat das einen Grund, der dem Westen weitgehend entgangen ist: Die drei größten von ihnen "are led by exceptionally honest and competent leaders" – und er fragt: "Is this an amazing coincidence? Or is it, perhaps, a reflection of our time?" (S. 30) Das ist für meine und vermutlich all unsere westlichen Ohren eine so verblüffende Aussage, dass ich mich erst einmal neu orientieren muss – aber gerade das macht sie so wertvoll. Und er setzt nach: "… more and more countries are enjoying functional, instead of dysfunctional, governance." (a.a.O.)
Da hat er mich in der Tat voll erwischt. Viele dieser Regierungen entsprechen zwar nicht unseren westlichen Vorstellungen (und es ist auch unklar, warum sie das sollten), aber sie funktionieren, das heißt, sie bringen ihre Länder voran, verbessern die Lebensverhältnisse ihrer Bürger und erhöhen deren Lebensstandard. Was man von vielen unserer vorbildlich demokratisch gewählten westlichen Regierungen bei ehrlicher Betrachtung nur sehr eingeschränkt sagen kann – die Tragikomödien um den Brexit oder um um die alberne Mauer an der mexikanischen Grenze sind nur einige aktuelle Beispiele.
Mangelnder Weitblick
Wie wenig weitblickend Europa agiert, macht Mahbubani am Beispiel der Migrationskrise deutlich. Schon vor 25 Jahren habe er geschrieben: "If something goes wrong in, say, Algeria or Tunisia, the problems will impact on France. In the eyes of the North African population, the Mediterranean (…) has become a mere pond. What human being would not cross a pond if thereby he could improve his livelihood? Through all previous centuries, men and women have crossed oceans and mountains to seek a better life, often suffering terrible hardship in the process." (S. 32f.)
Dies vorherzusehen, hätte kein strategisches Genie erfordert, meint er – und doch war Europa überrascht und schockiert, als die Flüchtlinge aus Nordafrika kamen. In seinem nackten Eigeninteresse müsste Europa alles tun, um Nordafrika in eine Insel des Wohlstands zu verwandeln. Denn wenn Abertausende junge Afrikaner nach Norden aufbrechen, werden die alternden Europäer sie nicht auf Dauer aufhalten können. Statt alles für die Stabilität des Nahen Ostens zu tun, hätten wir den Amerikanern dabei zugesehen, wie sie dort zündeln, tadelt er, und sie allzu oft dabei unterstützt, statt ihnen in den Arm zu fallen. Peinlich, aber leider kaum zu bestreiten.
Spätestens mit dem Ende des kalten Kriegs hätten sich die strategischen Interessen von Europa und den USA auseinanderentwickelt, schreibt Mahbubani. Während der Nahe Osten Europas brennendstes Problem ist, hätten die USA spätestens seit sie genügend eigenes Öl und Gas haben, dort eigentlich nichts mehr verloren – ihr wichtigstes Problem sei China. (Es könnte sein, dass er hier der Fracking-Propaganda auf den Leim geht: Vermutlich ist es mit der Energie-Autarkie der USA längst nicht so weit her wie behauptet. Außerdem dürfte er den innenpolitischen Stellenwert Israels für die amerikanische Außenpolitik unterschätzen.)
"Europe's primary threat is spillover instability from the Islamic world. As long as North Africa and the Middle East are populated with struggling states, migrants will come to Europe, stirring populist parties. However, if Europe helps North Africa to replicate the successful economic development stories of Malaysia and Indonesia, Europe will have built a strategic bulwark against unmanageable migrant flows. In short, it is in Europe's strategic interest to import the East Asian economic success stories into North Africa. Hence, Europe should work with China, not against China, to build up North Africa." (S. 66f.)
Nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen
Sowohl die USA als auch Europa täten jedoch aus purem Eigeninteresse gut daran, sich mit Russland auszusöhnen, statt es immer wieder zu demütigen, zu isolieren und in die Enge zu treiben. Den Aufstieg Putins und dessen Politik sieht Mahbubani als beinahe zwangsläufige Reaktion auf diese verfehlte Politik des Westens gegenüber Russland, das ohnehin von seiner Niederlage im kalten Krieg und dem Zerfall der Sowjetunion schwer angeschlagen ist.
Generell wirft er dem Westen "thoughtless intervention in the internal affairs of several countries" vor (S. 49): Jugoslawien, Georgien, Ukraine, Irak, Kirgisistan, Tunesien, Ägypten … – seine Liste will nicht enden, und Südamerika ist da noch nicht einmal dabei. Doch der wohl größte Fehler ist der Umgang des Westens mit der islamischen Welt: "It underestimates the religion of Islam (…) the most dynamic and vibrant religion on Earth." (S. 45) "Many of the 1.5 billion Muslims believe that Muslim lives don't matter to the West." (S. 55)
"The West should engage in deep reflection on what it has done to the Islamic world for the past two centuries." (S. 47) Und während wir noch Zeit brauchten, um unser Verhältnis zu dieser Religion neu zu definieren, sagt er, könnten wir zumindest einmal aufhören, diese Länder zu bombardieren: "The Rest does not need to be saved by the West, educated by it on governmental structures, or shown the moral high ground. It most certainly does not need to be bombed." (S. 57) Schluck.
"Muslim lives don't matter" – das ist harter Tobak, und viele von uns im Westen würden das entschieden und aus ehrlicher Überzeugung bestreiten. Doch für die Betroffenen zählen nicht unsere Überzeugungen und Beteuerungen, sondern allein unsere Taten. Und wenn man nur die beobachtbaren Fakten gelten lässt, ist es verdammt schwer, diesen Eindruck zu widerlegen. Aus dieser Perspektive beginnt man auch, die Wut auf die Amerikaner und ihre feigen europäischen Vasallen zu verstehen.
Trotzdem ist es wahrscheinlich falsch, die Diskriminierung an der Religion festzumachen – was die Sache nicht besser macht: Wenn man sich etwa die Lage an der mexikanischen Grenze anschaut, zählen anscheinend auch mittel- und südamerikanische Leben weniger, obwohl das zum Großteil Christen sind – und wenn man an das Mittelmeer, die Ertrinkenden und die Auffanglager denkt, scheint generell fremdländisches Leben kaum zu zählen, insbesondere wenn es in einer dunklen Haut steckt.
Nachdrückliche Aufforderung zur strategischen Weitblick
Umso wichtiger wäre in der Tat, Mahbubanis strategischen Rat zu beherzigen: "Europe should feel a desperate sense of urgency in dealing with North Africa, because, behind North Africa, and even bigger demographic explosion is coming. Africa's population will become as large as Asia's by 2100. Then there will be 4.5 billion people in Africa. How will an aging population of 450 million Europeans deal with this demographic explosion? Europe must become cunning and focus on its own existential challenge." (S. 67)
Ins Schwarze trifft angesichts der derzeitigen Verfassung Europas auch sein Hinweis, dass Europa eine bessere Führung braucht. Trump habe, so sagt er, durchaus recht mit seiner Kritik, dass Europa Trittbrettfahrer der amerikanischen Rüstungsausgaben sei – nur habe er vergessen zu erwähnen, dass die USA dies weidlich ausgenutzt hätten, um die europäischen Staaten auf eine Politik zu verpflichten, die deren geopolitischen Interessen völlig zuwider liefe.
Die Amerikaner hätten notfalls die Option, sich von dem Chaos, das sie im Nahen und Mittleren Osten angerichtet haben, hinter den großen Teich zurückzuziehen – die Europäer hätten diese Option nicht und müssten die Folgen dieser grob fahrlässigen Brandstiftung in aller Konsequenz ausbaden. Bislang waren sie nicht dazu in der Lage, ihre eigenen geostrategischen Interessen gegenüber den USA durchzusetzen. So betrachtet, hat vielleicht sogar Donald Trump etwas Gutes, indem er den Europäern bei der Ablösung von den USA und beim "Erwachsenwerden" hilft.
Der Westen muss dringend aufwachen
Aber warum macht sich Mahbubani überhaupt so viele Gedanken über den Westen? Warum drängt er insbesondere die Europäer dazu, sich in dieser weltpolitischen Umbruchsituationen strategisch klug zu verhalten? Das beantwortet er ganz unumwunden: "Because a naive and ideological West is dangerous. The failure of the West to make major strategic adjustments is responsible for many of the mishaps the world has experienced recently. The world will become more unstable unless the West radically changes course." (S. 75)
Die Fortführung der derzeitigen kurzatmigen und egozentrischen Politik wäre für alle Beteiligten katastrophal: "Europe lost its strategic common sense. By not exporting jobs to Africa, it designed policies that would inevitably import Africans into Europe." (S. 77) Dabei mutet Mahbubani dem Westen einiges zu, was dessen strategischen Weitblick wohl überfordern wird: "The best way to strengthen the credibility of the UNSC is for the UK to give up its seat to India and (…) for France to share its seat with the EU." (S. 80) So einleuchtend das ist, angesichts der vorherrschenden nationalstaatlichen Kleingeistigkeit ist es wohl unvorstellbar.
Dennoch wäre der Westen wohl beraten "to begin preparing for a world where America is no longer number one. (…) What is the best outcome for America when it becomes number two? The best outcome would be a number one power (namely, China) that respects 'rules and partnerships and habits of behavior' that America could live with." (S. 82f.) Um das zu erreichen, müsste der Westen freilich dringend damit beginnen, sich gegenüber dem "Rest" anständig, respektvoll und partnerschaftlich zu benehmen.
Höchste Zeit für ein Umdenken und vor allem Um-Handeln
Zusammenfassend stellt Mahbubani fest: "All these recommendations are based on the fundamental assumption that Western minds need to understand that, for over two centuries, they have been aggressive and interventionist. Now it's in their strategic interests to become prudent and non-interventionist. This will benefit the world, as outlined above. It will also benefit Western populations." (S. 85)
Im Grunde ist das noch sehr milde formuliert, mit unglaublich wenig Ressentiments, die angesichts der bitteren Vorgeschichte durchaus möglich wären. Ich befürchte, dass längst nicht alle Menschen und Länder im "Rest der Welt" bereit sind, im Interesse eines möglichst konfliktarmen Übergangs in die neue Weltordnung so verzeihend über unsere Sünden der Vergangenheit hinwegzusehen. Wenn die neuen Herren der Welt mit uns aber so umgehen, wie wir mit ihnen umgegangen sind, als wir noch die Herren waren, dann gnade uns Gott.
Und dennoch, es hilft nichts: die Welt ändert sich, und es ist nutzlos und macht alles nur noch schlimmer, sich einer unausweichlichen Entwicklung in den Weg zu stellen. Wir werden uns mit einem bescheideneren Platz in der künftigen Weltordnung zufriedengeben müssen. Und auf dem Weg dorthin wären wir gut beraten, die Zahl unserer Feinde nicht noch weiter zu vergrößern, sondern Einsicht und vielleicht sogar einen Schuss Reue zu zeigen.
Da aber jede Einsicht und erst recht jede Reue damit beginnt, zu verstehen, was man mit seinem bisherigen Handeln bei den direkt oder indirekt davon Betroffenen angerichtet hat, wünsche ich diesem Buch möglichst viele Leserinnen und Leser im Westen.
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