Dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist, weiß ja schon der Volksmund. In welchem Maß dies aber unser Schicksal bestimmt, macht dieses Buch klar. Es erklärt, wie Gewohnheiten entstehen und sich verfestigen, aber auch, wie sie sich ändern lassen.
Aus blankem Eigeninteresse freue ich mich, mal wieder eine Höchstbewertung vergeben zu können: Aus diesem Buch kann man mit wenig Mühe wirklich eine Menge lernen über Gewohnheiten, die unser Leben in weit stärkerem Maße bestimmen als das den meisten von uns bewusst ist. Nicht zuletzt prägen sie auch das alltägliche Handeln der Mitarbeiter und Führungskräfte von Unternehmen und anderen Organisationen nach innen und außen, also deren Unternehmens- bzw. Organisationskultur.
Wenn man Kultur, so wie ich es in Anlehnung an Michael Löhner tue, als die Menge der Gewohnheiten eines sozialen Systems definiert (oder genauer: als die Menge der Gewohnheiten, in der sich dieses System von anderen sozialen Systemen unterscheidet), dann liegt es nahe, so viel wie möglich über die "Feinmechanik" von Gewohnheiten wissen zu wollen: Wie entstehen sie? Was erhält sie aufrecht und stabilisiert sie? Und vor allem: Wie lassen sie sich (trotzdem) verändern? Für alle diese Fragen ist "Good Habits, Bad Habits" eine exzellente Quelle – ebenso fundiert wie praxisnah.
Die Britin Wendy Wood ist "Provost Professor for Psychology and Business", also wohl so etwas wie Institutsdirektorin, an der Universität von Südkalifornien. Ihr Buch besteht aus drei Teilen zu jeweils fünf Kapiteln. Im ersten Teil "How We Really Are" beschreibt sie, welche völlig unterschätzte Rolle Gewohnheiten in unserem Leben spielen. Im zweiten erklärt sie "The Three Basics of Habit Formation", und im dritten Teil "Special Cases, Big Opportunities, and the World Around Us" geht es um diverse Spezial- und Anwendungsfälle für ihre Erkenntnisse, bis hin zur Bewältigung von Suchtkrankheiten (die man ja durchaus auch als eine schlechte Angewohnheit verstehen kann).
Gewohnheiten bestimmen unser Leben
Zugespitzt gesagt, ist die zentrale Botschaft des ersten Teils: Wenn wir verstünden, welch bestimmenden Einfluss Gewohnheiten auf unser gesamtes Leben haben, würden wir uns mehr Mühe mit ihnen machen. Denn sie beeinflussen maßgeblich unsere sozialen Beziehungen, unsere Gesundheit, unseren Erfolg, unsere Karriere, ja sogar unsere Lebensqualität und Lebenserwartung.
Dass uns die Stärke ihres Einflusses nicht bewusst ist, ist kein Zufall: Es liegt im Wesen von Gewohnheiten, dass sie ihre Wirkung im Stillen entfalten. Sie sind unser Autopilot, der immer dann unser Handeln steuert, wenn wir nicht bewusst agieren – also meistens. Trotzdem nehmen wir sie kaum wahr und wissen wenig über ihre Macht. Deshalb unterschätzen wir den Einfluss von Gewohnheiten auf unser Leben massiv – und überschätzen in gleichem Maße den Einfluss unserer bewussten Entscheidungen.
"Habits work so smoothly that we hardly ever think about them. The world of habit is so self-contained, it makes sense to think of it as a kind of second self – a side of you that lives in the shadow cast by the thinking mind you know so well. Understanding how this works requires the full resource of psychology and neuroscience." (S. 17)
Die Forscherin schätzt, dass etwa die Hälfte unseres Alltags von Gewohnheiten bestimmt ist, beginnend mit unseren Morgenritualen über die Fahrt in die Arbeit und wesentliche Teile unseres Tagesablaufs bis zum Einkaufen, Essen, Sport und dem gewohnten Abendprogramm.
Das hat enorme Vorteile: Wir müssen nicht jedes Mal neu entscheiden, ob, wann und wie wir uns die Zähne putzen, Kaffee kochen, in die Arbeit gehen, zu Mittag essen etc. – all das erledigt, sobald die Gewohnheit einmal aufgebaut ist, der Autopilot. Und zwar so still und unauffällig, dass wir es kaum bemerken, solange die Routine nicht gestört wird. Erst wenn zum Beispiel das Wasser abgestellt ist, das Auto nicht anspringt oder die S-Bahn nicht fährt, wachen wir aus unseren Gedanken auf, treten ins Hier und Jetzt und überlegen, was wir nun tun können.
Jeder von uns kennt die Erfahrung, unterwegs plötzlich aufzuschrecken und sich fragen, ob wir den Herd abgeschaltet, die Fenster geschlossen oder die Haustür abgesperrt haben. Und dass wir dann umkehren, nur um zuhause festzustellen, dass wir das offenbar doch gemacht haben und alles in Ordnung ist. Nein, wir haben es nicht gemacht, der Autopilot hat es in stummer Routine erledigt, während unser bewusstes Ich danebenstand und mit den Gedanken ganz woanders war.
Herunterschnurren müheloser Routinen
Um Gewohnheiten zu aktivieren, genügt der gewohnte Kontext: Wenn wir uns morgens erheben, weiß der Autopilot, wie es weitergeht, und dann knüpft sich Schritt an Schritt. Bis die erste bewusste Entscheidung getroffen wird, kann eine halbe Stunde oder noch mehr vergehen – vor allem wenn wir, wie es vor allem wir Männer gerne tun, unsere Bekleidungsgewohnheiten so weit standardisiert haben, dass morgens keine bewusste Wahl mehr erforderlich ist. Es folgt der Weg in die Arbeit und die morgendliche Büroroutine – auch das weitgehend via Autopilot.
Spätestens zur Mittagszeit ist er wieder an der Reihe: Wenn ein Hungergefühl und/oder die Uhr es anzeigen, machen wir uns auf in die Kantine, sammeln unterwegs ein paar Kolleginnen ein, mit denen wir immer zum Essen gehen, vergessen beinahe die neue Kollegin, die erst seit ein paar Tagen da ist, weil sie noch nicht Teil der Routine ist, machen routiniert ein paar Scherze, nehmen (wie immer) den Aufzug oder die Treppe, wählen wie immer die Salatbar oder das, worauf wir die meiste Lust haben (sprich, das mit den meisten Kalorien), essen, plaudern, nehmen noch einen Kaffee, verwerfen wie immer die Überlegung, noch kurz an die frische Luft zu gehen, weil die Arbeit wartet, fahren zum Ausgleich mit dem Lift hinauf, kehren nach ein paar letzten Sätzen im Flur ins Büro zurück und schauen als erstes, was an neuen Mails gekommen ist …
Drei charakteristische Merkmale von Gewohnheiten arbeitet Wood heraus: Erstens werden sie automatisch durch den jeweiligen Kontext aktiviert, ohne dass eine aktive Entscheidung erforderlich ist. Was zu putzigen Fehlhandlungen führen kann: Öffnen wir die Garage, gehen wir "automatisch" hinein, öffnen die Autotür, setzen uns hinein und starten – auch wenn unsere eigentliche Absicht war, aus der Garage etwas zu holen, was wir dort gelagert haben. Erst wenn wir mit laufendem Motor vor der Garage stehen und uns der nächste Auslöser einer Routine – ein plausibles Fahrtziel – fehlt, stellen wir kopfschüttelnd fest, dass wir heute offenbar etwas unkonzentriert sind. Aber in 99 Prozent der Fälle passt die Routine.
Zweitens sind Gewohnheiten, wie Wood schreibt, "relatively insensitive to rewards" (S. 39). Was auch ganz praktisch ist, denn viele unserer alltäglichen Routinen, vom Zähneputzen bis zum Einsteigen in die S-Bahn, sind nicht so richtig belohnend.
Und drittens verlaufen Gewohnheiten mühelos und ohne Anstrengung ("effortless"). Sie belohnen sich gewissermaßen selbst: Der Autopilot scheint Freude daran zu haben, abschnurren zu dürfen. Im Gegensatz zu bewusstem Denken: Das ist anstrengend und verbraucht viel Energie – weshalb wir es auch gerne vermeiden oder auf das Nötigste beschränken.
Das ist wörtlich zu nehmen: Weil bewusstes Denken und Entscheiden mit einem hohen Energieaufwand verbunden und damit eine knappe Ressource ist, hat uns die Evolution so konstruiert, dass wir davon nur dann Gebrauch machen, wenn es wirklich notwendig ist (und zuweilen nicht einmal dann).
Damit sind wir wieder bei der Unterscheidung von "System 1" und "System 2", auf die Daniel Kahneman mit dem Titel seines Bestsellers Thinking, Fast and Slow anspielt. Wood bezeichnet dies als das "default-interventionist system" (S. 63). Was so viel heißen soll wie: Der Autopilot macht, soweit er kommt; nur wenn er nicht mehr weiterkommt, wird – vorübergehend – das bewusste Denken aktiviert. Und sobald das Problem gelöst ist, übernimmt wieder der Autopilot.
Wie Gewohnheiten entstehen
Für den Fortbestand von Gewohnheiten sind Belohnungen nicht wichtig, wohl aber für deren Entstehen:
"Goals and rewards, it seems, are critical for starting to do something repeatedly. They are what lead us to form many beneficial habits in the first place." (S. 42)
Dabei entsteht eine Koppelung, die Woods "chunking" nennt – "binding together bits of information into a coherent whole" (S. 43). Diese Koppelung ist auch der Kern ihrer Definition von Gewohnheiten:
"[Habits are] a mental association between a context cue and a response that develops as we repeat an action in that context for a reward." (S. 43)
Einstmals neutrale Gegebenheiten werden auf diese Weise zum Auslösereiz. Psychologen fällt hier natürlich sofort die Ähnlichkeit mit der Klassischen Konditionierung auf, die ja in der Psychologiegeschichte reichlich untersucht und untermauert wurde. Tatsächlich kann man eine Gewohnheit ja als das Ergebnis eines simplen Lernprozesses, sprich einer Konditionierung sehen.
Überraschend ist aber, dass Gewohnheiten offenbar in einem anderen Teil des Gehirns gespeichert werden als andere Erinnerungen, nämlich in einem "procedural memory" (S. 46). Seine Inhalte sind dem Bewusstsein nicht zugänglich, dafür sind sie aber fester und dauerhafter gespeichert. Im Gegensatz zu anderen Gedächtnisinhalten vergisst man sie kaum: Abläufe, die man in frühen Jahren gelernt hat, behält man für immer, auch wenn man sie jahrzehntelang nicht verwendet. Das weiß auch der Volksmund: Fahrrad- oder Skifahren verlernt man nicht.
Das ist eine sehr gute Nachricht bei nützlichen Gewohnheiten – und eine ziemlich schlechte bei unnützen oder schädlichen. Aber die Expertin, die dieses Gebiet seit Jahrzehnten beforscht, stellt nüchtern fest: Für die Art, wie sie entstehen und funktionieren, macht es keinerlei Unterschied, ob es sich um gute oder schlechte Angewohnheiten handelt. Daher kann man dem Gründervater der amerikanischen Psychologie William James (1842 - 1910) nur zustimmen: Wenn wir ahnten, wie sehr sie lebenslang unser Handeln bestimmen, würden wir uns in frühen Jahren mehr Mühe mit der Ausgestaltung unserer Gewohnheiten machen.
Die Grenzen der Willenskraft
Genau wegen dieses Eigenlebens ist es auch so schwer, Gewohnheiten zu verändern – und so enttäuschend unergiebig, dies mit guten Vorsätzen und Willenskraft zu versuchen. Hinter diesem gängigen Ansatz steht letztlich eine maßlose Überschätzung des Einflusses, den unser Bewusstsein und damit unser Willen auf unser Handeln hat. Er ist recht erfolgreich bei Entschlüssen, die mit einer einmaligen mutigen Handlung umgesetzt werden können, aber es versagt völlig beim Kampf gegen eingeschliffene schlechte Gewohnheiten.
Was uns als Mangel an Willenskraft erscheint, ist in Wirklichkeit eine Fehleinschätzung von deren Einfluss auf unseren Autopiloten. Und umgekehrt: Was von außen als besondere Willenskraft erscheint, ist vor allem ein geschickterer – oder glücklicherer – Umgang mit dem Autopiloten. Der entscheidende Trick ist nicht, einen einmal gefassten Entschluss mit eisernem Willen durchzuhalten – er ist, sich den Aufbau der neuen Gewohnheit so einfach wie möglich zu machen und sich zugleich den Rückfall in die alten Gewohnheit möglichst zu erschweren.
Es ist schlicht aussichtslos, der Verlockung alter Gewohnheiten heroisch widerstehen zu wollen. Wood spricht hier pointiert von der "limited power of self-control" (S. 66). Der größte Fehler ist, seine Aufmerksamkeit auf die Versuchung zu konzentrieren. Wer dies tut, vergrößert sie, bis er ihr schließlich erliegt. Deutlich mehr Erfolg verspricht es, sich abzulenken und alles, was an die Versuchung erinnern könnte, weit aus dem Weg zu räumen.
Wer zum Beispiel weniger Süßigkeiten essen will, sollte nicht zu versuchen, den Gedanken an Süßigkeiten zu unterdrücken. Das ist ein verlorenes Spiel, denn es ist unmöglich, sich "keine Süßigkeiten" vorzustellen – damit fokussiert man sich nur noch stärker darauf. Nützlich ist dagegen, sich bewusst abzulenken, indem man sich auf etwas anderes konzentriert, das einen interessiert und/oder mental voll auslastet. Nützlich ist ebenfalls, keine Süßigkeiten im Haus haben und schon gar nicht in Sichtweite.
Wie zahlreiche Untersuchungen von Wood und Kollegen zeigten, sind vermeintlich "willensstarke" Menschen einfach nur sehr gut darin, neue Gewohnheiten aufzubauen und zu verankern. Sie widerstehen nicht der Versuchung, sondern gewöhnen sich schnell und effizient eine neue Routine an. Wie die Forscherin unmissverständlich deutlich macht, ist das Einzige, was wir zum Aufbau besserer Gewohnheiten tun können, dem Autopiloten eine gut gezielte "Steilvorlage" zuzuspielen:
"The good effects that we popularly ascribe to 'self-control' are, it seems, more accurately captured by situational control. (…) A habit happens when a context cue is sufficiently associated with a rewarding response to become automatic, to fade into that hardworking, quiet second self.
That's it. Cue and response. Notice that there's no room in that mechanism for, well, you. You're not a part of it, not as you probably think of yourself. You – your goals, your will, your wishes – don't have any part to play in habits. Goals can orient you to build a habit, but your desires don't make habits work. Actually, your habit self would benefit if 'you' just got out of the way." (S. 79f.)
Die drei Kernelemente Kontext, Wiederholung und Belohnung
Für die Entstehung von Gewohnheiten sind drei Kernelemente ausschlaggebend, nämlich Kontext, Wiederholung und Belohnung. Wiederholung und Belohnung sind leicht zu verstehen; Kontext hingegen ist erklärungsbedürftig. Damit ist ziemlich genau dasselbe gemeint, wie ich es in meinem Modell von Unternehmenskultur als "Rahmenbedingungen" bezeichne: "Kontext" ist das gesamte Umfeld (Setting), das im realen Leben mitbestimmt, welches Verhalten unter den gegebenen Umständen sinnvoll ist.
Wood nimmt Bezug auf die Feldtheorie von Kurt Lewin und erläutert:
"Context refers to everything in the world surrounding you – everything but you. It includes the location you are in, the people you are with, the time of the day, and the actions you just performed. Even your mobile phone represents a context that is a physical as well as a virtual space external to you. These are the external forces that drive or restrain our actions. Thus, in Lewin's famous equation, behavior is a function of the person and the context/environment." (S. 89f.)
Aus dem Kontext bzw. den gegebenen Rahmenbedingungen ergibt sich, welches Verhalten in einem gegebenen Umfeld leicht zu realisieren ist und was mit Reibung, Anstrengung und Mehraufwand verbunden wäre. Als Beispiel für solche "Kraftfelder" nennt sie Rauchverbote und Einschränkungen des Tabakverkaufs, die dem Rauchen "Reibung" (friction) entgegensetzen. Umgekehrt waren in einer glücklicherweise vergangenen Zeit verräucherte Kneipen, in denen sich alle paar Minuten jemand eine Zigarette anzündete, ein "reibungsloser" (low friction) Kontext, der das Rauchen erleichterte und nahelegte.
Das hat unmittelbare praktische Konsequenzen für die Veränderung von Gewohnheiten: Wenn man die eigenen Gewohnheiten oder die von anderen Menschen verändern möchte, muss man sich bzw. ihnen das erwünschte Verhalten so leicht wie möglich machen, ihm also möglichst wenig Reibung entgegensetzen und bestehende Hürden nach Möglichkeit aus dem Weg räumen. Zugleich muss man für das unerwünschte Verhalten die "Reibung" erhöhen.
Bei weitem nicht der einzige, aber ein wesentlicher Faktor ist räumliche Nähe: Sie bestimmt maßgeblich mit darüber, wo wir zum Beispiel spazieren gehen, einkaufen oder in welche Lokale wir gehen. Wie Untersuchungen zeigen, bestimmt sie sogar mit über den eigenen Freundeskreis. Um die "Reibung" zu vergrößern, kann man also zum Beispiel die räumliche Distanz vergrößern (beispielsweise zwischen einem selbst und den Süßigkeiten), um sie zu reduzieren, reduziert man die Distanz, legt also beispielsweise die Sportsachen oder Arbeitsmaterialien griffbereit.
Wiederholungen und – unregelmäßige! – Belohnungen
Dass Wiederholung für den Aufbau von Gewohnheiten eine Rolle spielt, ist naheliegend. Spannend ist aber, wie unmerklich aus bewusster und planmäßiger (oder auch weniger bewusster und ungeplanter) Wiederholung eine Gewohnheit entsteht – und wie man das für den Aufbau neuer Gewohnheiten gezielt nutzen kann. Wood vergleicht das mit dem Einschlafen:
"The magic begins silently, and you won't realize when it kicks in. You have to trust that it will happen, because it is the standard way that repeated rewarded actions restructure the way information is stored in our brain. Before then, it's going to be some work. Until we have laid down a habit in neural networks and memory systems, we must willfully decide to repeat a new action again and again, even when it's a struggle. At some point, it becomes second nature, and we can sit back and let the autopilot drive." (S. 102)
Eine gute Nachricht ist dabei, dass gelegentliche Unterbrechungen dem Aufbau einer neuen Gewohnheit nicht im Weg steht. Auch wenn diese Feststellung natürlich die Verführung birgt, die Sache zu sehr schleifen zu lassen. Offenbar gibt es keine scharfe Grenze für das Einsetzen einer Gewohnheit: Sie baut sich allmählich auf und ersetzt schleichend unsere bewusste Entscheidung bzw. umgeht sie.
Eine weitere Hürde müssen neue Gewohnheiten nehmen: Sie müssen einen festen Platz in unserem Tagesablauf finden. Der aber hat bei den meisten Menschen wenig weiße Flecken. Neue Gewohnheiten müssen also möglicherweise erst ältere verdrängen oder überschreiben, um überhaupt in den Kalender zu passen. Auch hier hilft sture Wiederholung: Sie bewirkt, dass die neue Gewohnheit im Autopilot allmählich Vorfahrt vor der alten bekommt. Nach etwa fünf Wochen, so lässt die Autorin anklingen, wird es meist leichter.
Mit der Feststellung, dass Gewohnheiten für ihre Entstehung auf Belohnungen angewisen sind, sind wir im Grunde im Bereich der klassischen Lerntheorie, Unterabteilung positive Verstärkung. Intrinsische Belohnungen – dass das Verhalten also einen direkten Nutzen für uns hat – sind, wie immer, am besten, aber extrinsische funktionieren auch. Und – auch hier getreu der klassischen Lerntheorie – intermittierende, also unregelmäßige Verstärkungen sind wirksamer, um langfristig stabile Gewohnheiten aufzubauen, als regelmäßige.
Spätestens hier stutzt man als gelernter Psychologe und fragt sich, was an dem, was Wood da schreibt, eigentlich neu ist – oder ob sie nur unter einem anderen Namen die Lerntheorie neu erfunden hat, nur dass sie halt statt von "erlerntem Verhalten" von "Gewohnheiten" spricht. Was aber, je genauer man hinschaut, umso weniger zu unterscheiden ist.
Die entscheidenden neuen Erkenntnisse liegen meines Erachtens erstens in der Zuordnung der Gewohnheiten zu dem "Autopiloten" ("System 1"), zweitens in deren Absinken in einen Teil unseres Gedächtnisses, der dem Zugriff unseres Bewusstseins entzogen und nicht mehr abhängig von weiteren Belohnungen ist. Letzteres ist für Wood sogar das charakteristische Merkmal von Gewohnheiten:
"For scientists, insensitivity to rewards is the gold standard for identifying a habit." (S. 126)
Das sind Aussagen (und Vorhersagen), die die Lerntheorie nach meiner Kenntnis nie gemacht hat und die sogar im Widerspruch zu deren Vorhersagen stehen.
Sich die Reibung gezielt zunutze machen
Wer sich etwas Neues angewöhnen will, tut gut daran, die neue Gewohnheit an einen festen "Auslöser" (context) zu koppeln, der im eigenen Lebensrhythmus regelmäßig auftritt. Gleich ob es um Sport geht oder um die regelmäßige Einnahme von Medikamenten, die Chancen, dass daraus eine feste Gewohnheit wird, sind deutlich größer, wenn man es nicht zu unterschiedlichen Zeiten und Gelegenheiten macht, sondern zu einem festen Zeitpunkt beziehungsweise angekoppelt an ein regelmäßiges Ereignis: Gleich nach dem Aufstehen / nach dem Morgenkaffee, nach dem Abendessen ...
Andere Aufgaben kann man an andere Taktgeber koppeln: Sobald ich ins Büro komme ... / Sobald ich in der S-Bahn einen Platz gefunden habe ... Hat man diesen festen Auslöser ausgewählt, gilt es, das angestrebte Verhalten so lange durchzuhalten, bis der Autopilot übernimmt.
Umgekehrt kann man Gewohnheiten, die man loswerden will, bewusst aus dem Takt bringen, indem man ihre Auslöser vermeidet oder ihren gewohnten Ablauf durcheinander bringt. Damit zwingt man sich selbst zu einer bewussten Entscheidung: "With a change in context cues we have to think." (S. 131) Wood bezeichnet das als "habit discontinuity" (S. 162).
Beispielsweise kann man ganz bewusst bestimmte Dinge nicht mehr im Haus haben, sodass der Griff in die Schreibtischschublade ergebnislos endet, oder man kann alles, was einen bei der Arbeit ablenken könnte, wegräumen. Man kann zum Beispiel das Telefon in den Offline-Modus schalten, bevor man mit einer Konzentration erfordernden Arbeit beginnt, und man kann ablenkende Computerspiele deinstallieren. Oder man wählt bewusst einen anderen Weg, um an bestimmten verlockenden Geschäften nicht mehr vorbeizukommen.
Natürlich kann man all das prinzipiell wieder rückgängig machen, wenn einen der Entzug zu sehr quält. Aber die Hürde ist höher: Man kann nicht mehr "einfach mal schnell zwischendurch" ein Computerspiel machen, wenn man es deinstalliert hat, oder eine paar Süßigkeiten verzehren, wenn keine im Haus sind. Man müsste dazu eine bewusste Entscheidung treffen und eine Reihe mehr oder weniger aufwendigen Vorarbeiten machen.
Noch ein Punkt ist wichtig für den Aufbau der richtigen Gewohnheiten, nämlich, beim gleichen Ablauf zu bleiben. Der optimale Prozess enthält keine Schritte, an denen man innehalten, überlegen und eine Entscheidung treffen muss. Und man sollte auch nicht viel darüber nachdenken, wie man neue Routinen optimieren kann:
"Overthinking impedes habit formation. (…) Habits are more likely to form when we act repeatedly without planning and deliberating. Then we are able to relinquish control to the context, allowing our actions to be cued automatically." (S. 156f.)
Die Rahmenbedingungen richtig gestalten
"Harnessing friction offers a whole new way to think about changing behavior. The promise is that, by altering contexts that create friction in our lives, we can learn to automatically repeat rewarding actions." (S. 147)
So clever der Ansatz ist, die "Reibung" gezielt zu steuern, um manche Verhaltensweisen leichtgängiger und andere mühsamer zu machen, so neu, wie Wood offenbar glaubt, ist er nicht. Genau das ist der Leitgedanke von Nudge (2008): Richard Thaler und Cass Sunstein zielen exakt darauf, das erwünschte Verhalten so mühelos wie möglich zu machen, indem sie den "Kontext" entsprechend gestalten.
Doch schon lange vor den Verhaltensökonomen hat das traditionelle Handwerk, wie sie selbst am Beispiel des "mis en place" erläutert, den gleichen impliziten Leitgedanken implementiert: Schon im ersten Lehrjahr lernen Auszubildende, sich, bevor sie sich an die Arbeit machen, das richtige Werkzeug und die nötigen Materialien bereitzulegen bzw. einzupacken. Der große Vorteil dieses Vorgehens ist, dass die Arbeit nicht unterbrochen wird – und vor allem, dass sie nicht in Versuchung geraten, mit ungeeignetem Werkzeug herumzupfuschen, weil es ihnen zu mühsam ist, das richtige zu holen.
Auf diese Weise üben angehende Handwerkerinnen von Anfang an die richtigen Gewohnheiten ein. Der Neuigkeitswert von Woods Erkenntnissen liegt demnach weniger in der Entdeckung dieser Prinzipien als darin, sie generell auf die Ausgestaltung und Veränderung von Gewohnheiten zu übertragen und sie zum zentralen Prinzip von deren Managements zu machen.
Sie nennt das "situational self-control" (S. 150): Statt unser eigenes Verhalten mit Selbstdisziplin und Willenskraft ändern zu wollen, verändern wir dessen Rahmenbedingungen – den Kontext oder auch die "Nudges", und zwar so, dass sie das richtige Verhalten nahelegen oder so einfach wie möglich machen. Für Apologeten der Willenskraft mag das unbefriedigend sein; für all diejenigen, die "nur" ihre Gewohnheiten verändern wollen, ist es eine Befreiung aus dem frustrierenden Kampf mit der allgegenwärtigen Versuchung, den man früher oder später doch verliert.
Segen und Fluch
Dass die richtigen Gewohnheiten das Leben leichter machen, leuchtet ein – aber für Wood führen sie darüber hinaus zu einem besseren Leben, weil sie helfen, den Kopf frei zu bekommen von nutzlos kreisenden Überlegungen und Grübeleien. Sie sieht darin sogar einen Weg zur Befreiung des Geistes vom ständigen Geplapper der Gedanken, wie ihn die buddhistische Meditationspraxis anstrebt, und zu einem wertungsfreien Wahrnehmen der Welt:
"Habits are perhaps the most natural and effective way humans have to achieve this nonevaluative state of mind. A habitual mind is a benignly thoughtless mind. It is a mind that sorts tasks into their proper places. It delegates. It sits at the intersection and assigns routes. It is not obsessed with figuring out when you fall asleep, as you might have tried to do as a child; instead it just responds to the sleep cues in your contexts, and you drift off as you usually do." (S. 155)
Das scheint mir dann doch ein bisschen hoch gegriffen. Ob Gewohnheiten tatsächlich ein Weg zur Erleuchtung und zur Einswerdung mit dem Universum sind, wage ich doch zu bezweifeln. Aber für den Werktag reicht es auch schon, dass die richtigen Gewohnheiten ungeheuer praktisch sind, weil man dank ihrer in vielen Alltagssituationen mühe- bzw. "reibungs"los das Richtige tut.
Ein paar Seiten später stellt Wood fest, dass sich selbst gute Gewohnheiten über die Zeit in eingefahrene Gleise verwandeln können, und macht dafür das "double law of habit" verantwortlich, das der wenig bekannte französische Philosoph Félix Ravaisson bereits im 19. Jahrhundert entdeckt hat:
"Repetition strengthens our tendency to act, but it also weakens our sensation of that act." (S. 164)
Daher können gelegentliche Störungen des Autopiloten ganz hilfreich sein, um Gewohnheiten darauf zu überprüfen, ob sie so immer noch sinnvoll sind. Und um dann eine neue Entscheidung zu treffen:
"By understanding cues, we can keep valued habits in place even when disruption occurs in our larger lives. But sometimes we are looking to change. We can bring disruptions upon ourselves by altering the context of our lives." (S. 172)
Wenn unsere Routinen beispielsweise durch einen Umzug, eine Veränderung der Lebenssituation oder auch nur durch einen Urlaub unterbrochen werden, können wir mit dem Wissen um ihre Auslöser und deren Störungen entscheiden, ob sie so nützlich sind, dass wir sie trotz der Veränderungen des Kontexts fortführen wollen, oder ob es Zeit für eine Veränderung ist.
Resilienter Autopilot
Um Gewohnheiten aus dem Tritt zu bringen, genügt, wie wir gesehen haben, eine kleine Störung des gewohnten Ablaufs. Umgekehrt genügt eine Prise Stress, um unser bewusstes Entscheiden und Handeln aus dem Tritt zu bringen. Auf diese Weise ergänzen sich die beiden Systeme gegenseitig. Das macht ihre physiologische Entkoppelung zusätzlich plausibel.
"With a habit, you are never left without response, even when stress, distraction, or mental tiredness is derailing your conscious mind." (S. 178)
Was Gewohnheiten auszeichnet, ist ihre Resilienz. Sie funktionieren auch dann noch, wenn alles andere ins Wanken gerät – was leider auch für schlechte Angewohnheiten gilt. Dadurch dienen sie uns sozusagen als Notfallsystem: Bei all ihren Mängeln und Unzulänglichkeiten halten sie uns auch unter schwierigen Bedingungen handlungsfähig.
"Habit resilience illustrates an important point about the nature of habits in general: they aren't always the most effective option in a given situation, especially when that situation is complex and requires critical thought. Habits are a long-term solution, and we are banking on the prospect that their ultimate results, accumulated over time, will add up to something toward which we would not otherwise have been able to commit ourselves. Habits are what we do to get something done – because it wouldn't otherwise happen. In the present, however, and at any given moment, a habit can be a drag on your performance." (S. 188)
Drogenmissbrauch als schlechte Gewohnheit
Überraschende Einsichten eröffnet es, auch Drogenmissbrauch als schlechte Gewohnheit anzusehen. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um ein sehr mächtiges Exemplar dieser Gattung: Die Biochemie von Drogen hilft durch starke chemische Belohnungen, die Gewöhnung zu verfestigen. Und dennoch: Wenn es sich um eine Gewohnheit handelt, müsste es auch hier Auslösereize geben – und die sollten dann auch störbar sein.
Tatsächlich gibt es dafür gute Belege. Im Vietnamkrieg etwa war eine hohe Zahl der eingesetzten amerikanischen Soldaten schwer drogenabhängig. Zurück in den USA schafften erstaunlich viele, sich rasch und dauerhaft von ihrer Sucht zu lösen – weit mehr als es den üblichen Erfolgsquoten von Entzugsprogrammen entspricht.
Warum? Eine plausible Erklärung ist, dass sich nach ihrer Rückkehr ihr Umfeld gegenüber der Situation in Vietnam so grundlegend veränderte, dass die bisherigen Gewohnheiten erheblich gestört wurden: Ein anderes soziales Umfeld schuf eine andere Normalität, der Tagesablauf enthielt vermutlich viel weniger stressreichen Leerlauf, der dazu einlud, sich zuzudröhnen, und für viele war es wohl auch nicht mehr so leicht, an Drogen zu kommen.
Diese Unterbrechung der gewohnten Abläufe sorgte offenbar dafür, dass die Vietnam-Veteranen ihre Gewohnheiten insgesamt neu sortieren mussten, und schuf so den Raum für den Aufbau etwas Neuem. Eine ebenso spannende wie lohnende Frage ist, was man aus dieser unerwartet hohen Erfolgsquote für die "normale" Suchttherapie lernen kann.
Vorstellbar, dass für manche Bereiche der Kriminalität, zumindest soweit es nicht um Affekttaten geht, Ähnliches gelten könnte. Von Schwarzarbeit über Eigentumskriminalität bis zu verkehrsgefährdendem Fahren lässt sich vermutlich so Manches aus diesem Bereich ebenfalls unter schlechte Angewohnheiten fassen. Aber darauf geht Wood nicht ein (was verzeihlich ist).
Die warme Geborgenheit der vertrauten Gewohnheiten
Gewohnheiten hängen eng mit dem zusammen, was man gewohnt ist. Ein Paradebeispiel ist Ernährung: In jedem Land wird gegessen, was in diesem Land eben gegessen wird. Wenn Erwachsene aus dem einen Land aber in ein anderes Land kommen, gewöhnen sie sich aber nicht etwa an, das, was dort üblicherweise gegessen wird, sondern sie essen – oder vermissen –, was sie von Zuhause gewohnt sind. Deutsche vermissen fast überall auf der Welt "richtiges" Brot. Briten vermissen, so das Stereotyp, Orangenmarmelade sowie Fish'n'Chips, Franzosen "große Küche " und ihre Bistros.
Zwar experimentieren wir auch gerne mal mit etwas Exotischem – aber vorzugswesie im Bewusstsein, spätestens am anderen Tag wieder in die vertrauten heimischen Gewohnheiten zurückkehren zu dürfen. Ja, italienische Küche ist – nach 50 Jahren – bei uns "heimisch" geworden, aber genau genommen, betrifft das vor allem das Abendessen; italienisches Frühstück pflegen wir weniger. Und selbst das Abendessen ist bei genauerem Hinsehen trotz Pasta, Prosciutto und Pommodore deutlich "eingedeutscht", etwa in seiner Gangfolge und zeitlichen Ausdehnung.
Faszinierend ist, dass wir Gewohnheiten überhaupt vermissen können: den Morgenkaffee, den täglichen Spaziergang, das abendliche Bier, die Zigarette oder das Glas Wein nach dem Essen – erwartungsgemäß ohne Unterschied zwischen positiven und weniger positiven Angewohnheiten. Möglicherweise ist beim Suchtmittelentzug der fehlende eingespielte Ablauf und die entstehende Lücke im gewohnten Ablauf eine wichtigere Rückfallursache als das körperliche Verlangen.
Die Liebesaffäre mit den eigenen Gewohnheiten geht so weit, dass vertraute Gewohnheiten in Experimenten als "positive Verstärkung", sprich, als Belohnung eingesetzt werden können. Es fühlt sich einfach gut an, das tun zu dürfen, was man häufig tut – selbst wenn es nur Hüsteln oder Räuspern ist. Das hat viele Ursachen: Vertrautheit, Vorhersehbarkeit, Mühelosigkeit, Effizienz, Sicherheit …
Gerade in Situationen, die mit Anspannung, Nervosität oder Verunsicherung einhergehen – wie etwa vor dem großen Auftritt, bei dem es um alles geht –, können Rituale etwas ausgesprochen Entspannendes und Tröstliches haben, auch wenn sie außenstehenden Beobachtern wie blanker Aberglaube erscheinen. Aus dieser Warte betrachtet, sind "irrationale" Rituale erstaunlich rational: Sie stabilisieren unsere innere Verfassung, völlig unabhängig davon, woraus sie bestehen.
Auch wenn wir ab und zu gern etwas Neues probieren, generell bevorzugen wir das Vertraute. Um das zu illustrieren, berichtet Wood über ein hübsches Experiment. Wir sehen uns im Spiegel ja "spiegelverkehrt", auf Fotos hingegen seitenrichtig. Da unsere Gesichter nicht hundertprozentig symmetrisch sind, macht das einen subtilen, aber merklichen Unterschied.
Die allermeisten Menschen sehen sich aber häufiger im Spiegel als auf Fotos. Deshalb ist uns unser gespiegeltes Gesicht vertrauter als das seitenrichtige. Gibt man uns nun zwei Fotos von uns selbst, das eine richtig herum und das andere spiegelverkehrt, mit der Bitte zu wählen, auf welchem wir uns besser getroffen fühlen, bevorzugen die meisten Menschen das gespiegelte, also vertrautere Bild. Bei anderen Menschen bevorzugen sie dagegen das ungespiegelte Foto.
"Just acting habitually has broader effects of reducing uncertainty and promoting feelings of coherence and comprehension of our experience. In a survey of daily routines, people who reported that they do 'pretty much the same things every day' found life more meaningful. This was also true moment by moment. When contacted during the day, people reported more meaning in life when performing actions that were part of a routine. (…) Life meaning can come from maintaining a tidy office, keeping a daily schedule, having weekly dinners with friends, or walking the same path to work or school every day. This is the coherence of an ordered life. And it's a coherence attainable by all." (S. 215)
Damit nimmt das Buch nun endgültig eine erstaunliche Wendung. Dass man seine Routinen (in der Regel) als zweckmäßig empfindet, liegt ja auf der Hand, aber dass sie Lebenssinn vermitteln, ist doch eine Überraschung: In der Tat ein Weg zum Sinn, auf den Viktor Frankl nicht gekommen wäre. Doch gegen empirische Daten ist schlecht argumentieren. Zwar wünscht man sich – oder wünsche ich mir – dazu weitere Untersuchungen und Analysen, aber Stoff zum Nachdenken liefert das allemal.
Überdies erklärt das wohl auch, weshalb sich dumme Angewohnheiten oft so gut und stimmig anfühlen:
"Through exposure, we can become reconciled to behaviors that are not ideal. We keep procrastinating, eating too much, exercising too little, because that's what we have always done. We persist with little reason except for the pull of previous repetition. We end up liking even our maladaptive habits. What we know from research on exposure is that this liking will subside only if we form new habits that themselves become, through repetition, the familiar and comfortable." (S. 216)
Massenphänomene und Anpassung an die anderen
Kein Wunder, dass die Psychologin das letzte Kapitel geradezu tröstend mit "You Are Not Alone" überschreibt. Diese Feststellung löst zwar das Problem nicht, aber es vergrößert die Zahl derer, die es teilen – was bei genauerem Hinsehen ein zweifelhafter Trost ist. Letztlich bedeutet es nur, dass man irgendwann später in der Klinik oder Reha nicht alleine sein wird.
In Wirklichkeit geht es in diesem letzten Kapitel aber nicht um schwachen Trost, sondern um soziale Bezüge, Zusammenhänge und Regeln. Was andere machen, ist ja Teil unseres sozialen Kontexts und kann damit auch ein Auslöser unseres eigenen Verhaltens sein – denken wir an die Drogensucht amerikanischer Vietnamsoldaten: Wenn alle rauchen oder spitzen, ist es naheliegend, das auch zu tun – und wenn es zuhause niemand macht, ist es naheliegend, es auch zu lassen.
In ähnlicher Weise dürfte eine fußgänger- und fahrradfreundliche Stadt im Durchschnitt eine gesündere Bevölkerung haben als eine "autogerechte". Für die Nutzung von Treppen macht es einen Unterschied, ob die Aufzüge das erste sind, was einem in einem Gebäude ins Auge springt oder ob, wie in manchen alten Hotels, das Foyer in eine große Stiege übergeht und die Lifte etwas versteckter liegen. Die Portionsgröße von Mahlzeiten in Kantinen und Restaurants bestimmt mit, wie viel gegessen wird. (Vor allem bei Leuten wie mir, die früh gelernt, sprich, die Gewohnheit entwickelt haben, ihren Teller aufzuessen.)
Nicht zuletzt beeinflusst uns auch der Ort, an dem wir wohnen, sowie die dort herrschenden Sitten und Gebräuche. Wenn wir umziehen, passen wir unsere Gewohnheiten ein Stück weit den Gepflogenheiten der neuen Umgebung an – sodass die geschickte Wahl des Wohnorts auch eine, wenn auch etwas umständliche, Möglichkeit ist, die eigenen Gewohnheiten zu ändern:
"Your best guess is a combination of what you do now and the lifestyle of most people already living there." (S. 224)
Nudging II: Die vertrackten Default Values
Zu den verbreitetsten Gewohnheiten gehört es, gleich ob bei Computern und anderen elektronischen Geräten oder bei der Alterssicherung in der Regel den Default Value, also die Standardeinstellung zu übernehmen: Die meisten nutzen den Internet-Browser, der mit ihrem Betriebssystem mitgeliefert wird, die Voreinstellungen ihrer Programme etc.
Wie Richard Thaler und Cass Sunstein in dem bereits zitierten Buch Nudge gezeigt haben, kann man alleine durch die sinnvolle Wahl der gesetzten Standards die Gewohnheiten seiner Mitarbeiter, Kunden und Bürger stark beeinflussen, und zwar ohne in ihre Freiheitsrechte einzugreifen.
Darin liegen natürlich Gefahren – aber halt auch Chancen. Da Default Values aber in jedem Fall wirken und da solche Voreinstellungen häufig unvermeidlich sind, ist es keine Alternative, keine zu machen. Gleich ob Organspende oder Einzahlungen in die Alterssicherung, man kann nur entweder die Vorgabe "opt in" oder "opt out" machen. Daher gilt es, die Voreinstellungen sinnvoll zu setzen und unvorteilhafte konsequent zu korrigieren.
Insgesamt ein Buch, bei dem mir eine nachdrückliche Empfehlung wirklich leicht fällt, zumal es auch sehr anschaulich und unterhaltsam geschrieben ist, ohne dass dies auf Kosten der wissenschaftlichen Fundierung geht. Und wer es mit Englisch nicht so hat, für den ist demnächst auch eine chinesische Version verfügbar. Oder eine spanische, eine französische, eine holländische und eine polnische. Nur eine deutsche bis jetzt leider nicht.
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