Hauptsächlich für in der Wolle gefärbte Individualpsychologen, aber für sie sehr lohnend: 17 Persönlichkeiten um Alfred Adler und ihr Wirken werden hier in teils knappen, teils etwas ausführlicheren Portraits kritisch beschrieben.
17 Portraits von 12 Autorinnen und Autoren haben die Berliner Individualpsychologen Alfred Lévy und Gerald Mackenthun in diesem Band zusammengestellt. Auch wenn diese Portraits von unterschiedlicher Qualität sind und überwiegend nicht an Josef Rattners "Klassiker der Tiefenpsychologie" heranreichen, ist das verdienstvoll.
Denn viele der hier auf zwischen 10 und 25 Seiten Beschriebenen stehen heute an der Schwelle des Vergessenwerdens, und alle an der Individualpsychologie Interessierten werden dankbar dafür sein, dass hier noch ein paar Spuren dieser Pioniere bewahrt werden, und sei es auch nur für eine Generation oder eine halbe ist. Denn zum Begründer einer "Schule" gehört eben auch die "Schüler" – und zwar nicht nur als namenlose, ehrerbietige Gefolgschaft, sondern als Mitgestalterinnen und Mitgestalter.
Nur die wenigsten dieser "Schüler" sind heute noch im allgemeinen Bewusstsein präsent: Am ehesten noch Rudolf Dreikurs, der am meisten zur Popularisierung und Internationalisierung der Individualpsychologie beigetragen hat, und Viktor Frankl, der sich gerne als "Begründer der dritten Wiener Schule" gesehen hat, "im Grunde aber nur ein Resümee von Erkenntnissen [verbreitet hat], die Freud, Adler und Jung schon lange vorher präzise formuliert hatten", wie Gerhard Danzer seine kritische Würdigung treffend zusammenfasst (S. 79).
Aber wer, außer ein paar Insidern, weiß heute noch von Carl Furtmüller, Henry Jacoby, Sofie Lazarsfeld, Alice Rühle-Gestel oder Erwin Wexberg? Zumindest die kleine individualpsychologische "Community" sollte diese frühe Mitstreiter Alfred Adlers in Erinnerung behalten, nicht nur um ihnen "ein ehrendes Andenken zu bewahren", sondern auch um den einen oder anderen gescheiten Gedanken von ihnen zu lernen – und zu staunen, wie modern diese Menschen schon vor hundert Jahren gedacht haben.
Wer sich tiefer für Individualpsychologie interessiert, sollte nicht nur ausgewählte, sondern im Laufe der Zeit tatsächlich alle diese Portraits lesen. Denn aus der Tatsache, dass uns ein Name heute nichts mehr sagt, folgt nicht, dass sein Träger uns heute nichts mehr zu sagen hätte. Wenn man dabei eine interessante Fährte entdeckt hat, machen es die Literaturhinweise leicht, sie weiterzuverfolgen. Mich persönlich haben besonders die Portraits von Ida Löwy (Margarete Eisner), Henry Jacoby (Gisela Deising) und Manès Sperber (Alfred Lévy) angesprochen – und entsprechend meine Leseliste verlängert. Nur vom dem Letzten wusste ich davor schon; Jacoby und Löwy sind Neuentdeckungen für mich.
Trotzdem machen diese Portraits auch eines klar: Eine(n) wirklichen Nachfolger/in, die/der sein Werk kongenial weitergeführt hätte, hatte Adler nicht … leider. Und so scheint sich die Vorhersage zu bewahrheiten, die ein hellsichtiger Freund Alfred Adler auf seine Frage, was von seiner Lehre bleiben werde, gegeben haben soll: "Alles, aber nicht unter deinem Namen."
Alles? Naja, vieles jedenfalls. Aber in der Tat sind viele Gedanken und Konzepte Alfred Adlers sowohl in die Alltagspsychologie als auch in neuere psychologische Theorien eingeflossen, aber kaum je wird der Bezug zu seiner Pionierarbeit hergestellt – oft wohl auch gar nicht ge- bzw. erkannt. Wobei manches auch den Eindruck macht, als müsste es immer wieder von Neuem entdeckt werden, etwa die Erkenntnis, dass wir nicht passiv durch "die Umstände" geprägt werden, sondern aktiv Entscheidungen treffen und die Verantwortung für unser Handeln haben.
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