Lesenswerte Biografie einer eindrucksvollen Frau, die mit dem Begriff "Mut zur Unvollkommenheit" einen, wenn nicht den Kerngedanken der Individualpsychologie auf den Punkt brachte. Mit ihrem mutigen Leben trotzte sie den Wirren des 20. Jahrhunderts.
Wer sich intensiver mit Individualpsychologie befasst, stößt früher oder später auf den "Mut zur Unvollkommenheit" – ein Begriff, der untrennbar mit dem Namen Sofie Lazarsfeld verbunden ist. Im Grunde ist er eine hochprägnante Antwort auf die Frage nach der Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls, also des allzu menschlichen Gefühls, nicht gut genug zu sein, den eigenen Ansprüchen sowie denen des Lebens nicht zu genügen.
Erfinderin des "Muts zur Unvollkommenheit"
"Mensch sein, heißt, sich minderwertig fühlen", hat Alfred Adler gesagt. Sich minderwertig zu fühlen, ist umso naheliegender, je höhere Ansprüche man an sich selbst stellt (oder vermutet). Deshalb ist der "Mut zur Unvollkommenheit" mit der darin implizierten dezidierten Absage an den Perfektionismus die ebenso logische wie pragmatische Therapie des Minderwertigkeitsgefühls. Mit dem Merksatz "Mutig und unvollkommen das Erforderliche tun" hat Theo Schoenaker Lazarsfelds Gedanken aufgenommen.
Das Schöne an dem Begriff "Mut zur Unvollkommenheit" ist, dass er unmittelbar Orientierung vermittelt. Er eignet sich hervorragend als Merk- und als Leitsatz, im Gegensatz zu dem diagnostisch sehr treffenden Begriff des Minderwertigkeitsgefühls, in dem sich zwar jede und jeder wiederfindet, der aber keinen Hinweis darauf gibt, was man tun kann oder sollte, um es zu überwinden. Es ist nicht übertrieben zu sagen: "Mut zur Unvollkommenheit" ist die prägnanteste denkbare Verdichtung der Individualpsychologie und ihrer Kernbotschaft in einem Wort.
Sofie Lazarsfeld hat diesen genialen Begriff wohl um 1925 geprägt und 1926 zum Titel eines gleichnamigen Artikels in der "Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie" gemacht. (Leider ist es mir bislang nicht gelungen, diesen Artikel selbst in die Hände zu bekommen.) Doch so sehr seine Urheberin mit diesem Begriff verbunden ist, so wenig weiß man heute sonst über sie. Dabei wäre es durchaus naheliegend zu vermuten: Wer zu solch einer genialen Verdichtung in der Lage ist, hätte vielleicht noch mehr zu sagen, was sich auch heute noch zu lesen lohnt.
Da ist es sehr erfreulich, dass die Berliner Psychologin und Psychotherapeutin Martina Siems Sofie Lazarsfeld dem Beinahe-Vergessen entrissen hat, indem sie eine kompakte und gut lesbare Einführung in ihr Leben und Werk verfasst hat. "Die Wiederentdeckung einer individualpsychologischen Pionierin", die der Untertitel verheißt, ist ihr gelungen. Und zwar "vollumfänglich", wie es in Arbeitszeugnissen so sprachgewandt heißt.
Unfreiwillig ein sehr ereignisreiches Leben
Sofie Lazarsfeld, geb. Munk, wurde 1881 in Troppau (Schlesien, heute Opava) geboren, und sie führte teils freiwillig, teils unfreiwillig ein sehr ereignisreiches Leben. Nach dem frühen Tod ihres Vaters und der Wiederverheiratung ihrer Mutter kam sie 1890 nach Wien, wo sie als Jüdin mit massivem Antisemitismus konfrontiert war. Mit 16 endete die Schulausbildung für die intelligente und lernbegierige junge Frau.
Mit knapp 19 heiratete Sofie Munk den angehenden Rechtsanwalt Paul Lazarsfeld und gebar ihm zwei Kinder. Es folgten schwierige Aufbaujahre und dann der Erste Weltkrieg, zu dem Paul trotz seines Alters eingezogen wurde. Nach dem Krieg wurden beide bei den österreichischen Sozialdemokraten aktiv – und Sofie kam auf der Suche nach einer Erklärung für Nationalismus und Konservatismus mit der Individualpsychologie und Alfred Adler in Verbindung.
Letztlich begann sie mit 40 ein neues Leben. Sie fand in der Individualpsychologie, wie Siems sie zitiert, "einen Platz, wo ich mich heimisch fühlen konnte und wohin ich gehörte" (S. 56) Sie packte diese neue Aufgabe mit großer Energie und bewundernswerten Vertrauen in ihre Lernfähigkeit an. Bereits 1924 hielt sie ihren ersten "aktenkundigen" Vortrag; auf dem zweiten internationalen Kongress für Individualpsychologie 1925 hielt sie dann den viel beachteten Vortrag "Über den Mut zur Unvollkommenheit", der 1926 auch im Druck erschien.
Insgesamt dokumentiert Siems 27 Veröffentlichungen von Sofie Lazarsfeld – doppelt beeindruckend, wenn man bedenkt, dass sie mit 16 die Schule verlassen musste und danach 20 Jahre lang weitgehend auf die Hausfrauenrolle beschränkt war. Doch ihr Wirken reicht darüber hinaus: "Eine besonders innovative Leistung für die Individualpsychologie war die Gründung der ersten Sommerschule im Jahr 1932, deren Initiierung auf Sofie Love Lazarsfeld zurückgeht." (S. 60)
Diese intensiven, arbeitsreichen und wohl auch glücklichen Jahre im "Roten Wien" endete abrupt mit der Machtübernahme Hitlers und dem "Anschluss" Österreichs. Da die Zeitgenossen – im Gegensatz zu uns heute – die Fortsetzung der Geschichte nicht kannten, ist zu verstehen, dass viele auf eine Rückkehr der Normalität hofften und die Stellung halten wollten. Doch als die Repressionen zunahmen, erkannten viele Individualpsychologen, dass sie in Österreich (bzw. im Machtbereich der NSDAP) in Lebensgefahr waren. 1938 verließen die Lazarsfelds Wien – buchstäblich im letzten Moment.
In den USA als Psychologin anerkannt
Sie flohen zunächst nach Paris, wo Lazarsfeld sich dank ihrer exzellenten Französischkenntnisse und guten Kontakte schnell und gut einlebte. Doch ihr Mann erkrankte und starb 1939. 1941, also mit 60, war sie gezwungen, Frankreich zu verlassen und weiter in die USA zu flüchten. Das fiel ihr weitaus schwerer, doch nachdem sie die englische Sprache rasch gelernt hatte, wurde sie 1946 amerikanische Staatsbürgerin.
Nach dem Krieg erwog sie, nach Europa zurückzukehren, blieb aber letztlich in New York, wo sie in der Individual Psychology Society (später: Association) mitarbeitete und zeitweilig deren Vizepräsidentin war. Ab 1950 konnte sie auch als anerkannte Psychologen arbeiten, was sie denn auch bis ins hohe Alter tat. Aus dieser Zeit sind zehn Veröffentlichungen bekannt. 1976 verstarb sie im Alter von 95 Jahren, wenige Wochen nach dem Tod ihres Sohns.
Ihr Lebensweg legte nahe, dass Sofie Lazarsfeld sich anfangs vor allem mit Fragen der Erziehung und Partnerschaft befasste, später auch zunehmend mit der "Frauenfrage" und dem Verhältnis der Geschlechter. Dabei stand sie, wie die Individualpsychologie insgesamt, in der Tradition der Reformpädagogik, die Kinder nicht "zurichten", sondern ihnen eine innengemäße Entwicklung ermöglichen wollte.
Wie der biografische Zufall es wollte, geriet sie damit im "Roten Wien" in eine Epoche, in der Erziehungs- und Schulreform einen unglaublichen Aufschwung erlebten, der erst durch die nationalsozialistische Machtergreifung jäh abgewürgt wurde. Alfred Adler selbst sah Lazarsfeld als begeisterte und volkstümliche Individualpsychologen, berichtet Siems und stellt fest, dass sich ihre Werke auch heute noch modern und zeitgemäß lesen.
Neben Fachartikeln verfasste sie auch populäre Werke wie "Vom häuslichen Frieden" und "Wie die Frau den Mann erlebt", die nicht nur ihre eigenen Erfahrungen reflektierten, sondern auch die aus ihrer Erziehungs- und Eheberatung. Es scheint mir nicht sinnvoll, die Zusammenfassung ihrer Gedanken, die Martina Siems in ihrer Biografie vornimmt, hier nochmal zusammenzufassen, zumal sie keine wirklichen Überraschungen bergen.
Tatsächlich sind ihre Aussagen auch aus heutiger Sicht modern und richtungsweisend. Es finden sich darunter jedoch keine (aus heutiger Sicht) völlig ungewöhnlichen und neuartigen Gedanken, die man einfach referieren müsste. Und auch keine weiteren Formulierungen von ähnlicher Prägnanz wie der "Mut zur Unvollkommenheit", den man gar nicht oft genug zitieren kann.
Erfreulich jedoch, dass seine fast vergessene Urheberin in dieser Biografie eine verdiente Würdigung findet. Wer sich für prägende Persönlichkeiten der frühen Individualpsychologie, deren Verbindungen zur österreichischen Sozialdemokratie und die Epoche des "Roten Wien" interessiert, dem ist diese Biografie zu empfehlen.
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