So schlüssig und einleuchtend die klassischen Großgruppenformate sind, so herausfordernd kann es sein, sie auf konkrete (und oftmals ebenso komplexe wie komplizierte) Anwendungssituationen zuzuschneiden. Vier erfahrene Profis zeigen, wie es geht.
Als Autor des Vorworts und langjähriger Kooperationspartner der "frischer wind ag" bin ich weder neutral noch objektiv, was dieses Buch betrifft – aber dafür kann ich aus eigener Anschauung bestätigen, dass Paul Krummenacher, Petra Neff, Inger Schjold und Britta von Wurstemberger ihr Geschäft verstehen: Sie zählen für mich zu den besten und erfahrensten Großgruppenmoderatoren im deutschen Sprachraum.
Bestätigen kann ich auch, dass sie die Funktionsweise wie die Erfolgsfaktoren von Großgruppen sehr gut vermitteln können. Ich bin selbst 2004 über ihre jährliche "Lernwerkstatt" mit dieser faszinierenden Form von sozialen Prozessen vertraut geworden und halte mich seither an die Schweizer Kolleginnen und Kollegen, wenn ich in einem meiner Projekte eine kompetente Großgruppenmoderation brauche.
Trotzdem ist ein "Warnhinweis" angebracht: Dies ist kein Buch für Anfänger. Wer mit den verschiedenen Großgruppen-Formaten noch überhaupt nicht vertraut ist, sollte besser auf andere Quellen zurückgreifen – oder gleich die "Lernwerkstatt" besuchen, wo sie bzw. er diese Methoden nicht nur erklärt bekommt, sondern auch gleich praktisch erlebt.
Zwar werden die wichtigsten Großgruppenformate im ersten Kapitel knapp rekapituliert, und das reicht zur Auffrischung – aber es reicht nicht, um sie ohne Vorkenntnisse von Grund auf neu kennenzulernen.
Der Schwerpunkt der "Praxis der Großgruppenarbeit" sind anspruchsvolle Anwendungsfälle. Das Buch beginnt damit dort, wo andere aufhören – nämlich da, wo es darum geht, die urdemokratische Idee von partizipativen Prozessen und die ausgearbeiteten methodischen Großgruppenformate mit der konkreten Realität eines Change-Projekts oder eines gesellschaftlichen Konflikts zusammenzubringen.
Denn da steht man auf einmal vor Fragen, auf die einem die abstrakten Formate keine Antwort geben, wie zum Beispiel: Wie geht man mit "Altlasten" aus der Vorgeschichte um, die es wohl in jedem sozialen System gibt? Wie moderiert man einen "heißen Konflikt", ohne dass er sich mittendrin entzündet und einem um die Ohren fliegt? Wie geht man mit Fällen um, in denen es keine "Systemspitze" gibt, also keine durchgängige Hierarchie, und deshalb auch keine oberste Führungsebene, an die man sich für Entscheidungen halten könnte?
Das Buch ist in vier Hauptteile gegliedert, die unterschiedliche Herausforderungen an die Gruppenmoderation widerspiegeln: "Schwierig und komplex" (zum Beispiel in einer angespannten Konfliktlage, bei zahlreichen Interessengruppen oder einer fehlenden letztinstanzlichen Entscheidungsebene), "Mehrstufig und langfristig" (wenn aufgrund gegebenen Strukturen mehrere parallele Konferenzen durchgeführt und konsolidiert werden müssen und/oder wenn ein längerfristig angelegte Entwicklungsprozess in Großgruppenform organisiert werden soll), "Groß und aufwendig" (bei sehr hohen Teilnehmerzahlen), sowie "Kurz und knackig" (bei sehr engem Zeitrahmen).
Daran schließen sich noch ein vorletztes Kapitel "Und vieles mehr" (Produktschulung, Kongress, Kickoff, Verbandstagung) sowie eines abschließendes über "Entwicklungen" (Barcamp, Art of Hosting, Agilität, virtuelle Konferenzen, Open Space Online, Design Thinking) an. Darin unterstreichen die Autorinnen, wie sehr das ganze Feld in Bewegung ist: "Es würde uns daher nicht wundern, wenn wir für eine zweite Auflage unseres Buchs dieses Kapitel neu schreiben müssten." (S. 144)
Wohltuend ist: Die Autorinnen reden bei alledem nicht über "müsste", "sollte" und "könnte", sondern immer über konkrete praktische Fälle. In die geben sie auch tiefe Einblicke, und zwar nicht zu überflüssigen Details, sondern über die Knackpunkte der jeweiligen Prozesse. All das gelingt ihnen auf, verglichen mit meinen eigenen Büchern, knappen, ja geradezu wortkargen 150 Seiten.
Obwohl ich die Schweizer "Grossgrüppler" und ihre Gedanken und Methoden nun schon eine Weile kenne, ist ihre "Praxis der Großgruppenarbeit" für mich eine exzellenter Überblick darüber, wie man vorgehen kann und woran man denken muss, wenn die Fragestellung, mit der man gerade konfrontiert ist, ausnahmsweise wieder mal nicht ganz trivial ist.
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