Hochfrequenzhandel nutzt seinen Geschwindigkeitsvorteil, um sich im Wertpapiergeschäft zwischen Käufer und Verkäufer zu schalten und sie ohne jedes eigene Risiko auszunehmen: ein Geschäftsmodell zu Lasten Dritter, hochprofitabel, aber ohne Mehrwert.
Wie viele andere, glaubte auch ich, eine ungefähre Vorstellung von Hochfrequenzhandel (HFT) und dessen "Geschäftsmodell" zu haben. Ich hielt Hochfrequenzhändler – bzw. die Betreiber der entsprechenden Rechenzentren – im Kern für Arbitrageure, die minimale kurzfristige Kursdifferenzen zwischen verschiedenen Börsenplätzen ausnutzen, um Wertpapiere ein paar Cent (oder Zehntelcent) billiger einzukaufen als zu verkaufen: Ein gigantischer Aufwand ohne jede volkswirtschaftliche Wertschöpfung, aber ansonsten unerheblich.
Legalisierter Betrug
Dieses Buch hat mich eines Besseren belehrt. Danach kann man HFT im Grunde nur als legalisierten Betrug bezeichnen, und zwar zum Teil unter skrupelloser Ausnutzung der Vertrauensstellung, die Broker und Banken bei ihren Kunden haben.
Das Spiel funktioniert im Wesentlichen so: Wenn Großinvestoren – zum Beispiel Aktien- oder Pensionsfonds – größere Pakete von Wertpapieren kaufen oder verkaufen wollen, müssen sie ihre Aufträge in kleinere Pakete stückeln, um den Marktpreis nicht durch eine schlagartige starke Nachfrage bzw. durch ein plötzliches Überangebot zu ihren Ungunsten zu beeinflussen.
Die Hochfrequenzhändler bzw. deren Rechner beobachten den Markt ständig, testen ihn mit kleinen Kauf- und Verkaufsangeboten und erkennen die Muster, mit denen sich größere Aufträge abzeichnen. Wenn sie einenn solche Auftragspakete entdecken, nutzen sie ihre Schnelligkeit, um die betreffenden Papiere ein paar Millisekunden vor den Auftraggebern zu kaufen bzw. verkaufen. Dann drehen sie sich sozusagen herum und verkaufen bzw. kaufen die Papiere mit einem geringen Auf- bzw. Abschlag an die eigentlichen Auftraggeber weiter.
Das sind keine riesigen Margen, die hier abkassiert werden, es sind Zehntelprozente: Ein von Lewis zitierter Fondsmanager schätzte, dass ihm dadurch bei seinem Fondsvolumen von 900 Milliarden Dollar ein Schaden von 300 Millionen entstünde, also ein Drittel Prozent. Aber die Masse macht's: In Summe fahren die Hochfrequenzhändler gigantische Gewinne ein, die sie durch dieses sogenannte "Frontrunning" anderen Marktteilnehmern aus der Tasche ziehen, und zwar ohne jedes Risiko, weil sie ja sowohl ihren Einkaufspreis kennen als auch die Limits ihrer Opfer.
Die von ihnen abgezockten anderen Marktteilnehmer sind aber keineswegs nur Milliardäre, denen ein paar Zehntel Prozent nicht wehtun, es sind auch Pensionskassen und damit kleine Rentner.
Da die Handelsorte, Zeitpunkte und Handelswege nicht dokumentiert werden, haben die Kunden keine Chance, nachzuvollziehen, wie ihre Aufträge abgewickelt wurden. Sonst würde ihnen möglicherweise zum Beispiel auffallen, dass ihre Gegenseite erstaunlich häufig aus Hochfrequenzhändlern besteht, obwohl die eigentlich keinerlei eigene Wertpapierbestände haben. Da die Kunden all dies aber nicht erfahren, sind jene fragwürdigen Geschäfte vor Entdeckung sicher.
Banken und Broker zocken die eigenen Kunden ab
Noch skandalöser ist, dass sich an diesem Frontrunning nicht nur maskierte HFT-Raubritter beteiligen, sondern auch viele Großbanken mit ihrem sogenannten "Eigenhandel". Wer sich schon einmal gefragt hat, weshalb der "Eigenhandel" der Banken fast immer hochprofitabel ist, während er doch eigentlich nicht profitabler sein sollte als andere aktiv gemanagte Fonds, findet hier eine Erklärung. Denn anders als Wertpapiergeschäfte bedeutet HFT Gewinn (fast) ohne Risiko.
Das heißt im Klartext: Banken und Broker zocken ihre eigenen Kunden ab bzw. geben sie zur Abzocke frei, indem sie ihre Aufträge über Börsen und sogenannte Dark Pools leiten, die von Hochfrequenzhändlern beobachtet und "ausgebeutet" werden, und sie geben diesen Hochfrequenzhändlern – gegen Gebühren, versteht sich – früher als anderen Marktteilnehmern Einblicke in die Aufträge ihrer Kunden.
Die "Dark Pools" sind eine besonders tückische Einrichtung: Vorgeblich stellen Großbanken mit ihnen ihren eigenen Kunden die Möglichkeit zu Verfügung, direkt untereinander zu handeln und sich so erhebliche Gebühren für Börsen und Makler zu sparen; sie sind also eine Art interne Börse. Für die Kunden wäre das auch eine interessante Sache, wenn, ja wenn nicht Hochfrequenzhändler Zugang zu den Dark Pools hätten und den Kunden mit schnell organisierten Wertpapieren als Käufer bzw. Verkäufer gegenüberträten und sie so im Schutze der Dunkelheit ausnähmen. So kommt es, dass über die Dark Pools ein erheblich größerer Anteil von Wertpapiergeschäften abgewickelt wird als es dem Marktanteil der jeweiligen Bank entspricht.
Romanhaft-romantische Schilderung
Der Erfolgsautor Michael Lewis beschreibt diese Zusammenhänge in beinahe romanhafter Form als die Geschichte einiger engagierter Menschen, die diesem ganzen korrupten System allmählich auf die Schliche kommen und – in einem klassisch-amerikanischen Kampf der Guten gegen die Bösen – dagegen anzugehen versuchen, indem sie eine eigene Börse aufbauen, welche die Zeitvorteile der Hochfrequenzhändler zunichte macht.
Diese Art der Darstellung macht die Sache anschaulich, abschnittsweise sogar spannend, bringt aber auch viele Personenbeschreibungen, biographische Elemente und alle möglichen Geschichten mit sich, die zu den eigentlichen Erkenntnissen nichts beitragen und teilweise verwirrend sind. Das muss man mögen – ich hätte darauf auch verzichten können.
Die Personen, deren Geschichte Lewis in diesem Buch erzählt, gibt es wirklich, und, so märchenhaft es dem Leser erscheinen mag, auch die von ihnen aufgebaute neue Börse IEX existiert tatsächlich und weist inzwischen ein beachtliches Handelsvolumen auf (https://iextrading.com). Das scheint mir erwähnenswert, weil zumindest mir beim Lesen lange nicht klar war, wo hier die Grenze zwischen Fiktion und Realität verläuft.
Trotzdem war die neue Börse IEX, wie gerade erst ein neuer Bericht der Financial Times vom 9.6.2019 gezeigt hat (https://www.ft.com/content/fc1a0d44-827a-11e9-b592-5fe435b57a3b), nicht der durchschlagende Erfolg, auf den ihre Gründer gehofft hatten: Sie stagniert bei einem Marktanteil von etwa 3 Prozent, was bei insgesamt 12 amerikanischen Börsen hinter dem Durchschnitt zurückbleibt. Und die Hochfrequenzhändler versuchen offenbar nach wie vor, ihr das Wasser abzugraben – gewiss nicht moralisch, aber verständlich, da sie ihr einträgliches Geschäftsmodell bedroht.
Parasitäre Geschäftsmodelle
Jenseits aller berechtigten Empörung über den legalisierten Betrug des Hochfrequenzhandels ist es nützlich, sich bewusst zu machen, was hier eigentlich geschieht: Da werden gewaltige Summen ausgegeben (ich scheue hier das Wort "investiert"), um ein paar Millisekunden zu gewinnen, und es werden die brillantesten Köpfe eingesetzt, um neue Tricks und methodische Ansätze zu entwickeln, um noch ein bisschen mehr Geld von den ahnungslosen Kunden in die eigenen Taschen umzulenken.
Bei alledem entsteht keinerlei gesellschaftlicher Nutzen oder Mehrwert, vielmehr handelt es sich aus volkswirtschaftlicher Perspektive um eine ungeheure Ressourcenvernichtung, die durchaus vergleichbar ist mit Kriminalität oder auch mit Krieg: Für die Hauptakteure ist es (zumindest finanziell) sinnvoll, was sie tun, aber in Summe handelt es sich wegen der erforderlichen Investitionen und der angerichteten Schäden nicht um ein Null-, sondern um ein Minussummenspiel. Die beteiligten Hochfrequenzhändler, Broker und Banken bereichern sich ohne Gegenleistung an ihren Opfern.
Mit dem Begriff "parasitär" bin ich aufgrund historischer Altlasten äußerst zurückhaltend, aber im vorliegenden Fall ist die Definition von Parasitismus (Wikipedia) geradezu perfekt erfüllt: "Parasitismus, auch Schmarotzertum, im engeren Sinne bezeichnet den Ressourcenerwerb eines Lebewesens (genannt Parasit) mittels eines in der Regel erheblich größeren Organismus einer anderen Art. (…) Der auch als Wirt bezeichnete Organismus wird dabei vom Parasiten geschädigt, bleibt aber in der Regel am Leben."
Es tut weh, sich vorzustellen, was man mit dem hierfür aufgebotenen Geld, vor allem aber mit der für diesen Blödsinn eingesetzten Intelligenz an vielen anderen Stellen an gesellschaftlichem Nutzen hätte schaffen können. Und es ist deprimierend, sich derartige Tätigkeiten als Lebensinhalt und als Sinn eines Berufslebens vorzustellen. Insofern folge ich Michael Lewis völlig, wenn er kurz vor Ende seines Buchs feststellt:
"The more money to be made gaming the financial markets, the more people would decide they were put on earth to game the financial markets – and create romantic narratives to explain to themselves why a life spent gaming the financial markets is a purposeful life. And then there is maybe the greatest cost of all: Once very smart people are paid huge sums of money to exploit the flaws in the financial system, they have the spectacularly destructive incentive to screw the system up further, or to remain silent as they watch it being screwed up by others." (S. 266)
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