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Klar strukturierte Übersicht vor allem für Fortgeschrittene

Jacoby, Henry (1974):

Alfred Adlers Individualpsychologie und dialektische Charakterkunde



Fischer (Frankfurt) 6.-7.Tsd. 1989; 117 Seiten (vergriffen)


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 26.07.2019

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Ein kompaktes, aber sehr kluges Büchlein, das weniger eine Einführung für Anfänger ist als eine Fundgrube weiterführender Gedanken für Fortgeschrittene. Sehr empfehlenswert für alle, die tiefer in die Individualpsychologie einsteigen wollen.

Welch eine Entdeckung! Dieses schmale Bändchen aus der leider vergriffenen Individualpsychologie-Reihe des Fischer Taschenbuch Verlags habe ich seit 1995 herumstehen, ohne es genau angeschaut zu haben. Erst durch Gisela Deisings Jacoby-Porträt in dem Sammelband Gestalten um Alfred Adler (siehe Rezension) bin ich auf diesen kaum bekannten Adler-Schüler neugierig geworden – und die Neugier wurde mehr als belohnt.

Denn dieses Büchlein ist ein vergessenes Juwel: Trotz seines geringen Umfangs die beste und systematischste mir bekannte Gesamtschau der Individualpsychologie. Im Gegensatz zu vielen Werken Alfred Adlers, die großteils nur mitstenografierte Vortragsmitschriften sind, ist es sehr klar strukturiert, sehr kompakt und uneitel geschrieben und, einschließlich der geistesgeschichtlichen Bezüge, im Detail durchdacht.

Der Berliner Jude Henry Jacoby (1905 – 1986) war als Sozialarbeiter in Gefängnissen und Erziehungsheimen tätig und zugleich Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe. Über die sozialistischen Psychologen Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel kam er schon als Heranwachsender zu Individualpsychologie. 1933 sperrten ihn die Nazis als "Hochverräter" ins Zuchthaus, nach seiner Entlassung emigrierte er. Von 1946 bis 1968 arbeitete er in leitender Funktion bei den Vereinten Nationen in Genf.

Den Sinn seines Lebens muss man wählen, nicht finden

Schon das dreiseitige Vorwort zur 2. Auflage liefert Erkenntnisse, die ich in dieser Klarheit noch nirgendwo sonst gefunden habe: "Der Psychologe muss zwischen Erscheinung und Schein unterscheiden. Er mag zwar der Klage, dass es dem Leben an Sinn fehlt, häufig begegnen, kann aber feststellen, dass sich dahinter ein Anspruch an das Leben verbirgt, das dieses nicht erfüllen kann. Die Individualpsychologie stellt entgegen der passiven Erwartung, dass ein Sinn des Lebens gegeben sein müsste, dem Menschen die aktive Aufgabe, seinem Leben einen Sinn zu geben." (S. 6)

Das lässt ein Viktor Frankl denken, der die Sinnsuche zu seinem zentralen Thema gemacht und um sie herum seine sogenannte Logotherapie aufgebaut hat. Ich habe etliche Bücher von Frankl gelesen und einige seiner (aufgezeichneten) Vorträge gehört, aber die ebenso zentrale wie klare Aussage, dass der Sinn des Lebens nicht vorgegeben ist (und infolgedessen auch nicht "gefunden" werden kann), sondern aktiv gewählt werden muss, habe ich bei ihm nicht gelesen.

Frankl betont zwar ein ums andere Mal, wie wichtig die Sinnfrage ist und wie sehr Menschen unter einem Mangel an Sinn leiden können, aber eine Anleitung, wie man konkret zu diesem Sinn seines Lebens kommt, habe ich in seinen vielen Wiederholungen vergeblich gesucht. Jacoby liefert die Antwort geradezu beiläufig im Vorwort auf sieben Zeilen. Und so geht es weiter.

Klare Struktur und Ordnung

Obwohl 35 Jahre jünger als Adler, zeigt sich Jacoby in seinem Denken nicht als bloßer "Schüler", sondern zeigt Eigenständigkeit und gedankliche Klarheit. Er kritisiert, dass Adler seine Aussagen in der Emigration allzu sehr dem amerikanischen Publikumsgeschmack und Zeitgeist angepasst hat, was nach seiner Auffassung zu einer Verunklarung der zentralen Konzepte und Ideen und zu einer Abwendung von einem sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Leitbild geführt hat. Deshalb ignoriert er dessen späte Werke und orientiert er sich in diesem Buch vor allem an dem frühen und mittleren Adler.

Was mich an dem Bändchen besonders beeindruckt, ist zum ersten die Strukturiertheit, mit der Jacoby eine Ordnung in die oft doch recht unsystematische Argumentation Adlers bringt, zum zweiten die Breite der Bildung, mit der er Adlers Ideen und Konzepte einordnet, und zum dritten die Dichte, Konzentration und zugleich Bescheidenheit, mit der er die Leitideen der Individualpsychologie vorstellt. Angesichts der Tiefe und Breite seines Wissens hätte er ohne Zweifel auch ein sehr viel umfangreicheres Buch schreiben können, aber er breitet sein Wissen nicht aus, sondern bringt es wahrhaft auf den Punkt – so konzentriert, dass es für Leser ohne Vorkenntnisse vielleicht sogar zu dicht ist.

Schon die Kapitelüberschriften lassen die klare Struktur erkennen:

  • Alfred Adler
  • Zur Geschichte der Individualpsychologie
  • Prinzip der Totalität
  • Konzept der Kompensation
  • Die dynamischen Begriffe Minderwertigkeitsgefühl und Gemeinschaftsgefühl
  • Dialektische Charakterkunde
  • Der nervöse Charakter
  • Heilen und Bilden
  • Mensch und Gesellschaft
  • Nachwort / Bibliographie / Namens- und Sachregister

Angesichts der Dichte und Kompaktheit, mit der der Text abgefasst ist, hätte eine Zusammenfassung wenig Sinn; sie liefe Gefahr, sich der Länge des Originals anzunähern. Auch eine Kommentierung zentrale Gedanken stößt an Grenzen, weil sie, wie oben bei der Sinnfrage, viel Kontext mitliefern müsste, um aufzuzeigen, wo Jacoby über den allgemeinen Kenntnisstand hinausgeht und neue Einsichten bietet. Ich will deshalb nur einige wenige Aspekte hervorheben, die mir besonders wichtig erscheinen.

Eine dialektische Charakterkunde

Zu den Herzstücken des Büchleins wie der Individualpsychologie zählt, was Jacoby mit "Dialektische Charakterkunde" überschreibt. Zu der beliebten Streitfrage, ob bzw. in welchem Ausmaß die Persönlichkeit eines Menschen ererbt oder erworben sei, nimmt die Individualpsychologie eine sehr moderne Haltung an, indem sie feststellt, dass das ein falscher Gegensatz ist:

Natürlich kann jeder Mensch nur auf die Muster zurückgreifen, die in ihm als Möglichkeiten angelegt sind – er wird also in einer Konfliktsituation, selbst wenn er es noch so sehr möchte, nicht erzürnt davonfliegen können, und auch wenn er im Erdboden zu versinken wünscht, wird es aller Voraussicht nach beim Wunsch bleiben. Dagegen ist ihm die Möglichkeit "angeboren", erzürnt und türenschlagend wegzulaufen – aber das heißt nicht, dass es ihm angeboren ist, so zu handeln; er kann sich auch anders entscheiden.

Welche der vielen ihm prinzipiell zu Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten ein Mensch wählt und wie er sie nutzt, das charakterisiert ihn als Persönlichkeit: Es ist seine sehr individuelle Antwort auf die Fragen des Lebens, seine Stellungnahme – und die hängt davon ab, welche unbewussten oder bewussten Ziele er verfolgt und welche Haltung er zu anderen Menschen und zu sich selbst einnimmt.

Verblüffende Familienähnlichkeiten in den Charakteren lassen sich erklären, ohne die Genetik zu strapazieren: Wenn jemanden in frühesten Lebensjahren bestimmte Muster intensiv "vorgelebt" werden und das Kind mit eigenen Augen sieht, wie sie sich offensichtlich – für den jeweils verfolgten Zweck – bewähren, ist es absolut naheliegend, dass es solche Muster übernimmt, wenn es ähnliche Zwecke verfolgt.

Wenn es also zum Beispiel beobachtet, dass eine Tante mit hysterischen Tränenausbrüchen oder ein Onkel mit unbeherrschten Wutanfällen seine Umgebung terrorisiert, dann liegt es auch ohne jede Genetik nahe, ähnliche Muster zu entwickeln, wenn es seine eigenen Vorstellungen durchsetzen möchte. Und der verbreitete Glaube an angeborene Charakterzüge hilft ihm paradoxerweise sogar dabei, weil die Umgebung die Familienähnlichkeit bemerkt, sie als Beweis für die Erblichkeit betrachtet – und resigniert.

Ein zielgerichtetes Antwortsystem

Im Gegensatz dazu sieht die Individualpsychologie den Menschen "als Produzenten seines Charakters" und seinen Charakter als "eine geronnene Reaktionsweise auf die Anforderungen der Umwelt, als ein Antwortsystem. Im Re-agieren aber steckt Agieren und das Antworten setzt den Antwortenden in die Position des Subjekts." (S. 53) Mit anderen Worten, die Möglichkeiten mögen vererbt sein, doch die Art, wie sie genutzt werden, ist eine (großteils unbewusste, aber sehr gezielte und "charakteristische") Wahl.

Das hat eine große Tragweite, denn wenn der Charakter angeboren wäre, bliebe einem nur, sich damit abzufinden; wenn eine Wahl ist, kann man sich prinzipiell auch anders entscheiden. Welche Implikationen das hat, wird klar, wenn man sich jemanden mit destruktiven Charakterzügen vorstellt, etwa mit einem aufbrausenden Jähzorn, in dem alles kurz und klein schlägt. Wer den Charakter für angeboren hält, kann hier im Grunde nur resignieren – und den Betreffenden allenfalls wegsperren.

Wer den Jähzorn dagegen als ein eingeübtes Antwortmuster versteht, sieht zumindest eine Chance, dass der Betreffende auch einen anderen Weg wählen könnte, für seine Bedürfnisse zu sorgen. Das heißt natürlich nicht, dass das ein Klacks ist: Wahrscheinlich ist das ein mühsamer Weg, und vermutlich setzt er voraus, dass der Betreffende versteht, zu welchem Zweck er den Jähzorn einsetzt und welche bedrohten Bedürfnisse er damit beschützen will. Trotzdem erscheint es prinzipiell möglich.

Schlüsselrolle des Selbst- und Weltbilds

"Charakterzüge sind Kampfbereitschaften", stellt Jacoby pointiert fest (S. 54). Das heißt, sie sind keine mehr oder weniger zufälligen Merkmale, sondern stehen im Dienste unserer Bedürfnisse und Interessen, und zwar vorrangig derer, die wir am meisten bedroht sehen.

Dabei spielt eine zentrale Rolle, wie wir uns selbst und die Welt sehen: Wer Selbstvertrauen hat und sich als integrierter Teil einer Gemeinschaft sieht, für den ist ein ganz anderes Verhalten "logisch" als für jemanden, der sich nicht viel zutraut und deshalb meint, auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen zu sein, die Umgebung in seinen Dienst zu stellen.

Früh im Leben entwickeln wir so unsere "private Logik". Sie liefert uns "Schablonen", durch die wir die Welt betrachten: "Die Schablone des Misstrauens prägt den Charakter von Kindern, die frühzeitig eine lieblose Behandlung oder Vernachlässigung erfahren haben. Sie fühlen sich immer in Feindesland." (S. 57)

Weil sie sie ebenfalls als Schablone ansieht, hat die Individualpsychologie auch eine ganz eigene Sicht auf Dummheit: "Dummheit ist nach Adler eine Angelegenheit des Charakters, nicht des Intellekts. Das Kind, das man für unbegabt hält, hat das Arrangement gefunden, das es vor der Überforderung rettet." (S. 58) Solche Kinder sind nicht dumm, sie stellen sich (teils bewusst, teils unbewusst) dumm, um sich bedrohlichen Anforderungen zu entziehen.

Fließende Übergänge zwischen Charakter und Neurose

Nach der gleichen Logik betrachtet die Individualpsychologie auch neurotische Muster: nicht, wie die Psychoanalyse, als Symptom tieferliegender (sexueller oder sonstiger) Konflikte, sondern als zielgerichtete (wenngleich in aller Regel nicht bewusste) Strategie, mit den Anforderungen des Lebens umzugehen – bzw. sich ihnen zu entziehen, wenn man sich ihnen nicht gewachsen fühlt. Deshalb gibt es für sie auch keine scharfe Trennlinie zwischen Charakter und Neurose, zwischen "normal" und "abnormal" – die Übergänge sind fließend.

"Neurotische Erkrankungen sind nicht Krankheiten im naturwissenschaftlichen Sinne, sondern Verhaltensweisen, die einen verstärkten Rückzug von den Anforderungen des Lebens bedeuten: zunehmende Erweiterung der Fantasie auf Kosten des Wirklichkeitsbewusstseins." (S. 70)

"Dem nervösen Charakter geht es weniger um die Leistung als um die Geltung, die er aus ihr bezieht. 'Der Wille zum Schein' (Nietzsche) ist stark entwickelt." (S. 64) "Die 'Lebenslüge' erweist sich als eine jener Kunstgriffe, die es erlauben, sich von Verantwortung zurückzuziehen, ohne an Selbstwert zu verlieren. Die Entwertung der Welt rechtfertigt den Rückzug ebenfalls." (S. 65)

Weil die Individualpsychologie sowohl Charakterzüge als auch psychische Fehlhaltungen als sehr individuelle "zweckdienliche Arrangements" (S. 59) betrachtet, hat sie kein großes Interesse an Typologien – wieder im Bereich der Charakterkunde noch in der Krankheitslehre. Trotzdem gibt es natürlich wiederkehrende Muster im Sinne von typischen Herausforderungen, mit denen das Leben (manche) Menschen konfrontiert und ihnen dadurch eine Stellungnahme abverlangt.

Unterschiedliche Herausforderungen, individuelle Antworten

Das beginnt schon sehr früh im Leben, denn es ist ein elementarer Unterschied, ob man die Jüngste oder die Älteste ist oder irgendwo dazwischensteht. In gewisser Weise kann man die Zweitgeborenen als die Erfinder des Marketing sehen, denn sie haben nur zwei Möglichkeiten, wenn sie nicht im Schatten der Ältesten verschwinden wollen: Sie können versuchen, sie zu überholen, was angesichts des Altersunterschieds schwierig ist, oder sie können eine "Differenzierungsstrategie" wählen, also einen ganz anderen Weg einschlagen. Ist die Älteste "die Gescheite", wird die Zweite zum Beispiel "die Schöne", "die Charmante" oder "die Praktische".

Während man sich im Alltag oft wundert, weshalb Kinder so unterschiedlich sind, obwohl sie doch Geschwister sind, hat die Individualpsychologie dafür eine ganz simple Erklärung: Sie sind so unterschiedlich, weil sie Geschwister sind. Denn für die Zweite war es keine wirkliche Option, den gleichen Weg wie die Erste zu wählen – das hätte Mord und Totschlag gegeben.

Spannend ist aber: Auch wenn es charakteristische Herausforderungen gibt, sind die Antworten sehr individuell. Jeder Mensch trifft für sich eine (meist unbewusste, zuweilen auch bewusste) Entscheidung, wie er auf diese Herausforderungen antwortet. Die Antwort hängt ab von seinen Fähigkeiten, Neigungen und Begabungen, von verfügbaren "Rollenmodellen", besonders aber auch von seinem Mut und Selbstvertrauen. Je weniger er sich einer konkreten Herausforderung gewachsen fühlt, desto näher liegt es für ihn, sich auf Ausweichstrategien zu verlegen.

"Beim Neurotiker ruft ein vertieftes Minderwertigkeitsgefühl ein besonders starkes Streben nach Überlegenheit hervor, zugleich aber auch die Angst, in dieseem Streben zu scheitern. Er sucht daher ständig nach Sicherung gegen den Fehlschlag. Sein Benehmen, das der Umgebung so unvernünftig und unlogisch erscheint, kann als durchaus vernünftig gelten, wenn es unter dem Gesichtspunkt seiner privaten Zwecke und nicht vom Standpunkt der allgemeinen Vernunft betrachtet wird." (S. 71) "So besteht die Neurose weitgehend in Arrangements, die das Selbstgefühl erhalten, aber die Verantwortlichkeit aufheben sollen." (S. 73)

Klare Empfehlung vor allem für Fortgeschrittene

Das ist alles sehr durchdacht und sehr tief durchdrungen, weshalb ich das kleine Büchlein insbesondere Fortgeschrittenen ans Herz legen möchte, also Leserinnen und Lesern, die mit der Individualpsychologie bereits vertraut sind und nun Lust auf eine Vertiefung haben. Obwohl es sich auf die zentralen Gedanken und Konzepte beschränkt, dürfte es ihnen bei einer tieferen Durchdringung und Vernetzung dieses nach wie vor hochaktuellen tiefenpsychologischen Ansatzes gute Dienste leisten.

Das Buch ist vergriffen, antiquarisch aber gut (und preiswert) zu bekommen – wobei die zweite Auflage (weinrotes Cover) dem Zahn der Zeit offenbar besser widerstanden hat als die erste. Zur Beschaffung lohnt sich ein Blick ins Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher (www.zvab.com); dort ist auch eine direkte Bestellung möglich.

Schlagworte:
Individualpsychologie, Dialektische Charakterkunde, Persönlichkeitspsychologie, Minderwertigkeitsgefühle, Tiefenpsychologie, Neurosen, Neurotiker, Finalität

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