Obwohl es dem Buch an einem klaren roten Faden fehlt und die Aneinanderreihung von Befunden ein wenig willkürlich wirkt, bietet es eine Fülle wertvoller Einsichten und kluger, empirisch gestützter Anregungen. Die Lektüre wert!
Eines der schönsten Cover, an die ich mich erinnere: Ein buntfarbiger Kranz auf weißem Grund in hochwertigem Reliefdruck, ist nicht das einzige, was dieses Buch außergewöhnlich macht. Außergewöhnlich ist auch, dass es mit nach der Lektüre schwerfällt, seine zentrale(n) Aussage(n) auf den Punkt zu bringen, während mir zugleich einige Einzelaussagen sehr eindrücklich in Erinnerung sind.
"Frenemies" sind schlimmer als Feinde
Also beginne ich entgegen jeder Systematik mit genau diesen Einzelaussagen. Diejenige, die mir am markantesten in Erinnerung ist, welch verheerende Folgen emotionale Wechselbäder haben. Nach Grant hat man im Leben nicht nur Freunde, die einen (fast) immer unterstützen, und Feinde, die einen (fast) immer bekämpfen, man hat auch "frenemies – people who sometimes support you and sometimes undermine you." (S. 129)
Man würde vermuten, dass die Menschen, die einen manchmal unterstützen und manchmal attackieren, irgendwo in der Mitte zwischen den wahren Freunden und den erbitterten Feinden rangieren. Aber das ist ein Irrtum, wie eine Studie von Michelle Duffy und Kolleginnen mit Polizeioffizieren gezeigt hat:
"What happened when the undermining colleague was also supportive at times? Things didn't get better; they got worse. Being undermined and supported by the same person meant even lower commitment and more work missed. Negative relationships are unpleasant, but they're predictable: if a colleague consistently undermines you, you can keep your distance and expect the worst. But when you're dealing with an ambivalent relationship, you're constantly on guard, grappling with questions about whether that person can actually be trusted. As Duffy's team explains, 'It takes more emotional energy and coping resources to deal with individuals were inconsistent.'" (S. 130f.)
Auch der Psychologe Bert Uchino hat herausgefunden, "that ambivalent relationships are literally unhealthier than negative relationships." (S. 131) Sie führen zu einem höheren Grad von Stress, Depression und Unzufriedenheit mit dem Leben (!). Und zu allem Übel wirkt sich das offenbar nicht nur auf die Beziehung zu den betreffenden Personen aus, sondern strahlt auf die gesamte Befindlichkeit aus.
Destruktive Beziehungen
Diese Befunde finde ich ausgesprochen bedeutsam. Sie erklären ein Phänomen, das ich schon immer intuitiv wahrgenommen habe, bislang aber weder formulieren noch erklären konnte: Dass Beziehungen, in denen man nie weiß, ob man als nächstes ein Kompliment bekommt oder eine auf den Deckel, zu den anstrengendsten und belastendsten überhaupt zählen. Es erklärt auch, weshalb manche Menschen auf alles, was ihnen begegnet, prinzipiell erst einmal defensiv und misstrauisch reagieren, auch auf freundliche Zuwendung – und was das eigene Verhalten damit möglicherweise zu tun haben könnte.
Zugleich macht es destruktive Prozesse in privaten wie beruflichen Beziehungen erschreckend klar und verständlich. Wenn in einer Ehe, in Eltern-Kind-Beziehungen, in der Beziehung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern oder auch unter Kolleginnen (bis hinauf in den Vorstand) soweit gekommen ist, dass manche der Beteiligten reflektorisch nörgeln und die anderen ebenso reflektorisch defensiv reagieren, dann ist eine gefährliche Dynamik im Gang, die immer weiter zu eskalieren droht. Bei Ehepaaren hat man dann als Beobachter zuweilen das Gefühl, sie arbeiten sich, ohne es zu merken, ihrer Scheidung entgegen.
Trotzdem scheint mir Grants Empfehlung etwas zu schnell gesch(l)ossen:
"Our instinct is to sever our bad relationships and salvage the ambivalent ones. But the evidence suggests we ought to do the opposite: Cut our frenemies and attempt to convert our enemies." (S. 131)
Das ist nicht nur in der Familie schwierig, auch im Beruf hat es einen so hohen Preis, dass es sich lohnt, über Alternativen zu einer Trennung zumindest nachzudenken. Nach meiner Erfahrung kann es durchaus zu einer Entspannung und schrittweisen Normalisierung beitragen, wenn man sich an Theo Schoenakers Empfehlung hält, konsequent auf negative Bemerkungen zu verzichten: "Wenn dir ein bissiger Kommentar auf der Zunge liegt, lass ihn dort liegen!" Desgleichen hilft sein Rat, Probleme nicht aufzubauschen und aufzublasen: "Mach's nicht so wichtig!"
Ehemalige Feinde sind die besten Unterstützer
Trotzdem hat Grant ohne Zweifel einen Punkt, wenn er feststellt: "Our best allies aren't the people who have supported us all along. There are the ones who started out against us and then came around to our side." (a.a.O.) Und das aus drei Gründen: Erstens nehmen wir es leicht für selbstverständlich, wenn uns jemand immer unterstützt. Wenn dagegen ein früherer Kritiker zum Unterstützer wird, hat das viel größeres Gewicht. Das heißt, wir reagieren stärker auf Veränderungen als auf den Fortbestand des Status quo.
Zweitens ist die Beziehung mit konvertierten Opponenten besonders stark, und zwar beiderseits. Denn für sie wie für uns ist es eine erhebliche emotionale Anstrengung, den negativen ersten Eindruck zu überwinden. Genau deswegen wollen wir wie sie nach Möglichkeit vermeiden, uns erneut der kognitiven Dissonanz auszusetzen, die eigene Meinung ein weiteres Mal ändern zu müssen. Deshalb sind beide Seiten besonders daran interessiert, eine positive Beziehung aufrechtzuerhalten.
Drittens schließlich haben konvertierte Gegner die stärkste Außenwirkung auf Dritte. Als frühere Gegner sind sie glaubwürdiger als andere, die schon immer Parteigänger waren; darüber hinaus hat ihr Wort besonderes Gewicht, weil sie erklären können, weshalb sie als frühere Gegner ihre Meinung geändert und sich auf die Unterstützerseite geschlagen haben.
Aber obwohl Grant mit diesen Punkten ohne Zweifel recht hat: Am tiefsten beeindruckt und berührt hat mich die oben beschriebene Erkenntnis, wie destruktiv sowohl für die Gesundheit und das Selbstbewusstsein als auch für das Zusammenleben ambivalente Beziehungen sind, also Menschen, bei denen man nie weiß, ob man als nächstes eine Umarmung oder einen Eimer Wasser über den Kopf bekommt. Und wie schädlich es für das eigene engste Beziehungsumfeld ist, wenn man sich selbst so verhält.
Das alleine wäre dem Preis und die Lektüre des Buches wert – aber "Originals" hat noch mehr zu bieten. Deshalb mokiere ich mich an dieser Stelle auch nicht weiter über die Frage, was all das, was ich bis hier referiert habe, mit dem eigentlichen Thema des Buches zu tun hat: Soweit ich erkennen kann, ziemlich wenig, aber der Exkurs war es wert.
Aber nun wird es Zeit für etwas mehr Systematik. Beginnen wir mit dem Autor: Er ist Professor für Organisationspsychologie und war nach Angaben auf dem Umschlag "the highest-rated teacher at Wharton, one of the world's top business schools, for four straight years".
Notorische Suche nach besseren Alternativen
"Originality is taking the road less traveled", stellt Grant eingangs fest (S. 3) und macht darauf aufmerksam, dass man einen ersten Hinweis auf die Originalität eines Menschen dem von ihm verwendeten Webbrowser entnehmen könne. Das höre ich als notorischer Firefox-Nutzer, der immer mal wieder auch Opera und Chrome ausprobiert, natürlich gerne, und erst recht die Begründung: "The hallmark of originality is rejecting the default and exploring whether a better option exists. I've spent more than a decade studying this, and it turns out to be far less difficult than I expected." (S. 7)
Es ist mir in meinem Leben noch nicht oft passiert, dass jemand meine (zugegebenermaßen ausgeprägte) Neigung, mich nicht mit den gemachten Vorgaben zufriedenzugeben, sondern nach besseren Alternativen zu suchen, positiv konnotiert. Meistens eckte ich damit in meiner Umgebung eher an – aber auch dafür liefert Grant eine Erklärung: "Research demonstrates that it is the most creative children who are the least likely to become the teacher's pet." (S. 9)
Vor allem unsichere Lehrerinnen (und Chefs) betrachten es offenbar als Angriff auf ihre höher bezahlte Weisheit, wenn man sich mit den von ihnen vorgegebenen Lösungen nicht zufrieden gibt, und reagieren beleidigt und ärgerlich. Insofern hatte ich wohl wirklich großes Glück, bei meinem ersten (und letzten) richtigen Arbeitgeber mit BCG an eine Firma geraten zu sein, die solchen Nonkonformismus nicht nur verbal fordert, sondern ihn wirklich förderte und honorierte.
Dagegen widerlegt Grant den Mythos, dass Originalität sehr hohe Risikobereitschaft erfordere – und auch darin finde ich mich wieder. Beispielsweise sind Unternehmensgründer entgegen gängigen Meinungen erfolgreicher, wenn sie nicht alles auf eine Karte setzen, sondern ihren bisherigen Job zunächst behalten, bis die eigene Firma läuft: "If you're risk averse and have some doubts about the feasibility of your ideas, it's likely that your business will be built to last. If you're a freewheeling gambler, your startup is far more fragile." (S. 17)
Ermutigung zur Eigenwilligkeit
Wenn ich ehrlich bin, meine ich all das nicht ganz so locker wie ich es hier beschreibe. Ich empfinde Grants Feststellungen nicht bloß als bestätigend (und ein bisschen schmeichelhaft), sondern vor allem als entlastend. Wenn man seinen eigenen Weg geht, hat man – oder habe wenigstens ich – schon manchmal das Gefühl, dass man – ich – eigentlich anders sein sollte als ich bin: Risikobereiter als Unternehmer, stärker bereit, mich an die Vorgaben zu halten, weniger störrisch im Beharren auf den eigenen Weg – mit einem Wort: "normaler", "angepasster".
Da finde ich es schon tröstlich, meine Eigenwilligkeiten eingebettet zu finden in überindividuelle Muster, statt immer bloß, wie es der CSU-Rebell Josef Göppel ausgedrückt hat, "das Pferd zu sein, dass quer im Stall steht". Schon deshalb kann, muss und will ich dieses Buch allen empfehlen, die zuweilen auch quer im Stall stehen und ihr Ich-Ideal nicht bloß in einer möglichst schattenwurffreien Anpassung an den Mainstream sehen.
Auf die Auswahl kommt es an
Dass Grant und sein Buch selbst ein Original sind, zeigt sich spätestens im zweiten Kapitel "Blind Investors and One-Eyed Investors – The Art and Science of Recognizing Original Ideas". Während alle Welt von Brainstorming und neuen Methoden der Ideenfindung redet, stellt er trocken fest: "The biggest barrier to originality is not idea generation – it's idea selection." (S. 31) Was auf den zweiten Blick auch einleuchtet, denn die tollste Ideensammlung nützt nichts, wenn man hinterher aufs falsche Pferd setzt.
Bei der Auswahl der richtigen Idee ist es eine vergebliche Hoffnung, auf die eigene Intuition zu vertrauen: "Our intuitions are only accurate in domains where we have a lot of experience", stellt er mit Bezug auf den Forscher Erik Dane fest (S. 51). Deshalb können auch erfolgreiche Unternehmer und sehr erfahrene Investoren in ihrem Urteil völlig daneben liegen, wenn sie sich auf Felder vorwagen, auf denen sie nicht auskennen.
Andererseits setzt die Auswahl der richtigen Ideen ein gewisses Maß an Distanz voraus: Je näher man an eine Idee dran ist, entweder weil man sie selbst hatte oder sie an Kindes statt angenommen hat, desto größer ist die Gefahr von "Overconfidence", also einer allzu optimistischen Bewertung. Etwas Distanz hilft, um die Spreu vom Weizen zu trennen, einen realistischen Wettbewerbsvergleich zu machen und sich dem "Confirmation Bias" zu entziehen.
Deshalb waren "Manager" besser als die Erfinder selbst, wenn es um die Bewertung von Ideen ging. Aber noch besser waren die Kollegen der Erfinder: Vermutlich von der Grundeinstellung her skeptisch, im Einzelfall vielleicht auch missgünstig, aber offenbar bereit, nicht nur auf Schwachpunkte hinzuweisen, sondern wirklich erfolgversprechende Ideen auch als solche anzuerkennen.
Quantität korreliert mit Qualität
Trotzdem spielt auch die schiere Quantität eine Rolle. Die Forscherin Ina Glass hat bei Wissenschaftlern und Künstlern untersucht, wodurch sich die Genies von der Masse unterschieden, und dabei die schlichte Anzahl ihrer Werke als zentralen Erfolgsfaktor ausgemacht: "If you want to be original, the most important possible thing you could do is do a lot of work. Do a huge volume of work." (S. 36f.)
Die gängige Meinung, dass Qualität und Quantität in einem unauflösbaren Widerspruch stünden, dass jemand also entweder viel publiziert oder Erstklassiges, ist offenbar empirisch falsch: "In fact, when it comes to idea generation, quantity is the most predictable path to quality." (S. 37) Oder, in dem plakativen Satz von Dean Kamen: "You gotta kiss many frogs, before you find a prince." (S. 38)
Andererseits kann Erfahrung auch hinderlich sein: Je mehr jemand die ungeschriebenen Selbstverständlichkeiten seiner Branche verinnerlicht hat, desto mehr können genau diese stillschweigenden Prämissen auch zum Handicap bei der unvoreingenommenen Bewertung neuer Ideen werden.
Umgekehrt scheint die Weite des Blickfelds der Originalität zugute zu kommen. So ist unter Nobelpreisträgern der Anteil aktiv künstlerisch engagierter Menschen deutlich höher als unter ihren nicht dekorierten Kollegen: "The Nobel Prize winners were dramatically more likely to be involved in the arts than less accomplished colleagues." (S. 46)
Aufschieben ist besser als sein Ruf
Das dritte Kapitel "Out on a Limb – Speaking Truth to Power" behandelt eine wichtige Fragestellung, nämlich wie man Menschen in Hierarchien dazu bewegen kann, auch "nach oben" den Mund aufzumachen. Doch so wichtig dies ist, mit dem eigentlichen Thema dieses Buchs hat es allenfalls lose zu tun, deshalb lasse ich es hier unberücksichtigt.
Näher am Thema ist das vierte Kapitel "Fools Rush In – Timing, Strategic Procrastination, and the First-Mover Disadvantage". Die Überschrift gibt bereits eine gute Zusammenfassung: Wie eine Reihe von Untersuchungen zeigen, ist die gefürchtete "Aufschieberitis", also das Verschleppen von Aufgaben zwar möglicherweise ein Nachteil für die eigene Produktivität, aber ein Vorteil für die Innovationskraft.
Und zwar vermutlich deshalb, weil, wer Aufgaben vor sich her schiebt, sich in Gedanken eben doch mit diesen Aufgaben befasst und in der Phase des Aufschiebens alle möglichen Impulse einsammelt, die letztlich der Originalität des Ergebnisses zugute kommen. "Employees who procrastinated regularly spent more time engaging in divergent thinking and were rated significantly more creative by their supervisors." (S. 95)
Auch den vielbeschworenen First-Mover-Advantage stellt Grant in Frage. "Pioneers were about six times more likely to fail than settlers", stellt er unter Berufung auf eine Studie fest: "Surprisingly, the downside risks of being the first mover are frequently bigger than the upside." (S. 104) Allerdings ist das Bild, das die Forschung liefert, uneindeutig; es scheint auch die Branche eine Rolle zu spielen, beispielsweise der Stellenwert von Patenten. Aber immerhin: Wenn das Sprichwort von dem frühen Vogel zutrifft, hängen die Vorteile eines Frühstarts stark davon ab, ob man ein Vogel oder ein Wurm ist.
Trojanische Pferde
Die eingangs zitierten Befunde, die mich so beeindruckt haben, stammen aus dem fünften Kapitel "Goldilocks and the Trojan Horse – Creating and Maintaining Coalitions", über das der Autor schreibt: "This chapter examines how originals form alliances to advance their goals, and how to overcome the barriers that prevent coalitions from succeeding." (S. 116).
Was er darin schreibt, ist durchaus klug, aber es unterscheidet sich in meinen Augen wenig von dem, was auch sonst jeder tun sollte, der eine Sache voranbringen möchte, um Verbündete für seine Vorhaben oder Ziele zu finden. Insofern bin ich auf den zweiten Blick nicht mehr überrascht, weshalb ich den Brückenschlag zum Thema des Buches unmittelbar nach der Lektüre nicht hinbekommen habe.
Auch wenn er feststellt, "originals must often become tempered radicals" (S. 124) oder "originals occasionally need to reframe their ideas to appeal the audience" (S. 141), dann könnte hier statt "Originals" auch ein beinahe beliebiges anderes Subjekt stehen. Denn natürlich muss sich auch jede andere, die Mitstreiter finden will, auf die Sichtweisen und Bedürfnisse ihrer Adressaten einstellen.
Zum Original geboren und erzogen
Das sechste Kapitel "Rebel with a Cause – How Siblings, Parents, and Mentors Nurture Originality" nähert sich den Originalen von einer ganz anderen Seite, nämlich von der Familienkonstellation her, in der sie aufgewachsen sind. Das freut mich natürlich als Individualpsychologen, dass Grant dieses alte, fast in Vergessenheit geratene Thema Alfred Adlers wiederentdeckt und feststellt: "When I examined the data, birth order was a better predictor of personality and behavior than I expected." (S. 155)
Das ist zwar strenggenommen nur eine Aussage über seine Erwartungen, nicht über die Befunde, aber die folgen mit Bezug auf neuere Forschung: "Firstborns tend to be more dominant, conscientious, and ambitious, laterborns are more open to taking risks and embracing original ideas. Firstborns tend to defend the status quo; laterborns are inclined to challenge it." (S. 155f.)
Das ist nicht so schwer zu erklären: Erstgeborene machen ihre frühesten Erfahrungen fast ausschließlich mit Erwachsenen; dagegen treffen diejenigen, die danach kommen, immer auf (mindestens) einen Konkurrenten um die Aufmerksamkeit der Eltern – das erste Marketing-Problem in der Geschichte der Menschheit. Von denen müssen sie sich abheben: "Niche picking helps to solve the mystery of why siblings aren't terribly similar; laterborn children actively seek to be different." (S. 159)
Demnach haben spätere Kinder einen stärkeren Anreiz zur Originalität als Erstgeborene. Das sehe ich als Ältester natürlich skeptisch – aber gut, wenn die Daten das sagen. (Und natürlich handelt es sich dabei nur um Durchschnittswerte …)
Auch die Erziehung hat einen gewissen Einfluss: "Parents tend to start out as strict disciplinarians with firstborns and become increasingly flexible with laterborns." (S. 160) Vor allem aber scheint es einen Unterschied zu machen, ob Kinder bei "guten Taten" für ihr Verhalten oder für ihren Charakter gelobt werden: "Children who received character praise were subsequently more generous." (S. 168) In ähnlicher Weise könnte man wohl die Originalität von Menschen fördern, indem man bei geeigneter Gelegenheit nicht ihre originellen Ideen, sondern die Originalität ihres Denkens lobt.
Abweichende Meinungen sind nützlich, auch wenn sie falsch sind
Im siebten Kapitel "Rethinking Groupthink – The Myths of Strong Cultures, Cults, and Devil's Advocates" geht es darum, wie man Gruppen origineller machen und sie davor bewahren kann, sich auf halbgare Lösungen zu einigen. Das gehört insofern zum Thema, als einem die größten Originale nichts nützen, wenn sie still in der Runde sitzen, sich dem Mainstream anschließen und ihre wahre Meinung für sich behalten.
Ein Schlüsselthema ist in diesem Zusammenhang, wie eine Gruppe mit divergierenden Meinungen umgeht. "Minority viewpoints are important, not because they tend to prevail but because they stimulate divergent attention and thought", zitiert Grant den Berkeley-Psychologen Charlan Nemeth. "As a result, even when they are wrong, they contribute to the detection of novel solutions and decisions that, on balance, are qualitatively better." (S. 185) Das heißt im Klartext: Abweichende Meinungen sind selbst dann nützlich, wenn sie falsch sind!
Grant räumt mit dem Mythos auf, dass ein starker Gruppenzusammenhalt das gefürchtete Groupthink fördere: Diese Annahme ist sehr verbreitet, aber es gibt für sie keine empirischen Belege. Das deckt sich auch mit meiner Erfahrung: Die Tendenz zum Konformismus ist nicht in Gruppen am stärksten, die sich gefunden haben – sie ist am stärksten in Gruppen, die sich noch nicht gefunden haben, weil dort jeder um seine Anerkennung und Geltung kämpft.
Wichtig ist, eine Kultur zu schaffen, die den Dissens kultiviert. Die beliebte Methode, jemanden damit zu beauftragen, den Advocatus diaboli zu spielen, bringt jedoch wenig, weil das von allen Beteiligten als bloßes Rollenspiel durchschaut werde. Statt einen Advocatus diaboli zu benennen, ist es ergiebiger, jemanden zu entdecken, der eine abweichende Meinung hat und sie mit Inbrunst und Überzeugung vertritt.
Dafür wiederum müssen alle wissen und erleben, dass dies von der obersten Spitze nicht nur toleriert, sondern wirklich gewollt und erwünscht ist. Das wird wohl am deutlichsten, wenn sich der Beitrag zur Meinungsvielfalt in den Beurteilungs- und Beförderungskriterien niederschlägt.
Die positive Kraft des negativen Denkens
Vor allem um (den Umgang mit) Emotionen geht es im achten und letzten Kapitel "Rocking the Boat and Keeping It Steady – Managing Anxiety, Apathy, Ambivalence, and Anger". Es beginn mit einem Abschnitt, der mir schon wegen des darin mitschwingenden Widerspruchsgeists ausgesprochen sympathisch ist: "The Positive Power of Negative Thinking" (S. 212).
Wie Grant erläutert, ist es der Wissenschaft nicht gelungen, die scheinbar banale Erkenntnis von der Überlegenheit des positiven Denkens gegenüber dem negativen empirisch zu untermauern. Belegen lässt sich das lediglich für das Wohlbefinden, keineswegs aber für die Ergebnisse. Denn die von tausend Zweifeln angekränkelten Pessimisten schneiden genauso so gut und oft sogar noch besser ab als die verbissensten Optimisten.
Das liegt wohl vor allem daran, dass sich talentierte Negativdenker nicht darauf beschränken, sich die fürchterlichsten Katastrophen auszumalen, sondern dass es ihnen offenbar irgendwie gelingt, ihre Panik in Motivation zu verwandeln. Dagegen bringt es anscheinend wenig, sich trotz der Krämpfe in den eigenen Innereien ein Gefühl von Ruhe und Entspannung einzureden – viel aussichtsreicher ist es, solchen Gefühlen einen positiven Spin zu geben.
Wer sich trotz rasendem Puls einzureden versucht, er oder sie sei ruhig und gelassen, macht sich, statt sich zu beruhigen, nur vor sich selber lächerlich; wer sich dagegen sagt, er sei im positiven Sinne aufgeregt und hochmotiviert, hat bessere Erfolgsaussichten: "Rather than trying to suppress a strong emotion, it's easier to convert it into a different emotion – one that's equally intense, but propels us to step on the gas." (S. 216)
Die Lektüre wert
Insgesamt ein sehr flüssig und unterhaltsam geschriebenes Buch mit vielen interessanten Befunden, dem aber ein bisschen der rote Faden fehlt, der die Teile verbindet und integriert. Mein etwas verwirrter Eindruck unmittelbar nach dem Lesen war wohl kein Zufall: Am Schluss hat man viele wirklich interessante Erkenntnisse über "Originale", aber ein schlüssiges Gesamtbild hat man nicht.
Da hilft es auch nur begrenzt, dass Grant am Schluss einen Anhang "Actions for Impact" anfügt, der die praktischen Handlungsempfehlungen zusammenfasst, die sich aus den vorausgegangenen Kapiteln ableiten lassen.
Zwar sind die insgesamt 30 Hinweise sehr praktikabel, originell und beherzigenswert, gleich ob sie sich
- auf das eigene Handeln ("Question the default", S. 245) beziehen,
- auf die Kommunikation ("Highlight the reasons not to support your idea", S. 247) oder
- auf das Management der eigenen Emotionen ("Remember that if you don't take initiative, the status quo will persist", S. 249),
- auf die Führung ("Ban the words like, love, and hate", S. 250),
- auf die Kultur ("Hire not on cultural fit, but on cultural contribution", S. 251) oder
- auf die Erziehung ("Ask children what their role models would do", S. 252).
Aber den fehlenden roten Faden stellt das auch nicht wieder her.
Das Buch gibt es auch auf deutsch, und ausnahmsweise sogar mit deutschem Titel, nämlich "Nonkonformisten – Warum Originalität die Welt bewegt". Über die deutsche Übersetzung kann ich, wie üblich, nichts sagen; was ich aber sagen kann, ist, dass sich das englische Original so gut liest, dass man es nutzen kann, um sich im Lesen englischer Fachbücher zu üben. Darüber hinaus gibt es von Adam Grant übrigens auch ein paar sehr ansehenswerte Videos auf YouTube.
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