Statt der erhofften offenen und liberalen Weltordnung ist die Welt 30 Jahre nach dem Kalten Krieg zerstrittener, gespaltener und handlungsunfähiger denn je. Krastev und Holmes erklären, wie es dazu kam und welche Rolle Nachahmung dabei spielte.
Was ist bloß so furchtbar schiefgegangen? Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Auflösung des Ostblocks sah es für eine Weile so aus, als länge eine glänzende, friedliche und von wachsendem Wohlstand geprägte Zukunft vor den Staaten und Völkern dieser Welt. Die freigelassenen Staaten des Warschauer Pakts begannen, sich in liberale "westliche" Demokratien zu verwandelt, viele traten rasch der EU bei. Im Nahen Osten und anderswo fegten friedliche Revolutionen verknöcherte Despoten beiseite; alles schien auf einem so guten Weg, dass es nicht absurd klang, von einem "Ende der Geschichte" zu sprechen.
Gewiss, es gab einige Verwerfungen, wie etwa die sehr ungleiche Umverteilung des Volkseigentums, die Übernahme der Ostwirtschaft durch westliche Firmen und den Aufstieg der Oligarchen nicht nur in Russland – aber "ein bisschen Verschnitt ist immer": Diese Fehlentwicklungen waren ärgerlich und riefen nach Korrekturen, aber sie änderten nichts daran, dass die Welt insgesamt auf einem verheißungsvollen Kurs schien.
Heute, 30 Jahre später, ist geopolitisch buchstäblich nichts mehr auf einem guten Weg. Stattdessen ist die Situation so verfahren, dass sie verfahrener kaum sein könnte. Etliche (wenn auch nicht alle) ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten haben sich von der Idee einer offenen Gesellschaft abgewandt, die EU ist durch interne Ost-West-Konflikte gelähmt, die USA sind zum Amokläufer der internationalen Beziehungen geworden, der Nahe Osten instabiler denn je, China wird zunehmend zum geopolitischen Machtfaktor, und Russland scheint sich in der Rolle des bösen Buben der Weltpolitik zu gefallen.
Wie konnte die so verheißungsvoll begonnene Entwicklung derart aus dem Ruder laufen? Und gibt es eine Logik oder zumindest eine nachvollziehbare Dynamik hinter all diesen (Fehl-)Entwicklungen? Das versuchen der bulgarische Philosoph Ivan Krastev und der liberale amerikanische Rechtsprofessor Stephen Holmes in diesem Buch zu beantworten. Ihre Antwort verdient Aufmerksamkeit, weil sie mit ebenso überraschenden wie plausiblen Erklärungsansätzen für das scheinbar Unerklärliche aufwartet.
Auf der Suche nach Alternativen zu der Alternativlosigkeit
Aus Sicht von Krastev und Holmes stehen wir entgegen allen, auch ihren eigenen Erwartungen nicht am Beginn einer Epoche des ewigen Friedens und Wohlstands, sondern am Ende einer kurzen Übergangsperiode:
"The three decades following 1989 turned out to be an 'inter-mural period', a brief barricade-free interval between the dramatic breaching of the Berlin Wall, exciting utopian fantasies of a borderless world, and a global craze of wall-building, with cement and barbed-wire embodying existential (if sometimes imaginary) fears." (S. 2)
Statt der erwarteten neuen liberalen Weltordnung konstatieren sie aktuell eine "worldwide anti-liberal revolt" (S. 13), die sie in ihrem Buch erklären wollen. Ein Element ihrer Erklärung ist: Viele Menschen und Länder sind nicht gewillt zu akzeptieren, dass jenes gesellschaftliche System, das sich im "Wettstreit der Systeme" des Kalten Kriegs durchgesetzt hatte, als nunmehr "alternativlos" präsentierte. Krastev und Holmes zitieren zur Erklärung den renommierten Psychologen Dan Ariely:
"Human beings need choice, even just the illusion of it." (S. 5)
Um das menschliche Bedürfnis nach Alternativen zu illustrieren, referieren sie ein originelles Experiment Arielys: Er ließ Versuchspersonen auf einem Bildschirm zwischen drei Türen wählen; bei jeder bekamen sie einen anderen Geldbetrag ausbezahlt. Sobald die Teilnehmer dies herausgefunden hatten, wählten sie natürlich die "bestbezahlte" Tür. Wenn aber mit jeder Wahl die verschmähten Türen kleiner wurden und schließlich ganz zu verschwinden drohten, dann wählten sie von Zeit zu Zeit die schlechter vergüteten Türen, auch wenn sie wussten, dass sie damit Geld "verloren". Schlussfolgerung: Menschen ist es wichtig, Alternativen zu haben bzw. zu behalten; sie sind bereit, dafür einen Preis zu bezahlen.
Sowohl die "illiberalen Demokratien" in Ungarn und Polen als auch die "Alternative für Deutschland" kann man als einen Versuch verstehen, der behaupteten Alternativlosigkeit eine Alternative entgegenstellen zu können, selbst wenn die eher aus einer Trotzposition besteht als aus einem durchdachten und ausgearbeiteten Gegenmodell. Und wohl nicht zufällig finden diese Gegenmodelle die größte Resonanz bei jenen, die sich wirtschaftlich, gesellschaftlich und/oder weltanschaulich als Verlierer einer liberalen, offenen Gesellschaft sehen oder befürchten, dazu zu werden.
Ohne Wettbewerb die Richtung verloren
Dazu kommt ein noch tiefer liegendes Problem: Es scheint, als habe der Westen mit der ideologischen Konkurrenz auch den Kurs verloren. Wettbewerb hat ja einen unbestreitbaren Vorteil: Er sorgt für Disziplin, Fokussierung und Wachsamkeit. Umgekehrt verleitet mangelnde Konkurrenz zu Nachlässigkeit, Bequemlichkeit und Selbstherrlichkeit.
Zwar hielt es der Westen auch schon zu Zeiten des Kalten Kriegs oft mit dem Grundsatz, dass Prinzipien eine gute Sache sind, wenn man sie nur im rechten Moment beiseite lässt. Aber die Häufung der Verstöße gegen die selbstgesetzten Regeln, die sich der Westen nach der Zerfall des Ostblocks leistete, wäre zu Zeiten der erbitterten "Systemkonkurrenz" wohl nicht denkbar gewesen. Man kann sich fragen, ob es sich etwa bei dem Einsatz von Folter und Verschleppungen nur um eine opportunistische Missachtung der eigenen Werte handelte oder um einen Verlust bzw. eine Aufgabe dieser Werte.
Allerdings gibt es hier einen Aspekt, den Krastev und Holmes nicht erwähnen: Die liberale Weltsicht, die Demokratie, Bürger- und Menschenrechte hochhält, war im Westen nie allein vorherrschend; sie stand intern immer schon im scharfen Widerstreit mit einem starken autoritär-obrigkeitsstaatlichen Lager, das sich um diese hehren Werte bei allen Lippenbekenntnissen letztlich einen Dreck scherte, Andersdenkende hasste und Demonstranten bei passender Gelegenheit auch gerne mal niederknüppelte.
Das galt gerade auch in der Außenpolitik. Sie war auch in der Vergangenheit nie allein oder auch nur vorwiegend von liberalen Werten geprägt, sondern mindestens in gleichem Maße, wenn nicht noch wesentlich stärker, von teils subtiler, teils brachialer Macht- und Interessenpolitik, die auch vor ferngelenkten Militärputschen und der Ermordung missliebiger Staatschefs nicht zurückschreckte. Insofern war der Westen nie so rein und edel, wie manche Er- und Verklärungen suggerierten.
Drei überraschende Wendungen
"The Light that Failed" umfasst nach der Einleitung drei große Kapitel sowie einem Schluss mit der Überschrift "The Closing of an Age". Das erste Kapitel "The Copycat Mind" befasst sich mit den ehemaligen sowjetischen "Satellitenstaaten", vor allem aber mit Ungarn und Polen, und ihrem Wandel von begeisterten Nachahmern des Westens zu störrischen "illiberalen Demokratien".
Im zweiten Kapitel "Imitation as Retaliation" zeigen die Autoren überzeugend, dass Russland im Gegensatz zu den meisten seiner ehemaligen Satelliten nie ernsthaft angestrebte, eine Demokratie zu werden. Stattdessen trauert es zwar nicht dem Kommunismus, aber seinen Gebietsverlusten und seinem Supermachtstatus nach und versucht, seine angeschlagene Selbstachtung nun als Quertreiber der Weltpolitik wiederherzustellen. Zugleich ist es bestrebt, den Westen und vor allem die USA zu demaskieren und ihnen den Spiegel vorzuhalten.
Das dritte und für mich überraschendste Kapitel "Imitation as Dispossession" befasst sich mit den USA (und ein bisschen mit China) – und lässt die Weltpolitik endgültig als absurdes Theater erscheinen. Es zeigt, dass die USA es spätestens seit Trump überhaupt nicht mehr anstrebenswert finden, der Welt als strahlendes Vorbild zu dienen, und sich stattdessen rücksichtslos auf ihre eigenen Interessen konzentrieren. Während andere dagegen rebellieren, sich an den Idealen des Westens und vor allem der USA ausrichten zu sollen oder zu müssen, schwören die USA diesen Idealen ab und bekennen sich freimütig zu jener eiskalten Interessenpolitik, die ihre Gegner ihnen als wahres Motiv unterstellt.
Enttäuschte Erwartungen
Die sogenannten "friedlichen Revolutionen" von 1989 in vielen Staaten des Ostblocks waren für Krastev und Holmes Umstürze, denen jede revolutionäre Idee abging:
"These revolutions aimed at overturning one system only in order to copy another." (S. 24)
Charakteristisch, wie etwa der polnische Oppositionsführer Adam Michnik im Rückblick explizit einräumte, er habe "an anti-utopian revolution" angestrebt, weil Utopien nur zur Guillotine und dem Gulag führten. Sein Slogan lautete daher: "Liberté, fraternité, normalité." (a.a.O.)
Doch die Nachahmung des westlichen demokratischen Modells entpuppte sich als zweischneidiges Schwert, zumal sie vom Westen wohl allzu sehr forciert und von westlichen Beratern ohne Kenntnis und Gespür für die örtlichen Verhältnisse "unterstützt" wurde. Zum Gefühl der Fremdbestimmung und dem Unmut darüber trug wohl auch bei, dass viele der früheren Ostblockstaaten allzu schnell der EU beitraten – wofür sie sich an deren Aufnahmekriterien und Spielregeln anpassen mussten.
So entstand zum einen das Gefühl, einem unerreichbaren Ziel hinterher zu laufen: So sehr sie auch bemühten, wie der Westen zu werden, so wenig hatten sie jemals das Gefühl, gleichwertiger Teil des Westens geworden zu sein. Immer würden sie Überprüfungen unterzogen, denen sich andere Staaten nicht unterziehen mussten. So sehr sie einst den EU-Beitritt angestrebt hatten, so sehr haderten sie mit den Vorgaben: Sie wollten nicht die kommunistische Orthodoxie gegen eine liberale Orthodoxie eintauschen.
Zum anderen schien das angestrebte Vorbild seine Versprechen nicht einzuhalten:
"In the first years after 1989, liberalism was generally associated with the ideals of individual opportunity, freedom to move and to travel, unpunished dissent, access to justice, and government responsiveness to public demands. By 2010 the Central and East European versions of liberalism had been indelibly tainted by two decades of rising social inequality, pervasive corruption, and the morally arbitrary redistribution of public property into the hands of a few. The economic crisis of 2008 had bred a deep distrust of business elites and the casino capitalism that, writ large, almost destroyed the world financial order. Liberalism's reputation in the region never recovered from 2008." (S. 21)
Angeheizt durch Populisten wuchs die Befürchtung, in den falschen Zug eingestiegen zu sein.
Angst vor Identitätsverlust und Fremdbestimmung
In vielen Ländern des früheren Ostblocks gibt es eine Polarisierung in eine liberale, weltoffene städtische Mittel- und Oberschicht und die konservativen ländlichen Regionen, die sich von der gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung abgehängt fühlen. Sie fürchten um ihre Zukunft und ihre kulturelle Identität, zumal viele Jüngere und besser Ausgebildete von dort abgewandert sind und diese Regionen ausbluten und vergreisen. Daraus erklärt sich auch die Angst, von Migranten überrollt und an den Rand gedrängt zu werden, welche von Populisten geschickt für ihre Zwecke genutzt wird.
Zudem kam vor allem in konservativen Bevölkerungskreisen das Gefühl eines drohenden Identitätsverlust auf: Statt "frei" zu werden, so zu leben, wie sie es möchten, hätten sie nur die alten Abhängigkeiten gegen neue eingetauscht; sie würden gezwungen, bedingungslos die Regeln des Westens zu übernehmen, sich etwa den Anforderungen anonymer, nicht einmal demokratisch legitimierter EU-Bürokraten zu unterwerfen.
Trotzdem ist eine spannende Frage, weshalb eine ursprünglich freiwillige und selbstgewählte Nachahmung umgeschlagen ist in Abwehr und Ressentiments. Die Antwort ist auf den zweiten Blick simpel: Sie schlug um, weil die Anpassung aufhörte, freiwillig und in ihrem Ausmaß und Umfang selbstbestimmt zu sein, und zur Pflicht wurde – und zur Bedingung für Akzeptanz und Zuschüsse:
"After the communist collapse, according to Central Europe's populists, liberal democracy became a new, inescapable orthodoxy. Their constant lament is that imitating the values, attitudes, and practices of the West became imperative and obligatory." (S. 7)
Dieser Zwang zu Anpassung und "Folgsamkeit" wurde und wird aus vielen Gründen als demütigend empfunden:
"The form of comprehensive institutional imitation at issue involves, first, the moral superiority of the imitated over their imitators, second, a political model that claims to have eliminated all viable alternatives, third, an expectation that the imitation will be unconditional rather than adapted to local traditions, and fourth, a presumption that representatives of the imitated (and therefore implicitly superior) countries could legitimately claim a right to monitor and evaluate the progress of imitating countries on an ongoing basis." (S. 8)
So ist eine schizophrene Situation entstanden: Obwohl die ehemaligen Ostblockstaaten regelmäßig hohe Subventionen von der EU und damit von deren westlichen Nettozahlern erhalten, ist bei ihnen die Ablehnung, ja die Feindseligkeit und Verachtung gegenüber der EU groß – und zwar besonders bei den Bevölkerungsgruppen, deren Wohlstand maßgeblich von diesen Subventionen abhängt. Man muss kein Hellseher sein, um zu vermuten, dass dies nicht auf die Dauer gut gehen wird.
Russlands Streben nach Rache und Vergeltung
Im Gegensatz zu den meisten anderen Ostblockstaaten hatte Russland nach Auffassung der Autoren nach dem Ende der UdSSR nie ernsthaft die Absicht, eine Demokratie im westlichen Sinne zu werden – auch deshalb nicht, weil man dort nicht die Erfahrung der anderen Länder teilte, von einer fremden Macht beherrscht zu werden. Stattdessen beschränkte man sich darauf, dem leichtgläubigen Westen, solange man dies nützlich fand, einen Übergang zur Demokratie vorzuspielen.
Um das zu verstehen, muss man etwas wissen, was bei uns im Westen wohl den allerwenigsten bewusst ist (und es mir jedenfalls nicht war): Dass nämlich aus russischer Sicht das Scheitern der kommunistischen Planwirtschaft und der Zerfall der Sowjetunion zwei völlig unterschiedliche Dinge sind. So willkommen das Erste, so kränkend, erschütternd und traumatisierend das Zweite. Russland wurde dadurch über Nacht von der Supermacht zum Bittsteller, der gezwungen war, seinen langjährigen erbitterten Feind um Hilfe anzubetteln. Es musste sich dessen Bedingungen unterwerfen und für dessen milde Gaben auch noch Dankbarkeit heucheln.
Außenpolitisch fühlt sich Russland vom Westen betrogen – zum Beispiel durch die NATO-Osterweiterung – und gedemütigt. Es rächt sich dafür, indem es die Bigotterie des Westens nach Kräften bloßzustellen sucht und sich – siehe Syrien – als böser Bube der Weltgeschichte gebärdet. Offensichtlich will Putin den Westen und die USA spüren lassen, dass Russland, wenn es schon kein gleichwertiger Gegenspieler mehr ist, zumindest jede Menge Ärger machen kann.
Putins offensichtliche Lügen sind nach ihrer Auffassung kein Versuch der Täuschung, sondern Provokation und eine offene Verhöhnung westlicher moralischer Standards. (Womit er Trump einen Schritt voraus wäre.) Auch die russische Einmischung in die amerikanische Präsidentschaftswahl diente aus ihrer Sicht nicht so sehr dazu, deren Ergebnis zu beeinflussen, sondern die Amerikaner spüren zu lassen, wie es sich anfühlt, wenn sich ausländische Mächte in die eigenen inneren Angelegenheiten einmischen.
"Ein wütender Mann auf Krücken"
Krastev und Holmes charakterisieren Putins Russland "as an angry man on crutches" (S. 111): Gekränkt, wütend, aber zugleich unfähig, die eigenen Ansprüche und Vorstellungen gegenüber dem Westen durchzusetzen. Putins Ziel sei es daher, Russland wieder zu einer Weltmacht zu machen:
"Putin's self-assigned task from the beginning (…) was to revive Russia's role as a serious player in the Great Game from which Moscow had been unceremoniously ejected in 1991." (S. 113)
Da Russland dafür jedoch die wirtschaftliche und militärische Macht fehlt – das Bruttoinlandsprodukt dieses riesigen Landes ist wesentlich geringer als das von Italien –, ist dieses Ziel auf direktem Weg kaum durchsetzbar. Deshalb setzt Putin auf Obstruktion und macht Russland konsequent zum Spielverderber auf der internationalen Bühne.
Dies erklärt die schockierend unbarmherzige Rolle, die Russland etwa im Weltsicherheitsrat einnimmt, wenn es rein humanitäre Hilfseinsätze für notleidende Zivilbevölkerungen in unterschiedlichsten Teilen der Welt blockiert. Aber Putins Intentionen gehen noch weiter, meinen Krastev und Holmes mit Verweis auf seine Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007: Dort hatte er seinen erschrockenen Zuhörern mitgeteilt, sein Ziel sei die Zerstörung der nach dem Kalten Krieg entstandenen liberalen Weltordnung. Man versteht sein Handeln am besten als Subversion aus einer Position der Schwäche:
"Unlike the Soviet Union, the Russian Federation cannot hope to defeat the West. What it does hope to do is to bring the West to the point of breaking into pieces, just like it happened to the Soviet bloc and the Soviet Union itself in 1989-91." (S. 137)
Tatsächlich gelingt es Putin immer wieder, den Westen zu blamieren, wie etwa in der Ukraine, Syrien oder mit der Okkupation der Krim, weil der – vernünftigerweise – vor einer militärischen Konfrontation zurückschreckt. Also muss Russland nur die unvermeidlichen Sanktionen aushalten, bis die Stimmung im Westen umschlägt und sich die Forderung nach einer "Normalisierung der Beziehungen" durchsetzt. Doch das hat für Russland einen hohen Preis:
"[It] has entangled the Russian military in bloody struggles that seem to contribute nothing to the country's national security and have no obvious endgame or exit strategy." (S. 136)
Auch für Russland ist es leichter, in militärische Abenteuer einzusteigen, als wieder aus ihnen herauszukommen. Doch die Perspektive ist trübe:
"But Moscow's resentment-fueled policies – however emotionally satisfying they may feel to the Kremlin leadership and whatever desires for vindication they fulfil – don't rise to the level of a well-considered, long-term strategy. Indeed, Russia's policy of ironic mimicry and reverse engineering of American hypocrisy may be slowly nudging the world towards disaster." (S. 135)
"That the result will be a stable world in which Russia's interests will be protected is impossible to imagine." (S. 137)
Eine gespenstische Perspektive – mit einen Beigeschmack von Friedrich Glasls Konflikt Eskalationsstufe 9, die er mit der gruseligen Bezeichnung "Gemeinsam in den Abgrund" charakterisiert. So schlüssig diese Darstellung ist und so gut sie mit dem beobachteten Fakten zusammenpasst, es ist schwer sich vorzustellen, dass Rache und Obstruktion im wirklichen Interesse Russlands liegt, dass sie ein rationales Staatsziel sein könnte, geschweige denn, dass alle anderen überwiegende.
Einmal angenommen, die Zerstörung der internationalen Ordnung gelänge (was dank der Mitwirkung Trumps nicht ausgeschlossen ist), was hätte Russland für sich und seine Bürger damit gewonnen? Würde es sich damit den Respekt erwerben, nachdem Putin offenbar so giert? Nun ja, man könnte sagen: Dann wäre Russland wieder auf Augenhöhe mit allen anderen – wenn auch in der Hölle.
Immerhin würde die Deutung von Krastev und Holmes einem klugen und weitsichtigen amerikanischen Präsidenten ermöglichen, Putin an den Tisch zu holen und ihn für einen Dialog zu gewinnen, der schrittweise konstruktiver gestaltet werden könnte.
Aggressiver Isolationismus
Trotzdem muss nach Auffassung der Autoren niemand Sorge haben, Russland strebe nach Expansion oder danach, seine Ideologie auf der Welt zu verbreiten:
"Putin does not dream of conquering Warsaw or re-occupying Riga. On the contrary, his policies (…) are an expression of aggressive isolation, an attempt to consolidate one's own civilization space." (S. 122)
Denn die Lage Russlands ist noch prekärer als es das karge Bruttoinlandsprodukt vermuten lässt. Krastev und Holmes legen schonungslos den Finger in die Wunde:
"Not the Slavophile classics in the Kremlin library, but Russia's unique combination of African mortality rates and European birth rates is what best explains the conservative turn in Kremlin political rhetoric." (S. 120)
Tatsächlich hat Russland ein massives demographisches Problem. Als dessen Ursache macht Putin einen Verfall traditioneller Werte aus – und diesen Verfall verkörpert für ihn der Westen. Was seine Wut noch verschärft, ist, dass sich die wohlhabenden russischen Eliten und vor allem deren Kinder von diesen traditionellen Werten gelöst und sich die dekadenten westlichen Einstellungen zu eigen gemacht haben:
"Having synchronized themselves with the normative framework of the West, the elite's foreign-educated offspring were no longer coordinated with the normative expectations of the homeland where previous generations had lived. Thus, the charge that the West is stealing the children of Russian elites is one of the principal tenets of Kremlin anti-Westernism, driving its attempts to repatriate the country's foreign-domiciled business classes." (S. 121f.)
Während im Westen 1968 die Kinder gegen die repressiven Werte ihrer Eltern rebellierten, so meinen die Autoren, protestieren im heutigen Russland die Eltern gegen die Übernahme liberaler westlicher Werte durch ihre im Ausland erzogenen Kinder. Aus ihrer Sicht befindet sich Putins Russland in der Defensive:
"Putin, not unlike Trump, wants to insulate the country from the liberal West. This is more important to him than annexing adjacent land." (S. 123)
Das ändert nichts daran, dass Putin mit allen Mitteln danach strebt, die globale Vorherrschaft des liberalen Westens zu unterminieren – im Gegenteil: Es ist ein elementarer Teil seiner "Notwehr". Dazu zählt auch, die amerikanische Außenpolitik aggressiv zu imitieren, um sie zu demaskieren und so sowohl das Ansehen der USA in der Welt als auch ihr positives Selbstbild zu untergraben.
Wie gelenkte Demokratie funktioniert
Die Durchführung vorgeblich demokratischer Wahlen dient der russischen Führung längst nicht mehr als Feigenblatt, sondern als innenpolitisches Steuerungsinstrument. So erklärt sich, dass sich der Kreml längst nicht mehr die Mühe macht zu verbergen, dass diese Wahlen weder fair noch frei sind. Er versucht in keiner Weise, grobe Manipulationen wie etwa das regelmäßige Aus-dem-Verkehr-Ziehen aussichtsreicher Oppositionskandidaten zu vertuschen – das ist Teil von Putins "gelenkter Demokratie", bei der es letztlich nicht um Demokratie, sondern um das Lenken geht.
Krastev und Holmes haben eine überraschende und in meinen Augen plausible Erklärung für dieses Phänomen. Nach ihrer Auffassung hat der Kreml unter Putin diese gelenkte Demokratie als die effektive Alternative zu einem Regiment mit Angst, Einschüchterung und brutaler Gewalt entdeckt. Die Strategie besteht im Kern darin, die Bevölkerung in regelmäßigen Abständen davon zu überzeugen, dass es keine gangbare Alternative zu Putin gibt. Wählt, so lautet die paradoxe Aufforderung, und erkennt, dass ihr keine wirkliche Wahl habt.
Das Ausschalten aussichtsreicher Oppositionskandidaten ist ein logischer Bestandteil dieses Spiels: Sie müssen, wie zuletzt Nawalny, aus dem Verkehr gezogen werden, sobald sie genügend Statur gewinnen, um auch nur ansatzweise als Alternative gelten zu können. Davor dienen sie als Frühwarnsystem sowohl für "heiße Themen", welche für Missstimmung in der Bevölkerung sorgen, als auch für talentierte Oppositionelle, die man auf diese Weise im Auge behält und einbremsen kann – wenn sie sich nicht zum Teil der "loyalen", sprich, harmlosen Opposition machen lassen, von der keine Gefahr für das Regime ausgeht. Die routinierte Empörung und die lustlosen Sanktionen des Westens sind dabei "eingepreist", und man erträgt sie mit Gleichmut.
Doch diese regelmäßigen "Wahlen" haben noch eine ganze Reihe weiterer Vorteile. Insbesondere sind sie eine wirksame Möglichkeit, den eigenen Machtapparat zu kontrollieren und zu disziplinieren – was in einem so großen und unübersichtlichen Land keine triviale Aufgabe ist. Regionale Funktionäre können sich nicht auf Lippenbekenntnisse beschränken, sondern müssen ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, die Lage vor Ort unter Kontrolle zu behalten und die gewünschten Ergebnisse abzuliefern.
Weiter schaffen die Wahlen turnusmäßig die Gelegenheit, neue Themen und Personen ins Blickfeld zu rücken und bei Bedarf die eigene Programmatik weiterzuentwickeln. Auf diese Weise kann sich die Partei gleichermaßen als Hort der Stabilität wie der der Veränderung darstellen. Zugleich sorgt sie im Sinne des politischen Marketing für genügend Neuigkeiten, um interessant und im Gespräch zu bleiben. Und nicht zuletzt sorgt sie dafür, dass sich alle Russen als große Gemeinschaft erleben, denn gleich was sie sonst trennt, es gibt einen Tag, an dem sie alle gemeinsam zur Wahl gehen.
Antiliberale Revolte und aggressiver Isolationismus auch in den USA
Die größte Kuriosität in diesem ganzen schäumenden Chaos sind jedoch die USA. Dabei ist Trump seinen osteuropäischen Kollegen Putin, Orban und Kaczynski in vieler Hinsicht ähnlicher als man auf den ersten Blick sieht. In ihre antiliberale Revolte reiht er sich nahtlos ein; aggressiver Isolationismus ist ein Kernelement seiner Politik, und Krastev und Holmes sehen bei ihm
"… the same ethos of provincial resentment against a cosmopolitan world." (S. 141f.)
Einen beinahe amüsanten Unterschied gibt es dennoch: Während die Osteuropäer mit Ressentiment auf den empfundenen Zwang zur Nachahmung reagieren, entrpstet sich Trump über die Nachahmung Amerikas, weil er sie als Bedrohung amerikanischer Arbeitsplätze und amerikanischen Wohlstands betrachtet:
"America has no mission and is nobody's model." (S. 144)
"For Trump, normalization means 'the restoration of the US in a selfish state among selfish states." (S. 146)
"America is the greatest victim of the Americanization of the world." (S. 149)
Angesichts von Trumps hoffentlich zu Ende gehender Amtszeit kann und muss man natürlich fragen, wieviel von dieser selbstbezogenen Sichtweise ihn überdauern wird. Aber er ist ja gewählt worden und hat nach wie vor eine treue Anhängerschaft. Also muss er mit seiner Haltung zumindest eine relevante gesellschaftliche Strömung repräsentieren. Der Grund hierfür liegt nach Auffassung (nicht nur) der Autoren darin, dass die USA tatsächlich an geopolitischer Dominanz und Bedeutung verlieren:
"Relative decline is America's fate. (…) A realistic recognition of America's dwindling power and global prestige helps explain why a significant swathe of the American electorate was willing to embrace a candidate who openly mocked the country's 'calling' to spread, by example if not by force, its political and economic model around the world." (S. 150)
Krastev und Holmes gehen sogar so weit, die Frage zu stellen, inwieweit die Amerikaner die vorgeblich unveräußerlichen Bürgerrechte zur Disposition stellen werden, wenn sie nicht mehr als Element der Abgrenzung im Kampf der Systeme benötigt werden:
"Freedom of speech and the press as well as freedom of conscience were idealized precisely because they were cruelly repressed under Moscow's sway. In the same spirit, Americans underscored the freedom of movement, the right to form private associations, the right to a fair trial, and the right to vote in competitive elections where incumbents might be toppled from power. (…) In 1989, the question was: Would these 'American values' survive the geopolitical contest that had made them strategically vital?" (S. 151f.)
Mir persönlich geht das einen Schritt zu weit: Diese Werte Teil sind der amerikanischen Verfassung und über weite Strecken auch Teil des konvervativen amerikanischen Selbstverständnisses – aber wir werden sehen.
Nachahmung als Bedrohung
Trumps Idee von der Nachahmung als Gefahr ist nicht so abstrus wie es auf den ersten Blick scheint. Das machen die Autoren am Beispiel der Weltsprache Englisch deutlich: Weil alle Welt Englisch spricht, sprechen die Amerikaner so wenige Fremdsprachen wie kein anderes Industrieland. Zugleich liegen sie vor der Welt wie ein offenes Buch – durch keine Sprachbarriere abgeschirmt. Umgekehrt gibt es kaum eine Nation, die so wenig über andere Länder und den gesamten Rest der Welt weiß – und nicht einmal weiß, dass sie darüber nichts weiß:
"The world knows America much better than America knows the world. (…) This gross asymmetry of understanding creates a strategic vulnerability. For instance, twenty-year-olds in Jeddah or Karachi can surf the internet and enroll in flight lessons in Oklahoma, but hardly any twenty-year-old from Oklahoma could learn what is on offer in Jeddah or Karachi, because they don't speak the languages there." (S. 155)
Die USA haben derzeit wohl (noch) einen großen wirtschaftlichen und militärischen Vorsprung vor China, doch Krastev und Holmes bezweifeln, ob ihnen das zum Beispiel bei Handelsstreitigkeiten viel nützen wird. Denn während die USA für China völlig transparent sind, sind die chinesischen Strukturen, Machtverhältnisse Denkweisen und für die USA kaum zu durchschauen. Naturgemäß kennen die Nachahmer die Nachgeahmten weit besser als umgekehrt. Doch um eine gute Strategie zu entwickeln, muss man verstehen, wie die Gegenseite denkt.
Nachahmer können zu Wettbewerbern werden, vor allem wenn sie schneller lernen als die Nachgeahmten. Davon haben nach dem Krieg schon Deutschland und Japan profitiert, nun kommen die Asiaten und vor allem China hinzu. Spätestens wenn die Nachahmer die Nachgeahmten überholen und davonziehen, wirkt sich das auch auf Arbeitsplätze, Einkommen und Lebensstandards aus.
Das hat die amerikanische Mittelschicht sehr schmerzlich zu spüren bekommen. Insbesondere von den gutbezahlten Industriearbeitsplätzen sind viele weggefallen, was dort jene Ressentiments auslöst, die Trump ins Amt gebracht haben. Auch in der Ablehnung von Immigration ist der einstmalige "Schmelztiegel" USA Osteuropa daher überraschend ähnlich geworden.
Neben die Befürchtung, dass sich die Einwanderer nicht integrieren, tritt aber zunehmend die Befürchtung, dass sie sich integrieren – und zwar (zu) gut, und dass sie damit zur gefährlichen Konkurrenz werden. Auf diese Weise werden sie zu einer Bedrohung nicht nur für das Einkommen, sondern auch für Selbstwertgefühl und Identität:
"If those with an entirely different genetic inheritance can internalize the cultural legacy of multi-generational inhabitants of their host country, then national identity does not really reflect a blood bond tying the current generation to its dead forefathers. [This] helps explain the roiling emotionalism of anti-immigrant politics. It stems, on this account, from an unspoken fear of identity theft." (S. 171)
Lügen als Macht über die Wahrheit
Auch beim Thema Lügen sind die Parallelen zwischen Trump und Putin so frappierend, dass man meinen könnte, was die USA und der Westen für Putin, das sind für Trump die Demokraten, die Medien sowie jene Teile der Öffentlichkeit, die sich ein eigenes Bild zu machen versuchen und nicht bedingungslos auf seiner Seite stehen. Krastev und Holmes zitieren die russischstämmige amerikanische Journalistin Mascha Gessen mit einer bemerkenswerten Analyse:
"Lying is the message. It's not that both Putin and Trump lie, it is that they lie in the same way and for the same purpose: blatantly, to assert power over the truth itself." (S. 173f.)
Beide machen Loyalität ihrer Umgebung daran fest, ob Menschen bereit sind, scham- und hemmungslos für ihren Chef und dessen Erfolg zu lügen. Wenn man sich vergegenwärtigt, wieviel Aufwand anderswo getrieben wird, um Politiker der Lüge (oder auch nur der Unwahrheit) zu überführen und sie damit zum Rücktritt zu zwingen, wirkt das wie verkehrte Welt: Nicht nur bei Putin, auch bei Trump wäre der Versuch, ihn der Lüge zu überführen, die Mühe nicht wert, weil ohne jeden Erkenntnisgewinn.
Inzwischen markiert das Verhältnis zu den Tatsachen eine neue gesellschaftliche Trennlinie zwischen denen, die sich an den Fakten zu orientieren versuchen, und jenen, denen Loyalität über alles geht:
"Such deeply felt loyalty to a leader or a movement cannot be shaken by official documents or other such bureaucratic niceties. The willingness to repeat such factual untruths is a test of loyalty. It represents an existential decision to burn all bridges to the world of over-educated elites who still think that accuracy matters more than loyalty." (S. 177)
Damit hat Trump eine bürgerliche Zivilgesellschaft in konkurrierende Fanclubs verwandelt. Allerdings um den Preis, dass diese Fans mit den Fans der anderen Clubs keine gemeinsame Welt mehr bewohnen und keine gemeinsame Realität mehr anerkennen. Das macht einen demokratischen Diskurs nahezu unmöglich, und erst recht die gemeinsame Suche nach der besten Lösung oder zumindest nach einem akzeptablen Kompromiss: Ein Totalschaden für eine demokratische Gesellschaft.
China beendet das Zeitalter der Nachahmung
In diese hochgradig verfahrene und völlig unaufgeräumte Weltlage tritt mit wachsender Vehemenz China als neue, aufstrebende geopolitische Kraft. Im kurzen letzten Schlussabschnitt "The Closing of markiert an Age" beschreiben die Autoren, wie der Auftritt Chinas zugleich das Ende der Epoche der Imitation und der Vorbote eines neuen Zeitalters ust.
China hat aus dem Kollaps der Sowjetunion gelernt, dass die beherrschende Macht der Partei als ordnende Kraft um jeden Preis aufrechterhalten werden muss, um einen geordneten Übergang in die neue Zeit hinzubekommen. Mit Kommunismus hat die chinesische KP schon lange nichts mehr am Hut, aber sie behielt das riesige Reich auch nach dem faktischen Ende des Kommunismus' in eisernem Griff – ganz im Gegensatz zur KPdSU, der die Herrschaft rasch entglitten war.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Art, wie sie Chinesen die Nachahmung des Westens ausgestaltet haben. Sie betrachteten sie weder, wie viele ehemalige Ostblockländer, als Konversion noch, wie Russland, als Schwindel, sondern als konsequente Aneignung: Sie nötigten westliche Firmen dazu, ihr Know-how offenzulegen, um mit China ins Geschäft zu kommen, und ließen westliche Firmen nur als Joint Venture-Partner von chinesischen zu. Und das auch nur, solange sie auf sie angewiesen waren; dann wurden viele Joint Ventures beendet und die westlichen Partner aus dem Geschäft gedrängt.
Aus der Sicht von Krastev und Holmes übernahmen sie die Mittel, verweigerten sich aber den Zielen:
"They borrowed exuberantly but refuse to convert." (S. 195)
Die spannende Frage ist, ob die Entwicklung auf einen neuen Kalten Krieg zwischen zwei konkurrierenden weltanschaulichen Systemen hinauslaufen wird. Krastev und Holmes erwarten das nicht; sie gehen davon aus, dass die chinesische Parteiführung vor allem an Stabilität interessiert ist, wenn auch verbunden mit dem Bemühen, ihrem Volk demokratische Flausen auszutreiben und die "Amerikanisierung" zurückzudrängen.
Keine Systemkonkurrenz mehr
Stattdessen rechnen Krastev und Holmes mit harten Auseinandersetzungen um ökonomische Machtfragen, etwa um Handel, Investitionen, Währungen und Technologie. China strebt nach internationalem Einfluss und Ansehen, aber es verspricht sich nichts davon, andere Länder nach dem eigenen Vorbild auszurichten.
Auch wenn es mit Projekten wie der Neuen Seidenstraße versucht, Ansehen und Geschäftsbeziehungen zu gewinnen, sollte man nicht erwarten, dass China dies aus schierer Menschenfreundlichkeit tut. Vielmehr wird es, wie schon bisher, seine Macht – und die Attraktivität seiner Märkte – nutzen, um anderen seine Vorstellungen aufzuzwingen. Aber aller Voraussicht nach wird es nicht versuchen, andere zur eigenen Lebensart zu bekehren. Es hat keine missionarischen oder ideologischen Ambitionen.
Genau deshalb markiert der Aufstieg Chinas das Ende des Zeitalters der Nachahmung. Leider scheint damit auch die Idee von der Menschheit als einer globalen Familie verlorenzugehen, die dazu in der Lage ist, aber auch vor der Notwendigkeit steht, ihre grenzübergreifenden Probleme gemeinsam zu lösen. Aus Sicht der Autoren ist das ein selbstverschuldeter Rückschlag für den liberalen Geist der Aufklärung:
"With no alternative center of power, liberalism fell in love with itself and lost its way." (S. 205)
Trotzdem haben sie keine Sorge, dass die Menschen Freiheit und Pluralismus nicht mehr wertschätzen und die liberale Demokratie untergehen wird. Ebenso wenig glauben sie, dass reaktionärer Autoritarismus und Nationalismus die Welt erben wird. Vielmehr erwarten sie die Rückkehr einer pluralistischen, von Wettbewerb geprägten Welt unterschiedlichster Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme.
Letzten Endes finden sie das gar keine so schlechte Perspektive – wobei sie elegant außer Acht lassen, dass vielleicht Staaten, aber kaum ihre Bürger die Wahl zwischen unterschiedlichen Systemen haben:
"… we can celebrate our return to a world of perpetually jostling political alternatives, realizing that a chastisised liberalism, having recovered from its unrealistic and self-defeating aspirations for global hegemony, remains the political idea most at home in the twenty-first century." (S. 205)
Insgesamt ein überraschend schlüssiges Erklärungsmodell
Insgesamt ein außergewöhnlich gedanken- und beobachtungsreiches Buch, auch wenn es nicht leicht zu lesen ist und zumindest mir mehrere Durchgänge abverlangt hat, bis ich die wesentlichen Gedankengänge durchdrungen hatte. Trotzdem: Wer verstehen möchte, weshalb die Welt sich nach dem so verheißungsvollen Fall des Eisernen Vorhangs in ein so aggressives und destruktives Durcheinander verwandelt hat, der findet hier ein überraschend schlüssiges und durchgängiges Erklärungsmodell.
"The Light that Failed" fügt sich auf erstaunliche Weise zusammen mit Kishore Mahbubanis "Has China Won?" Letzteres setzt da ein, wo Krastev und Holmes aufhören, und beleuchtet die künftige Rolle Chinas in der Geopolitik.
Das Buch ist unter dem Titel "Das Licht, das erlosch – Eine Abrechnung" auch auf Deutsch verfügbar. Wer nicht ziemlich gut Englisch liest und dabei auch mit einem anspruchsvollen Text keine Probleme hat, ist in diesem Fall mit der deutschen Übersetzung (die ich nicht kenne) möglicherweise besser bedient.
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