Laut Rifkin stehen wir vor einem Kipppunkt: Erneuerbare Energien werden billiger als Öl-, Kohle- und Atomstrom. Das ändert alles: Ab dann ist die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten, auch wenn sie noch gewaltige Herausforderungen mit sich bringt.
Jeremy Rifkins neues Buch "The Green New Deal" ist in gewisser Weise die Fortschreibung von "The Third Industrial Revolution" von 2011. Während dieses vorige Werk allerdings erstaunlich europäisch ausgerichtet war – der weltläufige Amerikaner Rifkin schreibt darin fast mehr über seine Gespräche und Projekte in Europa als über die in den USA –, beschäftigt sich "The Green New Deal" in erster Linie mit den USA.
"Die haben es auch nötig", ist man geneigt zu sagen, aber langsam: Die USA sind nicht nur Trump und die Neocons. Angesichts des amerikanischen Ausstiegs aus dem Pariser Klimaabkommen erklärten etliche Bundesstaaten und Städte, dass sie sich trotzdem weiter an den Pakt gebunden fühlen und ihn konsequent umsetzen wollen. Und überraschend viele Amerikaner sehen die Klimaveränderungen als Bedrohung:
"48 percent of Americans agree that people across the United States 'are being harmed by global warming right now', an increase of 16 percentage points since 2015. (…) An overwhelming majority of Americans believe that global warming is harming the world's poor (67 percent), plant and animal species (74 percent), and future generations (75 percent)." (S. 3f.)
Weiter weiß Rifkin auch über etliche modellhafte Projekte und Initiativen aus den USA zu berichten.
Sehr optimistisches Bild von Europa und Deutschland
Aber er wäre nicht Rifkin, wenn ihm das reichen würde: Er macht weiter Dampf, entwirft Programme, drängt zur raschen Umsetzung der Dritten Industriellen Revolution – und strotzt dabei trotz aller Dringlichkeit vor Optimismus. Zuweilen reibt man sich als Europäer verwundert die Augen, wie sehr er seinen Landsleuten Europa und speziell Deutschland als leuchtendes Vorbild darstellt. Nicht nur einmal habe ich mich beim Lesen gefragt, ob ich wesentliche Entwicklungen vor der eigenen Haustür nicht mitbekommen habe oder ob Rifkin ein viel zu rosiges Bild malt.
Doch ich will darüber nicht rechten. Selbst wenn er zuweilen Absichtserklärungen für die Tat genommen haben mag, vermittelt seine Darstellung seinen Landsleuten vielleicht das Gefühl, dass sie dringend in die Gänge kommen und einen Rückstand aufholen müssen. Und selbst wenn dieser Rückstand geringer sein sollte als suggeriert, ist er doch gigantisch gegenüber dem, was geschehen muss, wenn wir als Weltgesellschaft die Kurve noch kriegen wollen.
Und die Amerikaner sind bekanntlich gut darin, sich schnell zu bewegen, wenn sie erst einmal begriffen haben, dass sie sich bewegen müssen. Was, so es denn geschieht, wiederum uns Europäer in Zugzwang setzen könnte, die wir den Amerikanern zwar zuweilen in der Einsicht voraus sind, aber oft eine geradezu vatikanische Distanz zwischen Erkenntnis und Handeln pflegen.
Immerhin haben wir inzwischen nach schmerzhaften Geburtswehen endlich eine jährlich steigende und damit berechenbare CO2-Abgabe zuwege gebracht, wie sie Rifkin schon seit langem fordert. Allerdings greift sie erst ab 2021, und es ist noch sehr fraglich, ob sie in ihrer furchtsam angesetzten Höhe die beabsichtigte Steuerungswirkung entfalten wird.
Der "Game-Changer": Erneuerbare werden billiger als konventioneller Strom
Einige Kritiker haben Rifkin vorgeworfen, "The Green New Deal" brächte gegenüber seinen Vorläuferwerken keine neuen Erkenntnisse. Das sehe ich anders – aus meiner Sicht bringt es sehr wesentliche neue Perspektiven, und zwar solche, die ich als überaus ermutigend empfinde. Zu den wichtigsten zählt für mich die Information, dass Erneuerbare Energien (auch, aber keineswegs nur wegen der CO2-Bepreisung) gerade dabei sind, billiger zu werden als konventionell erzeugter Strom – und welche dramatische Tragweite dies hat.
"Within the next eight years, solar and wind will be far cheaper than fossil fuel energy, forcing a showdown with the fossil fuel industry" (S. 7), schreibt er mit Bezug auf eine mittlerweile in 13. Auflage erschienene Studie "Lazard's Levelized Cost of Energy Analysis" der Investmentbank Lazard, deren Studium sich für jede/n lohnt, die/der tiefer in die Materie einsteigen möchte.
Die Konsequenz dieser Preisentwicklung ist spektakulär: Sie bedeutet nicht weniger als den bevorstehenden Zusammenbruch der fossilen Energieerzeuger, den Rifkin im Untertitel seines Buchs etwas marktschreierisch in Aussicht stellt, samt Terminangabe für das Jahr 2028. Doch der Punkt ist real – und logisch geradezu zwingend:
Konventionelle Kraftwerke, die mit Öl, Gas oder Atomenergie befeuert werden, haben eine Amortisationszeit von 30 bis 50 Jahren, den langen Vorlauf von der Konzipierung bis zur Inbetriebnahme noch gar nicht mitgerechnet. Des Weiteren hat die konventionelle Stromerzeugung ihre "Erfahrungskurve" weitgehend ausgeschöpft: Mit nennenswerten weiteren Kostendegressionen ist nicht mehr zu rechnen.
Wenn Sie als Investorin also damit rechnen müssten, dass erneuerbare Energien die Kilowattstunde spätestens in zehn Jahren deutlich billiger liefern als Öl-, Gas- oder Atomkraftwerke, würden Sie Ihr Geld dann noch langfristig in den Bau neuer konventioneller Kraftwerke investieren?
Halt, antworten Sie nicht vorschnell. Selbstverständlich würden Sie das tun – sofern Ihnen der Staat durch massive Subventionen und/oder profitable Garantiepreise das Risiko einer Fehlinvestition abnimmt. Falls er dazu anders als früher keine Neigung zeigt, müssten Sie eben die Daumenschrauben anziehen und in der Öffentlichkeit mit Horrorszenarien wie Dunkelflaute, Massenarbeitslosigkeit in den Stein- und Braunkohlerevieren und dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft Ängste mobilisieren.
Und falls das immer noch nicht reicht, könnten Sie noch ein paar großzügig dotierte Aufsichtsratsmandate an Politikerinnen und Gewerkschafterinnen vergeben und/oder einige ehemalige Ministerinnen und Staatssekretärinnen mit lukrativen Verträgen als Lobbyistinnen engagieren.
Angst, auf gewaltigen Fehlinvestitionen sitzenzubleiben
Doch die bittere Wahrheit: Selbst das ist keine Erfolgsgarantie mehr, weil der Kapitalmarkt bei allem, was man Negatives über ihn sagen kann, nicht so leicht zu bestechen ist wie. Er lässt Wertpapiere fallen, an deren Zukunftsperspektive er nicht (mehr) glaubt – und er verliert diesen Glauben zuweilen sehr schnell, wenn er den Eindruck hat, dass eine Firma oder Branche keine Wachstumsperspektive ("growth story") mehr zu bieten hat.
Dieser Punkt ist, wie Rifkin plausibel darlegt, viel früher erreicht als ich angenommen hätte, nämlich schon dann, wenn ein neues Konkurrenzprodukt auf dem Markt einen Anteil von etwa 3 Prozent erreicht. Bereits dann gräbt das Substitut den Platzhirschen das Wasser ab, weil es ihnen keinen Raum für weiteres Wachstum mehr lässt, sie unter Umständen sogar zu verdrängen beginnt. Spätestens dann lässt man als Investor besser die Finger davon.
"When a challenger captures just 3 percent of the market from an incumbent, the incumbent's sales often peak and begin to decline, signaling its eventual demise. Kingsmill Bond, wo is the lead energy strategist for the Carbon Tracker Initiative (…) observes that this rule of creative destruction holds across all areas of commerce but is particularly telling when analyzing the transitions in energy paradigms over history." (S. 109)
Da der Kapitalmarkt zukünftige Entwicklungen, sobald sie sich am Horizont sichtbar werden, sofort "einpreist", droht der konventionellen Energiewirtschaft ein Riesenproblem nicht erst dann, wenn erneuerbare Energien tatsächlich billiger sind als Atom- und Kohlestrom, sondern schon dann, wenn sich dies abzeichnet. Bereits dann macht sich das "intelligente Kapital" vom Acker und gibt seine Beteiligungen an "greater fools" weiter, rechtzeitig bevor eine Massenflucht aus diesen Papieren und ein entsprechender Wertverlust einsetzen.
"In 2015, Citigroup sent shockwaves through the energy industry and the global economy by predicting $100 trillion in stranded assets if the Paris Climate Summit succeeded in establishing a binding commitment by the nations of the world to limit the global warming by 2ºC." (S. 50f.)
Auch wenn amerikanische Trillionen auf Deutsch "nur" Billionen sind, ist das eine Menge Geld. Aber noch schockierender dürfte für die Märkte sein, dass der wirkliche Treiber dieses Wertverlusts gar nicht irgendwelche politischen Ziele sind, die sich ja immer irgendwie umgehen und ummogeln lassen, sondern die schlichte Tatsache, das Solar- und Windenergie aufgrund von Produktivitätssteigerungen unwiderruflich kostengünstiger geworden sind (und noch weiter günstiger werden). Weshalb sie fossil oder nuklear erzeugte Energie schlicht verdrängen.
Es sind also keineswegs (nur) ethische Gründe, wenn Pensionsfonds, Großaktionäre und Investmentgesellschaften aktuell reihenweise aus Öl, Kohle und Atomenergie aussteigen – es ist die nackte Angst vor "stranded assets", vor Fehlinvestitionen. Ein Öl-, Kohle- oder Atomkraftwerk, das wegen seiner hohen Fixkosten teurer produziert als Fotovoltaik oder Windkraft, kann seinen Strom nur noch unter Verlusten verkaufen. Ein Energiekonzern, der massenhaft solche Kraftwerke betreibt, ist daher im wahrsten Sinne des Wortes eine "vernichtende" Geldanlage.
Kollaps der klassischen Energiekonzerne
Dass das nicht bloß theoretische Gedankenspiele sind, konnten gerade wir in Deutschland in den letzten Jahren direkt vor unseren Augen beobachten: Über Jahrzehnte hinweg galten die großen Energiekonzerne wie E.ON und RWE als etwas langweilige, aber absolut sichere Aktien, die zuverlässig satte Dividenden ausschütteten. (Und damit viele Städte im Ruhrgebiet über Wasser hielten.)
Von ihnen sind nach etlichen Aufspaltungen und Umstrukturierungen im Grunde nur die Türschilder geblieben, und die Zukunft etlicher ihrer Tochter- und Nachfolgeunternehmen ist ungewiss. E.ON zum Beispiel hat sich wie Rumpelstilzchen in zwei Teile gespalten und seine fossilen und nuklearen Kraftwerke als werdende "stranded assets" in eine Art industrieller Bad Bank ausgelagert.
Dieser Schritt mag auch zum Ziel gehabt haben, sich vor einer feindlichen Übernahme zu schützen, die wegen des niedrigen Aktienkurses drohte. Trotzdem macht er sinnfällig deutlich, was diese Konzerne unter Altlastenentsorgung verstehen: Das Sachproblem besteht unverändert fort, aber man hat es aus der Bilanz – nun hat es halt jemand anderer an der Backe. Mit anderen Worten, Entsorgung ist, wenn nicht mehr ich die Sorge habe, sondern jemand anderer.
In ähnlicher Weise wurde auch die Atommüll"entsorgung" gelöst: Sämtliche Lasten und Risiken wurden samt der dafür gebildeten Rücklagen auf den Staat übertragen. Ob diese Rücklagen dafür auch nur annähernd reichen werden, steht in den Sternen. Da aber durchaus unklar ist, was von den flüchtigen Atomkonzernen zu dem Zeitpunkt, an dem die Schecks fällig werden, noch übrig sein wird, war es wahrscheinlich trotzdem eine richtige Entscheidung, die Hand auf die Rücklagen zu legen, solange sie noch verfügbar sind.
Der Haken ist lediglich, dass ein erheblicher Teil dieser Rücklagen nicht aus liquiden Mitteln besteht, sondern aus – fossilen und nuklearen Kraftwerken, sprich, aus werdenden "stranded assets". Auf deutsch: Als Sicherheiten für die "Entsorgung" der atomaren Altlasten dienen (auch) Atomkraftwerke bzw. der von ihnen noch zu erzeugende Strom. Sagte da gerade jemand etwas von "Gewinne kassieren, Verluste sozialisieren"?
Und trotzdem: Den Öl- und Energiekonzernen geht es an den Kragen, erst in Deutschland und Europa, dann in immer weiteren Teilen der Welt – und zwar nicht aufgrund ökosozialistischer Umtriebe, sondern schlicht aufgrund der Preisentwicklung für Sonnen- und Windstrom.
Schneller und konsequenter Umbau der Infrastruktur
Trotzdem ist dies ein gewaltiger Umbruch, der einen konsequenten und zügigen Umbau unserer Infrastruktur erfordert, stellt Rifkin fest. Er knüpft damit an seine fünf Säulen aus "The Third Industrial Revolution" an. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Aufbau intelligenter dezentraler Stromnetze, die einen sekundengenauen Ausgleich von (dezentraler) Stromerzeugung, Speicherung (stationären Akkus, Autobatterien etc.) und Verbrauch herstellen.
Je besser dieser Ausgleich gelingt, desto weniger Strom muss verlustreich durch überregionale Netze transportiert werden: Sie werden dann nur noch für den Nettosaldo benötigt, also für die Restbedarfe und -überschüsse, die lokal oder regional nicht ausgeglichen werden können. Je dezentraler und verteilter diese Netzstruktur ist, desto sicherer ist sie zugleich auch vor lokalen Havarien sowie vor Cyberattacken, die aller Voraussicht nach häufiger werden. Wenn sich das dezentrale Netz im Notfall schnell in isolierte Inseln verwandeln kann, können sie weit weniger großflächige Schäden anrichten.
Die Modernisierung der Infrastruktur wird eine Menge Geld kosten, aber sie wird auch erstens Arbeitsplätze schaffen und zweitens die Produktivität steigern: Mit Bezug auf Studien nennt Rifkin die Faustregel "that infrastructure improvements add $3 to the country's GDP for every dollar invested. To add icing on the cake, McKinsey estimates that increasing infrastructure spending by just 1 percent of GDP would add 1.5 million jobs to the US economy." (S. 31)
Trotz des beträchtlichen Aufwands von rund 3 Prozent des BIP sollte die Finanzierung des Umbaus kein Problem sein, denn das Geld von Pensionsfonds, Investmentfirmen und Großanlegern, das aus der Fossilwirtschaft flieht, sucht geradezu verzweifelt nach neuen Anlagemöglichkeiten: "There is more money seeking investments than there are available." (S. 193) Und Investitionen in den Aufbau einer künftigen CO2-neutralen Welt haben zwei attraktive Eigenschaften: Sie sind zukunftsträchtig, und sie sind ethisch über jeden Zweifel erhaben.
Public-Private Partnership unter öffentlicher Kontrolle
Voraussetzung für einen erfolgreichen Umbau ist jedoch, dass ein riesiger Fehler erkannt und korrigiert wird, der hier nicht nur in den USA in früheren Jahren gemacht wurde, nämlich die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur. Sie hat der Öffentlichkeit sowohl Entscheidungsmöglichkeiten als auch die Kontrolle entzogen hat: "Infrastructure should be treated as a public good and a service everyone relies on and therefore best belongs in the hands of local government." (S. 41)
Rifkin stellt in seinem Buch ausführlich Modelle für eine sinnvolle Public-Private Partnership vor, doch er beharrt auf dem Grundsatz: "The oversight and decision-making power had to remain with the governing authorities and the public." Dazu zählt für ihn auch, sicherzustellen, "that every citizen enjoys the unequivocal right to participate in or opt our from any of the smart service at any time." (S. 42)
Besonders interessant scheint ihm das Geschäftsmodell "Energy Service Company" (ESCO), das auf ein "Performance Contracting" setzt (S. 196). Dahinter steht der Gedanke, dass das Modernisieren von Gebäuden sowie der Betrieb von haus- bzw. firmeneigenen Minikraftwerken und intelligenter Infrastruktur weit mehr Know-how voraussetzt als in den allermeisten mittelständischen Unternehmen und Privathaushalten vorhanden ist.
Das ESCO-Geschäftsmodell besteht schlicht darin, ihnen diese Arbeit abzunehmen und sich die erzielten Einsparungen in einem zu vereinbarenden Schlüssel mit ihnen zu teilen. Die dafür notwendige Vorfinanzierung wiederum könnte von den Pensionsfonds kommen, die die Alterssicherung der Auftraggeber verwalten.
Der Charme dieses Modells ist, dass auf diese Weise eine Win-Win-Win-Konstellation entsteht, bei der die Interessen aller Parteien gleichgerichtet sind: Die ESCOs sind nur so erfolgreich, wie sie ihren Auftraggebern Kosteneinsparungen bringen, und die Zinsen der Vorfinanzierung fließen in die Alterssicherung.
Dabei erfüllt es auch die Forderung, dass Infrastruktur eine öffentliche Leistung zu sein hat:
"The new performance-contracting model (…) is a hybrid affair, in which both the control over the build-out of the new infrastructure and its ownership remain in the hands of municipal, county, and state governments as 'commons' serving the general welfare of communities, while shifting responsibility to private ESCOs to shoulder the financial responsibility to ensure the success of the erection and management of infrastructure." (S. 205)
Zwischen Maßnahmenplan und moralischem Appell
Im letzten Kapitel "Mobilizing Society: Saving Life on Earth" fasst Rifkin seine Überlegungen in 23 "Key Initiatives of the Green New Deal" zusammen. Auch wenn man bei einzelnen dieser Punkte staunt, wie tief er dabei in die Umsetzung geht, liefert es eine gute Übersicht, wie viele Themen angegangen werden müssen, damit der Übergang gelingt.
Manche gehen über die Inhalte des Buchs hinaus, sind aber dennoch unverzichtbar, wie zum Beispiel "phase out of petrochemical agriculture" oder "encourage farmers to utilize carbon-farming techniques and to reforest and rewild marginal land to capture and sequester CO2 from the atmosphere" (S. 226). Die Aufstellung zeigt, wie umfang- und facettenreich die Herausforderung ist – und macht dennoch Mut, dass sie zu bewältigen sein könnte.
Zugleich enthält das Kapitel auch einen Appell, von dem ich nicht recht weiß, was ich von ihm halten soll: Rifkin fordert zu "Thinking Like a Species" (S. 211) auf sowie dazu, ein "biospheric consciousness" (S. 212) und "deep participation with the living Earth" (S. 214) zu entwickeln, und er appelliert gar: "We need to trust each other, all of us, beyond political boundaries." (S. 221)
Mich stört darin nicht das Pathos, das am Schluss eines solchen Werkes nicht unangebracht erscheint – angesichts der Zerrissenheit und Polarisierung der Welt beunruhigt mich eher der Gedanke: Wenn ein solcher Bewusstseinswandel eine notwendige Bedingung sein sollte, dem "sixth extinction event in our planet's history" (S. 214) zu entgehen, dann wird es eng.
Denn so blöd es klingen mag: Dass wir die 23 Baustellen, die Rifkin aufgezeigt hat, mit Hängen und Würgen irgendwie abgearbeitet bekommen, das kann ich mir vorstellen. Aber dass sich die Menschheit gemeinsam als eine bedrohte Spezies versteht, ein biosphärisches Bewusstsein und gegenseitiges Vertrauen entwickelt, dafür fehlt mir der Glaube.
Insgesamt ein großer Wurf
Etwas zu kurz kommt mir bei Rifkin die notwendige Steigerung der Energieeffizienz. Er zitiert zwar neue Studien, nach denen es vorstellbar ist, "to increase aggregate energy efficiency to as high as 60 percent over the next twenty years" (S. 23). Doch er verlässt sich dabei in meinen Augen zu sehr darauf, dass dies durch das Internet of Things, Gebäudesanierungen und ähnliche Maßnahmen mehr oder weniger von alleine kommen wird.
Falls erneuerbare Energie jedoch tatsächlich so billig wird, ist die Steigerung der Energieeffizienz keineswegs ein Selbstläufer: Dann fehlt es an Anreizen zur Einsparung und an einem wirtschaftlichen Nutzen von Investitionen in Effizienzsteigerungen; stattdessen würden wohl viele Ideen entstehen, was man noch alles zusätzlich mit dem billigen Strom machen kann. Mit anderen Worten, da der Stromverbrauch preiselastisch ist, dürfte dessen Verbilligung nicht zu Effizienz-, sondern zu Verbrauchssteigerungen führen.
Aber das sind bei einem so umfangreichen und komplexen Gegenstand wahrhaft lässliche Sünden. Insgesamt betrachte ich "The Green New Deal" als einen großen Wurf. Ich kann das Buch allen ans Herz legen, die sich mitverantwortlich dafür fühlen, dass wir diese enge Kurve auf den letzten Drücker vielleicht doch noch kriegen. Über die Details mögen die Fachleute streiten; Rifkins Verdienst ist, dass er mit seinem großen Aufschlag das geordnete Durchdenken, Sortieren und Diskutieren all dieser Kontroversen erheblich erleichtert, vielleicht sogar ermöglicht hat.
Deshalb will ich mich zum Schluss auch nicht mehr allzu sehr daran reiben, dass er für die Umsetzung all dieser Maßnahmenpläne auf eine "Peer Assembly Governance" (S. 231) setzt, das heißt auf zufällig aus der Bevölkerung ausgewählte Räte, die Politik und Verwaltung bei der Implementierung all dieser Programme unterstützen, beraten und antreiben. Das ist durchaus eine überlegenswerte Option, aber nur eine unter vielen, und gewiss keine notwendige Voraussetzung für die erforderliche Energiewende.
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