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Die Entstehung der Verhaltensökonomie live miterleben

Thaler, Richard H. (2015):

Misbehaving

The Making of Behavioral Economics

Norton (New York, London); 415 Seiten; 23 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 10

Rezensent: Winfried Berner, 02.05.2021

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Brillant und ausgesprochen unterhaltsam. Ein bzw. der Pionier der Behavioral Economics beschreibt die Entwicklung seines Denkens in Reibung mit der klassischen Öko-nomie und die Entstehung einer neuen Disziplin lebendig, klug und anekdotenreich.

Richard Thaler zählt – neben Daniel Kahneman und Robert Shiller – zu den wenigen Nobelpreisträgern, deren Namen und Arbeiten ich (auszugsweise) schon kannte, bevor das Licht des ganz großen Scheinwerfers auf sie fiel: Von seinen Büchern The Winner's Curse und Nudge war und bin ich sehr angetan. Er zählt zu den Begründern der Behavioral Economics, einer ökonomischen Schule, der den lebensfremden Modellen der klassischen Ökonomie einen Denkansatz gegenüberstellt, der sich am tatsächlichen Verhalten realer Menschen orientiert statt an einer vermeintlich rationalen Nutzenmaximierung.

In diesem hinreißenden Buch erzählt Thaler die Entstehung und Entwicklung der Behavioral Economics entlang seiner eigenen Berufsbiografie. Solch ein Ansatz hätte auch in die Hose gehen können, wenn der Autor so eitel wäre, sich als das Zentrum des Universums bzw. der Ökonomie darzustellen. Aber Thaler ist ein exzellenter, uneitler, selbstironischer und amüsanter Erzähler, dem es blendend gelingt, die zum Teil recht anspruchsvollen Gedankengänge mit seinem eigenen Erkenntnisprozess zu verknüpfen und sie eingängig, quasi im Plauderton, zu vermitteln.

Das funktioniert sogar als Hörbuch: Der vorgelesene Text hat mich auf mancher langen Autofahrt glänzend unterhalten, bis die Pandemie meine geschäftlich gefahrenen Kilometer von einem Tag auf den anderen nahezu auf Null setzte. Weil ich aber wissen wollte, wie die Geschichte weitergeht, bin ich auf das Hardcover umgestiegen. Doch Thalers Erzählweise ist so interessant, dass ich mir gut vorstellen kann, das Hörbuch noch einmal neu zu hören, sollte sich die Gelegenheit dazu ergeben.

Ungereimtheiten der klassischen Ökonomie

Ein zentraler Anknüpfungspunkt von Thalers Zweifeln an der klassischen Ökonomie ist ein Phänomen, das es nach der klassischen ökonomischen Lehre gar nicht geben kann und mit dem sich ausgerechnet – witzige Koinzidenz – das letzte von mir besprochene Buch Good Habits, Bad Habits beschäftigt: die (allzu oft fehlende) menschliche Willenskraft.

Wenn sich Menschen im ökonomischen Sinne rational verhielten, wäre es per Definitionem ausgeschlossen, dass wir uns anders verhalten als es unseren Präferenzen entspricht, dass wir also zum Beispiel mehr Süßigkeiten essen als wir wollen oder kurzfristig mehr Geld ausgeben als es unseren Vorsätzen entspricht. Als rationale Wesen würden wir konsequent unseren Präferenzen folgen – und wären danach mit Gott und der Welt im Reinen, statt uns im Nachhinein darüber zu ärgern, dass wir (wieder einmal) zu viel genascht, getrunken und/oder Geld ausgegeben haben.

Charakteristisch für Thalers Erzählstil, aber auch für seine scharfe Beobachtungsgabe und seine ausgeprägte Fähigkeit, sich zu wundern, ist seine Anekdote von den Cashewkernen: Er hatte Gäste, doch bevor man sich zum Abendessen setzte, saß man noch auf einen Aperitif beisammen, und auf dem Tisch stand eine Schale mit Nüssen. Die Gäste sprachen ihnen so heftig zu, dass Thaler sich Sorgen um ihren Appetit fürs Abendessen machte und die Schale deshalb kurzerhand entfernte – und dafür spontanes Lob und großen Dank von seinen Gästen erntete.

Ähnliches hat wohl jede/r schon erlebt, sowohl in der Rolle des Gastes als auch in der der Gastgeberin. Doch Thaler fiel etwas auf, was anderen Gastgebern, darunter auch unzähligen Ökonominnen, nicht aufgefallen war: Wie konnte es sein, dass die Gäste seiner Intervention applaudierten, obwohl er damit doch ihre Wahlfreiheit einschränkte und sie daran hinderte, ihre Präferenzen auszuleben?

So plausibel und nachvollziehbar die Reaktion der Gäste ist, sie widerspricht jeder ökonomischen Lehre. (Und sie widerspricht, nebenbei gesprochen, auch der psychologischen Reaktanztheorie.) Würden sich die Gäste im ökonomischen Sinne rational verhalten, müssten sie seinen Eingriff in ihre Handlungsfreiheit eigentlich scharf missbilligen und Thaler für einen miserablen Gastgeber halten, der seine Gäste durch willkürliche Interventionen frustriert, statt ihnen einen angenehmen Abend zu bereiten.

Der vernünftige Planer und der hedonistische "Tuer"

Auch für Psychologen ist die Situation nicht frei von Paradoxien, denn dass wir anders handeln als wir "eigentlich" wollen, ist zumindest eine Irritation für das Konzept einer einheitlichen Persönlichkeit. Letztlich müsste es dann (mindestens) zwei Persönlichkeiten in uns geben, nämlich einerseits einen kurzfristigen Hedonisten, andererseits einen langfristig denkenden Vernunftmenschen – was verdächtig an Freuds "Es" und "Über-Ich" erinnert. Das hedonistische Es will noch eine Nuss ("nur noch eine …" – oder zwei …), das vernünftige Über-Ich hingegen will sich den Appetit nicht verderben, und das "Ich" sitzt kauend und mit schlechtem Gewissen zwischen den Stühlen.

Thaler nennt diese beiden rivalisierenden Persönlichkeitsinstanzen "The Planner and the Doer" (S. 99) und zitiert den Sozialwissenschaftler Donald McIntosh mit einem Gedanken, der sein Denken, wie er schreibt, stark und dauerhaft (also, wie man heute sagt, "nachhaltig") beeinflusst hat:

"The idea of self-control is paradoxical unless it is assumed that the psyche contains more than one energy system, and that these energy systems have some degree of independence from each other." (S. 103)

Trotzdem denke ich, dass man deswegen das Konzept einer ganzheitlichen Persönlichkeit nicht aufgeben muss. Widerstreitende Wünsche und Interessen sind in der Tat Teil des Lebens, und ganz besonders gilt dies für den Konflikt zwischen kurz- und langfristigen Wünschen. Dass wir uns allzu oft für die kurzfristigen Wünsche entscheiden, ist zuteffend – aber es ist dennoch die Wahl, die wir getroffen haben; daran ändert auch das schlechte Gewissen nichts.

Insofern passt für mich weiterhin der individualpsychologische Grundsatz: Was wir wirklich wollten, sieht man an dem, was wir tun, alles andere sind Nebengeräusche. Schön zugespitzt hat dies Rudolf Dreikurs: "Ein schlechtes Gewissen ist Ausdruck von guten Absichten, die man nicht hat(te)." Zumindest die nutzlose Selbstquälerei des schlechten Gewissens kann man sich also sparen, indem man zu seinen Entscheidungen steht, statt zu versuchen, sie vor sich und anderen zu entschuldigen.

Da dieser Widerstreit konkurrierender Wünsche und Bedürfnisse aber durchaus strapaziös ist, erst recht angesichts der absehbaren Niederlage dessen, was wir "eigentlich" tun oder unterlassen wollten, ist auch psychologisch verständlich, dass wir nicht mit Reaktanz reagieren, wenn uns jemand von einer gefährlichen Verlockung erlöst, sondern mit Erleichterung und Dankbarkeit.

Menschen versus "Econs"

An solchen und vielen anderen Beispielen arbeitet Thaler anschaulich und lebensnah die Unterschiede zwischen "Humans" und "Econs" heraus – einer Spezies, die sich so verhält, wie es Ökonomen irrationalerweise für rational halten. Sein übergeordnetes Anliegen und das seiner Forscherkollegen ist, ein Denkmodell und letztlich eine "evidenzbasierte Ökonomie" zu entwickeln, die das tatsächliche Verhalten realer Menschen besser erklärt und vorhersagt als die gängigen ökonomischen Theorien.

Wie kurzsichtig und damit letztlich irrational der Rationalitätsbegriff der klassischen Ökonomie ist, zeigt das "Ultimatum Game". Dabei enthält von zwei Mitspielern der eine einen Geldbetrag (zum Beispiel 10 Dollar), von dem er dem anderen etwas abgeben muss. Der andere entscheidet, ob er den angebotenen Betrag annimmt. Wenn ja, erhalten beide ihren jeweiligen Anteil, wenn nein, erhält keiner von beiden etwas, und das Geld verfällt.

Im ökonomischen Sinne rational wäre es, wenn der erste Mitspieler dem zweiten den geringstmöglichen Teilbetrag – zum Beispiel 50 Cent – anböte, und wenn der zweite dies annähme, denn 50 Cent sind besser als nichts. In der Realität verhalten sich Menschen aber völlig anders, vor allem wenn sie nicht ökonomisch vorgebildet sind: Der zweite lehnt Beträge, die ihm zu gering erscheinen, konsequent ab – und die allermeisten ersten bieten deutlich höhere Beträge an, sei es aus einem Gefühl von Fairness oder weil sie die Ablehnung eines zu niedrig Angebots fürchten.

Für irrational kann man beide Verhaltensweisen nur halten, wenn man sie auf die artifizielle Situation eines einmaligen Spiels bezieht. Das wirkliche Leben besteht aber zum Großteil aus wiederholten Interaktionen und Transaktionen. Und unter dieser Bedingung wird das vermeintlich irrationale Verhalten plötzlich rational: Wenn Menschen voneinander wissen, dass sie unfaire Angebote zurückweisen, ergibt sich daraus für alle, die langfristige Beziehungen anstreben, ein starker Anreiz, einigermaßen faire Angebote zu machen.

Auf mittlere und lange Sicht wäre es fatal, sich wegen des kurzfristigen Nutzens ("mehr als gar nichts") auf "unfaire", sprich, grob nachteilige Angebote einzulassen. Denn damit würde man sich den Ruf als jemand zu erwerben, "mit dem man es ja machen kann". Es entpuppt sich als strategisch klug, solche Angebote vehement zurückzuweisen.

Das macht sogar manche "Überreaktionen" auf vermeintliche Kleinigkeiten zu äußerst rationalen Spielzügen: Sie mahnen die Umgebung, einen gewissen Sicherheitsabstand zu den eigenen roten Linien zu halten. Das erspart einem relativ "kostengünstig" ständige kleine Grenzüberschreitung: Wer im Ruf steht, leicht reizbar oder jähzornig zu sein, mit dem geht die Umgebung vorsichtiger um.

Eine Ökonomie für normale Menschen

Dass sich die Mainstream-Ökonomen von solchen Attacken auf ihre Lehren angegriffen fühlen, ist verständlich – und die Argumente und Strategien, mit denen sie sich zur Wehr setzten, sowie das Bemühen um ihre Widerlegung tragen zum Unterhaltungswert des Buchs bei. Noch mehr tun es, jedenfalls aus dem sicheren Abstand des Nichtbetroffenen, die Debatten und Scharmützel, die sich Thaler und seine Mitstreiter mit den Hardcore-Ökonomen auf Kongressen und Tagungen lieferten.

Immer wieder tüfteln Ökonomen zum Beispiel normative Modelle aus, für die man nicht nur ein "Econ" sein muss, um sie in die Tat umzusetzen, sondern zusätzlich eine Habilitation auf dem jeweiligen Fachgebiet mitbringen sollte. Für normale Menschen sind diese Logiken, so bestechend sie sein mögen, kaum verständlich und daher auch nicht umsetzbar.

So berichtet Thaler von einer Debatte mit dem, wie er schreibt, brillanten Harvard-Ökonomen Robert Barro. Der hatte ein Modell dafür entwickelt, wie sich ein unerwarteter Geldbetrag auf das Konsumverhalten niederschlagen sollte, sofern die Akteure ihren Kindern und Enkeln ein konstantes Erbe hinterlassen wollen. Wenn der Gewinn aus einer Glückssträhne im Kasino resultierte, so Barro, wäre es logisch, das Geld auszugeben, wenn es hingegen aus einer Steuersenkung stamme, müsse es der Erbmasse zufließen, weil die Steuersenkungen irgendwann zu höheren Steuern für die Kinder führten.

Dieses Gedankenspiel kann man weiterführen: Falls der durch die Steuersenkung angestoßene Kaufboom zu Wirtschaftswachstum führe, könne man seinen Steuerbonus doch ausgeben, weil das Wachstum zu höheren Steuereinnahmen führe, die Steuererhöhungen in späteren Jahren unnötig machten – und so weiter. Relativ schnell ist dann der Punkt erreicht, wo normale Menschen völlig überfordert sind, die ökonomischen Konsequenzen des zusätzlichen Gelds für ihre Kinder und Enkel zu durchdringen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen für ihr Ausgabeverhalten abzuleiten. Thaler zu Barro:

 

"I said that the difference between our models was that he assumed that the agents in his model were as smart as he was, and I assumed they were as dumb as I am. Barro agreed." (S. 97)

Höflichkeitshalber verzichtete Thaler offenbar darauf, den Sack zuzumachen mit der Frage, für welches Modell Barro dann mehr Anwendungsfälle sehe.

Idealer Einstieg in die Behavioral Economics

Bei einem Buch, das entscheidend von seiner Erzählkunst und seinen Anekdoten lebt, hätte eine ausführliche Zusammenfassung keinen rechten Sinn. Stattdessen hoffe und vertraue ich darauf, dass ich mit dem, was ich bis jetzt darüber geschrieben habe, allen, die bis hierhin gekommen sind, Appetit auf das Buch gemacht habe.

Neben der spannenden wissenschaftshistorischen Dimension ist "Misbehaving" ein leicht verdaulicher Einstieg in die Behavioral Economics und Behavioral Finance, und zwar einer, der nicht nur Erkenntnisse und Befunde vorstellt, sondern anschaulich macht, aus welchen Irritationen und Streitfragen ihre Forschungsansätze und Einsichten entstanden sind.

Unterhaltsamer und zugleich umfassender und kompetenter kann man sich diesem Gebiet kaum nähern – noch dazu unter der kundigen Führung eines seiner Gründerväter, der für seine Pionierarbeit 2017 mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet wurde.

Auch eine deutsche Ausgabe ist verfügbar, unter dem originellen deutschen Titel "Misbehaving". Über die Qualität der Übersetzung kann ich nichts sagen, doch das Unwort "Ökonomik" im Untertitel "Was uns die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen verrät" stimmt mich skeptisch. Was ich aber mit Gewisseheit sagen kann, ist: Wer in Englisch einigermaßen fit ist, sollte sich das Vergnügen nicht entgehen lassen, das Buch im unübersetzten Original zu lesen.

Schlagworte:
Behavioral Economics, Verhaltensökonomie, Behavioral Finance, Mikroökonomie, Wissenschaftsgeschichte

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