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Dauerhafter Blackout: Ein Albtraum ausbuchstabiert

Elsberg, Marc (2012):

Blackout

Morgen ist es zu spät

Blanvalet (München); 800 Seiten; 19,95 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 02.08.2020

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Der Roman beschreibt einen meiner schlimmsten Albträume: einen großflächigen Stromausfall in Europa, der sich über viele Tage nicht beheben lässt, sowie seine dramatischen menschlichen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen.

Zu den Themen, die mich immer wieder beschäftigen, zählt, in welchem Ausmaß wir uns in unserer heutigen Lebensform vom reibungslosen Funktionieren technischer Systeme abhängig gemacht haben, und zwar buchstäblich so, dass es für sie keinen Plan B gibt. Ganz besonders gilt das für die Versorgung mit elektrischem Strom. Das ist wohl den allerwenigsten bewusst – und noch weniger sind auf diesen Fall vorbereitet.

Ein großflächiger Stromausfall würde binnen weniger Tage zu einem kompletten Zusammenbruch der Versorgung der Bevölkerung führen – und in deren direkter Folge wohl zu einem Zusammenbruch der Zivilisation oder, wie es Zyniker formulieren mögen, zum Wegbrechen der unter Normalbedingungen mühsam aufrecht erhaltenen zivilisatorischen Fassade.

Der österreichische Autor Marc Elsberg wählt für seinen Roman das Szenario eines von langer Hand vorbereiteten terroristischen Angriffs, was das Spinnen einer spannenden Räuber-und-Gendarm-Geschichte mit allerhand Verwicklungen und Komplikationen ermöglicht. Aber zumindest für die ersten beiden Wochen macht das eigentlich keinen Unterschied, ob solch ein Blackout und seine Folgen durch Terroristen, einen feindlichen Cyberangriff oder durch banale technische Probleme entstanden sind – sofern sie nur wirksam genug sind, um das Stromnetz für ein paar Wochen lahm zu legen.

Mich persönlich interessiert dabei weniger die fiktive Handlung als die Dynamik der Krise. Die von Elsberg beschriebenen kurz- und mittelfristigen Folgen eines anhaltenden flächendeckenden Stromausfalls decken sich über weite Strecken mit dem, was ich mir selbst zusammengereimt hatte, aber sie geben darüber hinaus.

Klar ist, dass ein Stromausfall zum sofortigen Ausfall sämtlicher Warenwirtschaftssysteme führt – und damit der gesamten Warenversorgung einschließlich von Lebensmitteln und Medikamenten –, zum Ausfall sämtlicher Zahlungssysteme außer Bargeld – und damit zur raschen Illiquidität der meisten Bürger und Firmen – sowie zum schrittweisen Ausfall von Mobilität und Logistik, mit der Folge unzähliger gestrandeter Reisender und massenhafter Lieferausfälle. Was wiederum einen schrittweisen Ausfall fast aller Produktionssysteme – einschließlich der Grundversorgung – nach sich zöge.

Ohne Zweifel sind einige dieser Systeme durch Notstromversorgungen abgesichert – allerdings zumeist nur für einige Stunden, allenfalls für ein paar Tage. Das würde die schlimmsten Folgen wenigstens für einige Zeit dämpfen und verzögern. Aber die allermeisten Haushalte, Betriebe und Geschäfte sind nicht oder nur teilweise abgesichert.

Ein Ausfall der Supermarktkassen hätte nicht nur zur Folge, dass noch noch bar bezahlt werden kann und das Personal die Einkäufe mühsam von Hand zusammenzählen müsste, es könnten auch keine automatischen Nachbestellungen mehr ausgelöst werden, und bald wüsste niemand mehr, was vorrätig ist. Die Waren in den Kühlregalen würde verderben, die Nachschublieferungen blieben aus, binnen weniger Tage wären die Regale leer.

Schwarzmärkte, Wucher, Plünderungen, Diebstahl, Straßenraub, Überfälle – es ist leider allzu plausibel, dass Menschen, die sich und ihre Familie nicht mehr auf rechtskonformem Weg ernähren können, buchstäblich alles täten, um irgendwie über die Runden zu kommen, auch wenn andere darunter leiden müssten. Und es ist leider auch plausibel, dass andere die entstehenden rechtsfreien Räume für ihre eigenen Zwecke nützten.

Was ich bei meinen Albträumen nicht im Blick hatte, ist, dass neben den allermeisten Heizungssystemen (elektrische Umwälzpumpen!) auch die Wasserversorgung zusammenbräche, weil auch sie auf elektrische Pumpen angewiesen ist. Das verschärft das Problem erheblich, denn ohne Nahrung können es gesunde Menschen zur Not mehrere Wochen aushalten, ohne Wasser nur wenige Tage. Ohne Wasserspülung aber werden nicht nur Toiletten und Bäder unbenutzbar, es fallen auch Kanalisation, Abwassersysteme und Kläranlagen aus. Bereits nach kurzer Zeit verstopfen die Rohre so schwer, dass sie erst nach zeitraubenden Reparaturen wieder in Gang zu setzen sind.

In welchem Ausmaß die industrielle Landwirtschaft auf Strom angewiesen ist, war mir klar: Geflügelställe müssen beheizt werden, Schlachtfabriken betrieben, Kühlhäuser gekühlt. Vor allem aber müssen Milchkühe regelmäßig gemolken werden, was ab einem gewissen Tierbestand nur noch maschinell, sprich mit Strom, möglich ist. Fällt der Strom für längere Zeit aus, haben menschliche Melker keine Chance, selbst wenn sie bis zum Zusammenbruch arbeiten. Das heißt, die Kühe verenden unter furchtbaren Qualen – und bleiben, wenn sie endlich tot sind, an Ort und Stelle liegen, weil sie nicht "entsorgt" werden können.

Was ich dagegen nicht im Blick hatte, war, dass sowohl in Chemieanlagen als auch in Atomkraftwerken ziemlich unschöne Dinge passieren können, wenn ihre Stromversorgung abreißt. Zwar haben sie natürlich eine Notstromversorgung, aber die – bzw. deren Dieselvorräte – sind nicht zwangsläufig auf mehrere Wochen angelegt. Havarien könnten großflächige Evakuierungen erfordern, was schon bei funktionierender Stromversorgung keine triviale Aufgabe ist, ohne eine beinahe unlösbare.

Elsberg beschreibt Tag für Tag, wie sich die Katastrophe aufbaut (bzw. aufbauen könnte), doch seine Schilderung endet, nachdem die Stromversorgung nach zwei endlosen Wochen und 800 Seiten endlich wieder funktioniert. Aber es wäre ein böser Irrtum zu glauben, dass damit wieder alles gut wäre. Man muss ihm zugute halten, dass er durchaus darauf aufmerksam macht, wie schwierig, komplex und zeitaufwendig es ist, danach zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen "Normalbetrieb" zurückzukehren, doch dieser "Wiederaufbau" liegt außerhalb seines Plots.

Aber man muss sich nur einmal vorstellen, wie lange es nach einem kompletten Kollaps der Nutztierhaltung dauern würde, wieder eine funktionierende Milch- und Fleischproduktion aufzubauen: Es wäre ja nicht nur das meiste Vieh tot, es wären auch die meisten Landwirte pleite. Mit dem Wiederanspringen der Fernsehgeräte und Klospülungen wäre daher längst nicht alles gut, auch wenn man dann die leeren Akkus seiner Geräte wieder aufladen könnte. Es dürfte Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis sich etwa die Lebensmittelproduktion oder die andere dringend benötigter Güter wieder dem Niveau vor der Krise nähert.

Ohne intensive internationale Hilfe wäre hier wohl mit Hungersnöten, Epidemien und Unruhen zu rechnen – Entwicklungen, deren Sprengkraft Elsbergs wie meine Fantasie vermutlich übersteigt. Wie würde die Bevölkerung reagieren, wenn es nicht Tage, sondern Monate dauerte, beispielsweise die Kanalisation von ein getrockneten Fäkalien zu befreien und wieder durchgängig zu machen? Was, wenn unzählige Menschen wegen des Zusammenbruchs ihrer Firmen ein deutlich geringeres Einkommen hätten, die Lebensmittelpreise aber deutlich höher wären?

Eine wesentliche Erkenntnis habe ich aus der Lektüre quasi nebenher gewonnen: Nämlich, dass die Lehren, die aus den Versorgungsengpässen zu Beginn der Corona-Pandemie im Bezug auf Selbstversorgung und Unabhängigkeit von internationalen Lieferanten gezogen worden sind, wahrscheinlich zu kurz gedacht sind. Das würde uns bei einer neuen Pandemie wohl helfen, im Falle eines großen Blackout aber noch tiefer in die Krise stürzen. Denn mit dem Strom fällt auch die Selbstversorgung weitgehend aus. Auch in diesem Fall haben sich die Generäle offensichtlich "auf den letzten Krieg vorbereitet statt den nächsten": Wir haben die Lösung für die aktuelle Krise vorschnell auf alle übrigen Krisenszenarien extrapoliert.

Doch vor allem wirft die Beschäftigung solch einem Katastrophenszenario die Frage auf, wie sich sein Eintreten verhindern lässt, zumal in einer Zeit, wo elektrischer Strom immer mehr zu dem zentralen Energieträger unsere Gesellschaften wird. Es ist natürlich nicht Aufgabe eines Romans, die Frage nach der Resilienz zu beantworten – aber es ist die Aufgabe der Gesellschaft und Politik. Auch wenn er für die Lösung nicht zuständig ist: Was ich Elsberg bescheinigen kann, dass er uns für das Problem auf eine Weise sensibilisiert hat, die unter die Haut geht. Lesenswert, aber nichts für schwache Nerven!

Schlagworte:
Stromversorgung, Stromausfall, Blackout, Energieversorgung, Energiepolitik, Krisenmanagement, Resilienz

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