Die Idee von "Freakonomics" ist, mit unkonventionellen, aber gescheiten ökonomischen Analysen ein neues Licht auf vermeintlich längst bekannte Zusammenhänge und Erklärungsmodelle zu werfen. Das klappt in diesem Band mal besser, mal schlechter.
Von dem Vorläufer "Freakonomics" war ich hellauf begeistert, doch "Superfreakonomics" reicht in meinen Augen nicht an den Erstling von Levitt und Dubner heran. Der Chicagoer Ökonomie-Professor Steven D. Levitt und sein journalistischer Copilot Stephen J. Dubner schreiben zwar auch in diesem Buch unterhaltsam und pointiert, doch trotz einiger lichter Momente scheint es, als sei den Freaks das Pulver ausgegangen. Sich gegen den Mainstream zu stellen, indem man Außenseitern folgt, liefert nicht zwangsläufig ökonomische Erleuchtungen.
Dilettantismus weit außerhalb des eigenen Kompetenzfelds
Das wird am deutlichsten in dem umfangreichen letzten Kapitel "What Do Al Gore and Mount Pinatubo Have in Common?" Anfänglich vermitteln Levitt und Dubner noch den Eindruck, den Klimawandel in Zweifel zu ziehen, letztlich entscheiden sie sich aber doch dafür, ihn für real zu nehmen. Wobei unklar bleibt, ob sie das nur unter besseren Story willen tun oder ob es wirklich ihre Überzeugung entspricht.
Aber wenn sie dann zur Behebung des Klimawandels ein "Global Cooling" vorschlagen, das erreicht werden soll, indem über einen (sehr, sehr) langen Schlauch flüssiges Schwefeldioxid in die Stratosphäre gepumpt wird, dann wünscht man sich, die beiden Ökonomen wären bei ihrem Leisten geblieben und hätten sich auf Themen beschränkt, die mit den Methoden der Ökonomie untersucht werden können, statt sich auf Gebiete vorzuwagen, für die ihnen jede Kompetenz fehlt.
Zwar hat ihr Ansatz insofern eine reale Grundlage, als große Vulkanausbrüche tatsächlich für eine globale Abkühlung sorgen, jedenfalls sofern sie so heftig sind, dass sie ihre Asche und ihr Schwefeldioxid bis in die Stratosphäre blasen. Denn dort verteilen sich Staub und Gase zu einem wärmereflektierenden "Schutzschild", was in früheren Jahrhunderten mehrfach zu katastrophalen "Jahren ohne Sommer" geführt hat.
Aber abgesehen davon, dass es schon etwas schräg ist, die Folgen übermäßiger Emissionen mit zusätzlichen Emissionen bekämpfen zu wollen: Sofern er ständig senkrecht in den Himmel ragt, müsste ein solcher Schlauch mindestens 12 Kilometer lang sein – und noch wesentlich länger, wenn er von atmosphärischen Winden und Stürmen abgelenkt, verdreht und umhergewirbelt wird. Samt seiner Füllung würde er im Wind vermutlich spektakuläre Bewegungen ausführen, bei denen das obere Ende längst nicht immer in der Stratosphäre verweilt. Und falls er nicht von den Stürmen zerfetzt wird, dürfte er sich innerhalb kürzester Zeit so verschlingen, dass kaum noch Schwefeldioxid an sein Ziel gelangt.
Als mögliche Alternative zu diesen Schläuchen schlagen sie vor, die Schornsteine von Schwefeldioxid-erzeugenden Kraftwerken so hoch zu bauen, dass sie ihre Abgase in die Stratosphäre blasen – was ohne Zweifel interessante statische Herausforderungen mit sich brächte. Ich bin nicht sehr verwundert, weshalb wir in den zehn Jahren, die seit Erscheinen des Buches vergangen sind, nichts mehr von diesen Vorschlägen gehört haben – und ich glaube nicht, dass das an einer Verschwörung liegt.
Aber was haben Al Gore und der Vulkan Mount Pinatubo denn nun gemeinsam? "The answer is that Gore and Pinatubo both suggest a way to cool the planet, albeit with methods whose cost-effectiveness are a universe apart." (S. 196) Ein etwas matter Scherz.
Trotzdem auch neue und überraschende Erkenntnisse
Trotz derartiger Fehlleistungen bringt auch "Superfreakonomics" wieder ein paar neue, (wenigstens für mich) überraschende Erkenntnisse. Die, die sich mir am meisten eingeprägt hat, war, wie größere Städte vor dem Aufkommen des Automobils ausgesehen haben. Ich muss zugeben, dass von dem nostalgisch-idyllischen Bild, das ich da im Kopf hatte, nach der Lektüre wenig übriggeblieben ist: Da Pferdewagen das mit Abstand wichtigste Transportmittel waren, ertranken die Städte buchstäblich im Pferdemist. "The average horse produced about 24 pounds of manure a day. With 200,000 horses, that's nearly 5 million pounds of horse manure." (S. 9)
Der Pferdemist sammelte sich an den Straßenrändern und bildete dort Wälle. Um Entlastung zu schaffen, wurde er auf freie Grundstücke geschaufelt, wo er sich bis zu 30 Fuß hoch stapelte. Angesichts des Geruchs und des Ungeziefers lässt das schon bei trockenem Wetter kein sehr romantisches Bild aufkommen; in längeren Regenperioden wird es endgültig zum Albtraum: Eine eklige Brühe, die in Keller und Hausgänge schwappt. Irgendwann beschlich mich beim Lesen die Ahnung, dass der Begriff "Straßenkot", auf den man in älteren Texten zuweilen trifft, vielleicht doch mehr war als ein eigenartiger obsoleter Ausdruck.
Weiter waren Pferdewagen schwerer zu beherrschen als Autos, mit verheerenden Folgen: "In 1900, horse accidents claimed the lives of 200 New Yorkers, or 1 of every 17,000 residents." (S. 9) Im Vergleich dazu ist der heutige Straßenverkehr eine relativ sichere Angelegenheit. Auch sonst hatten die vielen Pferde ihren Preis: Für die Ernährung von Zugtieren wurde ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche benötigt. Und das ständige Quietschen der eisernen Radreifen und das Geklapper der Hufeisen war für die Bewohner der Städte offenbar noch nervenzehrender als der heutige Verkehrslärm.
Aber das ist noch nicht alles: So wie heute Autos, blieben damals zuweilen Pferde liegen – im wörtlichen Sinne. Doch im Gegensatz zu heute gab es damals weder Abschleppwagen noch Kräne, mit denen man verendete Pferde aufladen und wegschaffen konnte. Also wurden sie provisorisch auf die Seite gezerrt oder blieben liegen, bis sie soweit verwest waren, dass man sie zersägen und in Teilen abtransportieren konnte.
Angesichts dieser gründlich getrübten Idylle wird verständlich, weshalb das Aufkommen der Autos und vor allem der Lastwagen als Erlösung empfunden wurde: Sie lärmten und stanken zwar auch, aber ihre Hinterlassenschaften waren nach der nächsten Straßenecke verflogen. Und selbst aus ökologischer Sicht wird man dem kaum widersprechen können, weil Pferdedung unglaublich viel Methan abgibt und daher als Klimakiller mit dem Auto mehr als mithalten kann.
(He, soll das etwa heißen, das Reiten klimaschädlich ist? Nur wenn man Pferde dafür verwendet.) (Übrigens, eine interessante ökonomische Analyse, die Levitt und Dubner leider nicht anbieten, wäre, was klimaschädlicher ist: einige Stunden Reiten [mit Pferd] oder der Verzehr eines [Pferde-]Steaks.)
Falsche Gewissheiten – oder: "Check the Data"
Zu den wichtigeren Kapiteln des Buchs zählt das dritte "Unbelievable Stories about Apathy and Altruism", das sich mit einigen in den Sozialwissenschaften fest verankerten Gewissheiten über menschliches Sozialverhalten auseinandersetzt. Zu den vermeintlich gesicherten Erkenntnissen gehört, dass Menschen im öffentlichen Raum häufig nicht die Zivilcourage aufbringen, bei vor ihren Augen stattfindenden Gewalttaten einzuschreiten oder wenigstens die Polizei zu alarmieren.
Das Paradebeispiel dafür ist der Mord an Kitty Genovese, einer jungen Frau, die im März 1964 in einem guten Viertel von New York nachts auf offener Straße dreimal mit dem Messer angegriffen und schließlich erstochen wurde, ohne dass nach einem Bericht der Polizei auch nur einer der zahlreichen Augenzeugen – die Rede ist von 38 Personen – etwas unternommen hätte. Dieses skandalöse Desinteresse schockiert die Öffentlichkeit bis heute und löste heftige Diskussionen in der Fachwelt aus, die dem Phänomen schließlich sogar einen Namen gab, nämlich "Bystander Apathy" oder "Bystander Effect".
Neuere Recherchen ergaben, dass diese häufig kolportierte Geschichte so, wie sie die Polizei darstellte, wohl nicht stimmt – was zwangsläufig auch die gesamten Schlussfolgerungen in Frage stellt, die in den Sozialwissenschaften daraus abgeleitet worden, bis hin zu der Frage, ob es den viel zitierten "Augenzeugeneffekt" so, wie beschrieben, überhaupt gibt.
In Wirklichkeit hatte die Polizei sehr wohl einen Anruf erhalten, darauf aber nicht richtig reagiert – und der Darstellung zu ihrer eigenen Entlastung einen gewissen "Spin" gegeben, sodass es so klang, als hätten zahlreiche Beobachter über eine halbe Stunde lang fasziniert bei dem Mord zugesehen. Tatsächlich gab es nur zwei Angriffe, die an verschiedenen Orten stattfanden, und zwar mitten in einer kalten, dunstigen Nacht, in der die allermeisten Leute natürlich nicht in ihren Fenstern lagen, sondern in ihren Betten und schliefen.
Auf die Hilfeschreie eilten wohl etliche an die Fenster, konnten in der Dunkelheit und in dem Dunst aber nicht viel erkennen. Viele gingen angeblich von einem Partnerschaftsstreit aus, aber nachdem der Mann weggelaufen war und die Frau sich aufrappelte und schwankend in eine andere Richtung ging, unternahmen sie weiter nichts. Ein junger Mann berichtete glaubhaft, er habe aus dem Fenster geschrien, sei deswegen aber von seinem Vater zurechtgewiesen worden. Ein Augenzeuge rief die Polizei an, was dort auch registriert ist; allerdings hatte er nicht die offizielle Notrufnummer verwendet.
Der zweite, tödliche Angriff fand zudem an einem anderen Ort statt, der aus der Nachbarschaft des ersten nicht einsehbar war. Insgesamt ist das Verhalten der Augenzeugen sicherlich alles andere als vorbildlich, aber es ist weit davon entfernt, dass 38 Personen herumstanden und voyeuristisch dabei zugesehen hätten, wie eine junge Frau abgeschlachtet wird. Deshalb stehen auch all die Ableitungen, die die aus diesen falschen Annahmen über die Tatsachen gezogen wurden, auf tönernen Füßen. Formal logisch: "Aus einer falschen Prämisse folgt Beliebiges."
Die Lehre daraus ist? Bevor man aus Polizei- oder Presseberichten irgendwelche Schlussfolgerungen und gar sozialwissenschaftliche Theorien ableitet, prüfe man den Sachverhalt. Oder, in den unnachahmlichen Worten eines Kollegen auf die Frage, was er täte, wenn morgen die Welt unterginge: "Check the data."
Zweifelhafte Verallgemeinerungen
Zu Recht kritisch setzt sich dieses Kapitel auch mit zahlreichen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und Experimenten auseinander, etwa dem berühmten Milgram-Experiment, in dem studentische Versuchsteilnehmer bereit waren, unkooperativen Versuchspersonen tödliche Stromstöße zu versetzen, oder dem Gefängnis-Experiment von Philip Zimbardo, dass nach wenigen Tagen abgebrochen werden musste, weil die Brutalität und der Sadismus der fiktiven Wärter völlig aus dem Ruder liefen.
Die Autoren bezweifeln nicht den tatsächlichen Verlauf dieser Experimente, wohl aber die Generalisierungen, die daraus abgeleitet wurden. Denn wenn Menschen – in aller Regel Studienanfänger – an etwas teilnehmen, was erklärtermaßen ein Experiment ist, hat alles, was sie in diesem Rahmen tun, zu einem gewissen Grad einen fiktiven Charakter: Es ist ein Experiment, eine Art Spiel unter wissenschaftlicher Aufsicht. Aus dem, was in solch einem Setting geschieht, lässt sich nicht ohne eine Reihe von unbewiesenen Zusatzannahmen ableiten, dass sich Menschen in einer Alltagssituation, in der sie selbst für ihr Handeln verantwortlich sind, gleichermaßen verhalten würden.
Ähnliches lässt sich auch über etliche Experimente sagen, in denen es um Altruismus ging. Wenn Versuchspersonen zum Beispiel im Labor dazu aufgefordert werden, zu entscheiden, wie sie eine Geldsumme, die ihnen gerade zugeteilt wurde, mit einer anderen Versuchsperson teilen würden, dann geben die allermeisten einen nennenswerten Betrag – etwa ein Drittel – an den anderen Teilnehmer ab.
Daraus weit reichende Schlussfolgerungen über Altruismus abzuleiten, finden Levitt und Dubner völlig unangebracht. Denn schon die schlichte Tatsache, dass den Versuchspersonen bewusst ist, dass sie beobachtet werden, lenkt ihr Verhalten in Richtung sozialer Erwünschtheit. Führt man ein ähnliches Experiment unter Realbedingungen durch, also ohne dass es als Experiment gekennzeichnet und ohne dass eine Beobachtung ersichtlich ist, bleibt, so die Autoren, von dem vermeintlichen Altruismus wenig übrig.
Ein unterhaltsamer "Reader's Digest"
So spannend solche Informationen sind und so sehr sie in einzelnen Fällen zur Korrektur falscher Annahmen und Erklärungsmodelle beitragen können, die Geschichten bleiben anekdotisch und reichen über das spezielle Thema, das sie gerade beleuchten, selten hinaus: Ein Reader's Digest interessanter Befunde, leicht und unterhaltsam zu lesen, aber nichts, aus dem richtungsweisende Erkenntnisse zu gewinnen wären.
Das Themenspektrum reicht, wie der Untertitel erahnen lässt, von Prostitution und Terrorismus über Kindbettfieber und das vielbeschworene "Gender Pay-Gap" bis zur Beurteilung der Qualität von Ärzten und der Optimierung von Notaufnahmen. Ohne neue Erkenntnisse kommt man ganz gewiss nicht aus der Lektüre heraus – einschließlich der unter Umständen lebensrettenden Ableitung, dass es bei Erkrankungen, außer in wirklichen Notfällen, gesünder ist, zuhause zu bleiben, als ins Krankenhaus zu gehen.
Insofern kann ich trotz der genannten Einschränkungen eine bedingte Empfehlung für das Buch aussprechen, zumal es auch auf Englisch ziemlich mühelos zu lesen ist, wenn man zwischendurch ein paar Wörter nachschlägt: Falls Sie schon immer die Absicht hatten, einmal damit anzufangen, englische Bücher im Original zu lesen, aber ahnen, dass Sie "harte Fachliteratur" kaum durchstehen werden, könnte "Superfreakonomics" genau der passende nächste Schritt sein. (Das Vorgängerwerk "Freakonomics" wäre allerdings eine ernstzunehmende Alternative.)
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