Wer Kryptowährungen und speziell Bitcoin besser verstehen möchte, ist hier richtig: Antonopoulos durchdringt nicht nur die technischen Grundlagen, er reflektiert, was viel wichtiger ist, auch ihre ökonomische und gesellschaftliche Bedeutung.
"The Internet of Money" – was hat das denn schon wieder mit Change Management zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts – und beim genaueren Hinsehen dann doch einiges. Denn Geld spielt eine zentrale Rolle in unserem Leben, und wenn sich das Geldsystem verändert, hat das erhebliche und schwer vorhersehbare Folgen sowohl für Wirtschaft und Gesellschaft als auch für uns als Privatleute. Davor die Augen zu verschließen, ist eine gewagte Strategie. Nur wenn man versteht, was da eigentlich geschieht und was sich daraus entwickeln könnte, hat man die Chance, daraus die richtigen Lehren zu ziehen.
Ich gebe bereitwillig zu, selbst ein ziemlicher Novize auf diesem Feld zu sein. Bis vor kurzem habe ich mich kaum mit Kryptowährungen beschäftigt: zu weit außerhalb meines Fach- und Interessengebiets, zu technisch-freakig – und wegen der Assoziation zu Darknet, Drogenhandel und Kriminalität auch etwas suspekt. Mit anderen Worten, ich habe genauso reagiert, wie es Menschen oft tun, wenn sie mit grundlegenden Neuerungen – potenziellen Disruptionen – konfrontiert sind: Ich habe diese irritierenden Nachrichten entschlossen ignoriert.
Geld ist ein kollektives Glaubenssystem
Doch in letzter Zeit ist mir immer klarer geworden, dass ich mich mit dem Thema Kryptonwährungen beschäftigen muss bzw. will. Und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen: Erstens weil sie eine ökologische Katastrophe zu sein scheinen, weil sie mit einem gigantischen Energieverbrauch einhergehen. Zweitens weil sie möglicherweise unser Geldsystem revolutionieren werden und damit sowohl eine Gefahr als auch eine riesige Zukunftschance darstellen, aber in jedem Fall etwas, das man im Auge behalten muss. Drittens weil sie in einem durch gigantische Staatsschulden labiler gewordenen Finanzsystem auch für die eigene Geldanlage bzw. Alterssicherung eine erwägenswerte Diversifizierung sein könnten.
Für die allermeisten Menschen geht es, wenn sie über Geld nachdenken, um sehr pragmatische Fragen. Etwa darum, wo sie das Geld her bekommen, um sich ihre Konsumswünsche erfüllen zu können. Oder ob eine ins Auge gefasste Anschaffung ihr Geld wirklich wert ist. Oder auch darum, wie viel Geld sie fürs Alter zurücklegen wollen oder müssen. Aber die wenigsten denken darüber nach, was Geld überhaupt ist, wie es funktioniert, wie es unsere Lebensverhältnisse bestimmt – und wie belastbar letztlich das Fundament ist, auf dem wir unsere Zukunftsplanung aufbauen.
Deshalb ist auch den wenigsten klar, dass unser Geld – gleich ob Euro, Dollar oder türkische Lira – nichts als ein kollektives Glaubenssystem ist. Es funktioniert, weil – und solange – wir alle Vertrauen in seinen Wert und seine Kaufkraft haben. Es eignet sich als Zahlungsmittel, weil – und solange – andere bereit sind, im Tausch gegen diese bunten Zettel Waren herauszurücken oder Dienstleistungen zu erbringen. Und es eignet sich zur Wertaufbewahrung, weil – und solange – wir daran glauben, dass es auch in 5,10 oder 20 Jahren noch die annähernd gleiche Kaufkraft haben wird wie heute.
Hier liegt auch schon der Hase im Pfeffer: Wenn wir Euro, Dollar und Lira im Geldbeutel hätten, würden wir wahrscheinlich schnell lernen, die Lira als erstes auszugeben, weil wir am wenigsten von ihrer langfristigen Wertstabilität überzeugt wären: Wenn sie möglicherweise schon in ein paar Tagen deutlich weniger ist als heute, dann geben wir sie besser gleich aus. Weil es andere genauso machen, ergibt sich eine Gesetzmäßigkeit: Je geringer das Vertrauen in eine Währung, desto höher ihre Umlaufgeschwindigkeit.
Doch auch bei Dollar und Euro müssten wir eigentlich ins Grübeln kommen, denn auch bei diesen beiden ist nicht so sicher, was sie in 10 oder 20 Jahren noch wert sein werden. Also würden wir, wenn wir gescheit sind, nicht alles auf eine Karte setzen, sondern für unsere Rücklagen eher auf einen Mix setzen. Eine zusätzliche Währung, die völlig anders funktioniert, könnte da durchaus bei der Risikostreuung helfen – selbst wenn wir ihr ebenfalls nicht hundertprozentig vertrauen.
Keine systematische Einführung, aber trotzdem als Einführung geeignet
Dieses Buch ist keine systematische Einführung in Kryptowährungen. Es ist eine Sammlung von Vorträgen von Andreas M. Antonopoulos, einem der Vordenker der Szene, genauer deren zweites (von bislang drei) Bändchen mit jeweils gut 100 Seiten. Trotzdem kann man es als Einführung nutzen, weil der Autor, ein sehr kluger und zugleich sehr kreativer Denker, die Besonderheiten von "Crypto" und insbesondere Bitcoin so tief ausleuchtet, dass man deren Wesen besser versteht als aus dem ganzen vielstimmigen Geschwätz, das derzeit alle Kanäle verstopft.
Hier die Themen der in diesem Bändchen versammelten Vorträge:
- Introduction to Bitcoin
- Blockchain vs. Bullshit
- Fake News, Fake Money
- Immutability and Proof-of-Work
- Hard Promises, Soft Promises
- The Currency Wars
- Bubble Boy and the Sewer Rat
- A New Species of Money
- What Is Streaming Money?
- The Lion and the Shark [Bitcoin vs. Ether]
- Rocket Science
- Frequently Asked Questions
Die meisten Vorträge sind auch bei YouTube abrufbar, wenn auch in sehr unterschiedlicher Bild- und Tonqualität. Da Antonopoulos keine Folien verwendet, sondern ganz unzeitgeistig, aber in seinem Fall zurecht, auf die Kraft des Wortes, ist vor allem die Tonspur wichtig. Sie war für mich eine nützliche Ergänzung bzw. Wiederholung des geschriebenen Texts. (Die direkten Links sind jeweils angegeben und aus dem E-Book wohl direkt aufrufbar. Wer, wie ich, lieber einen gedruckten Text in Händen hält, in dem man unterstreichen und zurückblättern kann, kann die kurzen YouTube-Direktlinks von Hand eingeben.)
Ich will hier nicht versuchen, das ganze Buch zusammenzufassen, zumal Antonopoulos' Vorträge recht dicht und inhaltsreich sind, sondern einige Gedanken wiedergeben, die maßgeblich zu meinem besseren Verständnis von "Crypto" beigetragen haben.
Vom institutions- zum netzwerkbasierten Geld
Für ihn stellen die Kryptowährungen den Schritt vom institutions- zum netzwerkbasierten Geld dar. Im Gegensatz zu Gold und Silber stellen die bunten Zettel, die man als Geld und damit als wertvoll zu betrachten uns beigebracht hat, ja keinen Wert an sich dar. Sie erhalten ihn nur dadurch, dass erstens eine Institution – typischerweise ein Staat bzw. seine Notenbank – ihn garantiert und dass zweitens seine Inhaber Vertrauen in diese Garantie setzen. (Wobei interessanterweise selbst Personen, die dem Staat ansonsten massiv misstrauen und/oder die Legitimität des Staates und seiner Gesetze vehement bestreiten, ein ausgeprägtes Interesse an diesen Zetteln an den Tag legen.)
Dass sie allein auf Vertrauen basieren, gilt erst recht für die Datenbankzeilen, die sich auf unseren Kontoauszügen widerspiegeln und vorgeblich unsere Guthaben oder Spareinlagen abbilden. Solche "Kontoauszüge" könnten wir ja mit ein bisschen Geschick auch selber herstellen. Aber das würde nicht viel nützen: Sie sind nur so viel wert wie das Vertrauen, das andere in diese Bescheinigungen setzen. Was den Nutzen selbstgebastelter Kontoauszüge stark einschränkt.
Doch diese Institutionen, die da als Garanten fungieren, sind nicht über jeden Zweifel erhaben. Viele Staaten und Banken haben sich in der Vergangenheit als ausgesprochen schlechte Treuhänder erwiesen; der Wert des hinterlegten Geldes sank, oder es ging bei Staats- oder Bankpleiten ganz verloren. Zudem hielten die Banken für ihre Leistung als bislang unvermeidliche Intermediäre die Hand auf. Und ein hoher Teil der Weltbevölkerung hat bis heute gar keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Finanzdienstleistungen und ist damit de facto ausgeschlossen.
Mit den Kryptowährungen gibt es nun erstmals eine Alternative zu diesem institutionenbasierten Geldsystem:
"When you take digital currency mainstream and give it to the 4 billion people who have been isolated from international finance and commerce – and you give them the opportunity to control their money against despotic governments and corrupt banks that are stealing from them – you give them the opportunity to control their future. You give them the opportunity to transact with everyone in the world, to own title to their own property in a fully transferable digital token that is recognized everywhere. You give them control over finance that cannot be seized, frozen, or censored. They will buy food, healthcare, sanitation, education, shelter – because that's what people do." (S. 7)
Natürlich kann man mit gutem Grund einwenden, dass gegen Landraub und Vertreibung auch kein "Digital Token" hilft, und dass von der Möglichkeit, mit jedem auf der Welt Geschäfte zu machen, vermutlich andere Leute mehr profitieren als die Ärmsten dieser Welt. Dennoch ist es für sie vermutlich unendlich viel wert, ihr bisschen Geld erstens sicher und zweitens inflationsgeschützt verwahren zu können. Auch wenn Kryptowährungen (noch?) sehr volatil sind, kennen sie auch Schwankungen nach oben – im Gegensatz zu vielen Landeswährungen.
Bitcoin revolutioniert Vertrauen
Die zentrale Frage ist jedoch, weshalb man einem netzwerkbasierten Geld vertrauen sollte – und erst recht, aus welchen Gründen man ihm mehr vertrauen könnte als einem von Institutionen garantierten und verwalteten Geld. Schließlich besteht dieses Netzwerk doch aus abertausenden von Leuten, die man nicht kennt, die auf der ganzen Welt verteilt sind und gegen die man kaum eine Chance hätte, seine legitimen Interessen nötigenfalls durchzusetzen. Kommt man da nicht vom Regen in die Traufe?
Antonopoulos' etwas überraschende Antwort lautet:
"The essence of bitcoin is the ability to operate in a decentalized way without having to trust anyone." (S. 12)
Was Bitcoin nach seinen Worten auszeichnet, ist sein Sicherheitsmodell:
"It is the first market-based security model, in which a series of incentives and punishments ensures what the ultimate result is: you can trust the platform itself, as a neutral arbiter that is not controlled by anyone, without third parties, without intermediaries.
Bitcoin revolutionizes trust." (a.a.O., Hervorhebung im Original)
Das entscheidende Element ist in seinen Augen nicht die Blockchain, sondern die offene Blockchain, die für jedermann und jederfrau zugänglich und überprüfbar ist. Ihre Fälschungssicherheit wird, statt durch einen Treuhänder, durch einen definierten und feststehenden Prozess garantiert. er ist gekennzeichnet durch fünf unabdingbare Merkmale: "Open – Borderless – Transnational – Neutral – Censorship resistance." (S. 13)
Damit hebt sich die Bitcoin-Blockchain ab von vielen Blockchain-Trittbrettfahrern, die Antonopoulos allesamt in die Kategorie Bullshit verweist. Heute redeten viele von Blockchain, weil es in ist und die großzügige Finanzierung durch Geldgeber verspricht, die das Konzept nicht verstanden haben:
"If you can replace the word 'blockchain' with 'database' (…), it's business as usual.
If it's not decentralized, borderless, neutral, censorship-resistant, or open, it's not innovating.
If it re-established trust in intermediaries, it's just a database, and that is not disruptive." (S. 13)
"What's really exciting is the possibility of fundamentally changing the way we allocate trust on this planet – opening up the ability to collaborate, transact, and engage on a global level with everyone." (S. 14)
Fälschungssicherheit
Der entscheidende Faktor ist dabei das vielbeschworene "Distributed Ledger", also ein in beliebig vielen identischen Kopien verbreitetes elektronisches "Hauptbuch", in dem alle bestätigten Transaktionen ein einer Weise aufgezeichnet sind, dass sie nicht bzw. nur mit Zustimmung einer Mehrheit geändert werden können. Statt durch eine zentrale Clearingstelle werden Transaktionen durch die Gemeinschaft der Marktteilnehmer öffentlich bestätigt.
Antonopoulos legt Wert auf die Feststellung, dass nicht die Blockchain selbst die Fälschungssicherheit von Bitcoin-Transaktionen garantiert. Dass jeder Block auf sämtlichen vorausgegangenen aufbaut, garantiert sie nur, dass Manipulationen sofort auffallen, nicht aber, dass sie unmöglich sind. Auch das ist schon ein starker Schutz, denn der Sinn und Zweck von Manipulationen ist ja in der Regel, unbemerkt und unentdeckt Veränderungen vorzunehmen. Dennoch:
"The characteristic that gives bitcoin its tamper-proof capability is not 'the blockchain'; it's proof-of-work." (S. 29, Hervorhebung im Original)
In einem spannenden Exkurs legt er dar, dass "Proof-of-Work" keine Erfindung von Satoshi Nakamoto ist, dem legendären Bitcoin-Gründer. Er deutet die ägyptischen Pyramiden wie die Kathedrale von Nôtre Dame als "Proof-of-Work" (und Stonehenge und Göbekli Tepe darf man wohl auch dazurechnen): Neben all ihrer religiösen oder kultischen Bedeutung dienten sie dem Nachweis der Leistungsfähigkeit einer Zivilisation. Sie sind damit Instrumente, um die Nachbarn sowohl zu beeindrucken als auch zu warnen: "Seht her, wozu wir imstande sind! Also stellt euch gut mit uns und legt euch besser nicht mit uns an!" (Was wiederum an das Handicap-Prinzip in der Evolutionsbiologie erinnert.)
"Bitcoin is the first planetary-scale, digital monument of proof-of-work." (S. 30)
Konkret: Es ist ein gigantischer Rechen- und damit Energieaufwand, einen einzigen Block zu bestätigen. Diesen Aufwand kann ein einziger böswilliger Mitspieler, auch wenn er noch so reich und rechenstark sein sollte, unmöglich leisten, weil er dafür mehr als 50 Prozent der Rechenleistung der Community zu Verfügung haben müsste. Dabei ist sein Risiko hoch, denn wer nicht korrekt validiert, verliert seinen gesamten Einsatz. (Nur wer korrekt validiert, wird dafür mit neuen Bitcoin belohnt.) Erst recht ist es damit unmöglich, mehrere Blocks rückwirkend zu verändern.
Zusammengefasst heißt das: Die Fälschungssicherheit und damit die Vertrauenswürdigkeit der Blockchain wird weder durch eine Institution noch durch persönliche Bindungen gewährleistet, sondern allein dadurch, dass die Community aus eigennützigen Gründen, nämlich um dafür Bitcoin zu bekommen, gemeinsam so viel (Rechenleistung ≈ Energie ≈ Geld) in die korrekte Bestätigung jeder einzelnen Transaktionen (sprich, jedes einzelnen Blocks) investiert, dass es unmöglich ist, dagegen anzustinken.
Exkurs zum Energieverbrauch
So genial das ist, der unschöne Effekt des Proof-of-Work ist ein gigantischer Energieverbrauch von Bitcoin – laut einer im Internet kolportierten Zahl so hoch wie der von ganz Dänemark. Dass diese Energie, wie Antonopoulos betont, nicht für das Schürfen neuer Bitcoin verbrannt wird, sondern für die korrekte Bestätigung neuer Blöcke, während die Zuteilung neuer Bitcoin nur die Belohnung für diese korrekte Bestätigung ist, ist wohl richtig, ändert an dem Energieverbrauch aber nicht das Geringste. Und es eröffnet auch keine Perspektive für den Tag, an dem das letzte Bitcoin geschürft ist, denn auch dann wird die rechenaufwendige Bestätigung neuer Transaktionen erforderlich bleiben.
In einem Vortrag, der in diesem Buch nicht abgedruckt ist, geht Antonopoulos auf den Energieverbrauch des Bitcoin-Mining ein (https://www.youtube.com/watch?v=xoEId1UEsG4). Er beginnt wie ein Lobbyist, nämlich mit Verunsicherung: Niemand wisse wirklich und es könne auch niemand wissen, wie hoch der Energieverbrauch für das Bitcoin-Mining bzw. die Block-Verifikation tatsächlich ist. Denn wegen der Anonymität der Bitcoin-Community gebe es keine Möglichkeit, ihn zu bestimmen. Hochrechnungen auf der Basis einzelner Beispiele seien fragwürdig, zumal nicht sicher sei, ob die gemachten Angaben vertrauenswürdig seien.
Das klingt etwas befremdlich aus dem Mund von jemandem, der den hohen Energieverbrauch für die Verifikation gerade als Fundament von deren Vertrauenswürdigkeit hervorgehoben und für Proof-of-Work auf das Vorbild auf die Pyramiden sowie auf Nôtre Dame verwiesen hat. Auch wenn weder von Nôtre Dame noch von den Pyramiden testierte Schlussabrechnungen vorliegen, ist es doch möglich, für beide sowohl den Arbeits- als auch den Ressourcenaufwand brauchbar zu schätzen. In ähnlicher Weise sollte es möglich sein, den Energieaufwand für die korrekte Verifikation von Bitcoin-Transaktionen so genau abzuschätzen, dass es eine brauchbare Diskussionsgrundlage liefert.
Einen validen Punkt hat er aber mit einem anderen Argument: Dass es nämlich in der Natur der Sache liege, für das Bitcoin-Mining möglichst billigen Strom einzusetzen, um den eigenen Gewinn zu maximieren. Und der billigste Strom sei nun einmal der, der überflüssig sei, weil er zu Zeiten erzeugt wird, in denen es keine ausreichende Nachfrage gibt: Fotovoltaik an einem Sommersonntag, Windstrom in stürmischen Winternächten etc. Wenn dieser Strom, statt abgeriegelt zu werden, gegen eine geringe Gebühr für das Bitcoin-Mining verwendet werde, würde das den Ausbau erneuerbarer Energien sogar unterstützen, weil der ansonsten unverkäufliche Strom so zumindest einen Deckungsbeitrag einspielt.
Ich muss zugeben, im ersten Moment schien mir diese Argumentation tatsächlich überzeugend. Dann wurde mir bewusst, dass dies erstens nicht nur für PV und Wind gilt, sondern für jede Energie, die sich nicht oder nur sehr träge regeln lässt, also etwa auch für Kohle- und Atomstrom. Wenn die Betreiber von Atommeilern oder Kohlekraftwerken Bitcoin-Mining aus lukratives Zusatzgeschäft entdeckten, wäre der ökologische Nutzen spürbar geringer.
Zweitens erinnerte ich mich daran, dass dieser Überschussstrom ja auch für die Erzeugung von Wasserstoff oder synthetischem Treibstoff genutzt werden könnte, sofern er einigermaßen regelmäßig in ausreichender Menge anfällt. Wenn sich das von den Mengen her nicht lohnt, wird sich wahrscheinlich auch der Betrieb von Serverfarmen nicht lohnen.
Bitcoin-Miner sind ja keineswegs die einzigen, die an billigem Strom interessiert sind: Das gleiche Interesse haben alle Energie-Großverbraucher, besonders aber diejenigen, die unter starkem Kostendruck stehen. Zugleich haben sie aber auch genau das gleiche Problem wie die Bitcoin-Miner: Sie brauchen den Strom kontinuierlich und planbar, statt nur an ein paar mehr oder weniger zufälligen Tagen oder Nächten im Jahr. Denn sonst können sie ihre Maschinen nicht auslasten, und dann hilft ihnen auch der (beinahe) kostenlose Strom nicht. Letztlich wird die Überschussenergie ja genau deshalb abgeriegelt, weil sich solch "opportunistischen" Nutzungen nicht rechnen.
Drittens, selbst wenn es gelänge, die mit teuren, hochspezialisierten Rechnern bestückten Rechenzentren professioneller Miner ausschließlich mit erneuerbaren Energien zu betreiben, wäre ihr Betrieb allenfalls dann ökologisch unbedenklich, wenn wir einen dauerhaften Überschuss an erneuerbaren Energien hätten. Denn ansonsten verdrängen sie nur andere Anwendungszwecke und führen anderenorts zu einem höheren Einsatz fossiler Energie.
Alternative Verifikationssysteme
Insgesamt hinterlässt dieser erste Blick auf die Kryptowährungen ein sehr zwiespältiges Gefühl: Einerseits ist ein Geldsystem, das seine Vertrauenswürdigkeit nicht einer Institution verdankt, sondern einem Netzwerk, ein geniales Konzept. Dabei ist irgendeine Art von Verifikation eine notwendige Bedingung für sein Funktionieren. Andererseits ist ein Geldsystem, das schon jetzt als Nischenanbieter mehr Energie verschlingt als ganze Staaten, so ziemlich das letzte, was wir in Zeiten der Klimakrise brauchen. Da hilft es auch nichts, darauf zu verweisen, dass der Abbau von Edelmetallen ebenfalls mit hohen energetischen und ökologischen Kosten verbunden ist.
Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob es auch andere Verikationssysteme gibt als Proof-of-Work. Die gibt es in der Tat – nach Antonopoulos' Worten sogar eine ganze Reihe davon. Das prominenteste darunter ist wohl "Proof-of-Stake", auf das derzeit Ethereum umzustellen versucht, also die zweitwichtigste Kryptowährung nach Bitcoin, mit dem aber auch etliche andere Kryptowährungen arbeiten.
Bei jedem Verifikationssystem müssen die Anreizstrukturen so beschaffen sein, dass es sich lohnt, erstens überhaupt Transaktionen zu verifizieren, und zweitens, sie korrekt zu verifizieren. Das wird in aller Regel sichergestellt, indem man etwas verdient, wenn man korrekt verifiziert, und Geld verliert, wenn man fehlerhaft verifiziert. Bei "Proof-of-Stake" wird statt Rechenleistung (≈ Energie) Geld – in der jeweiligen Kryptowährung – eingesetzt.
Antonopoulos sieht darin einen bedeutsamen Unterschied: Proof-of-Stake bleibt im System, er spielt sich innerhalb ein- und derselben Kryptowährung ab. Beim Proof-of-Work hingegen verlässt man das System und setzt elektrische Energie ein, also etwas, was unabhängig vom verwendeten Geldsystem einen Wert hat. Damit ist er noch ein Stück sicherer, weil er unabhängig vom Kurs der eigenen Währung ist: Wenn es beim Proof-of-Stake jemanden gelänge, den Kurs der eingesetzten Währung vorübergehend stark fallen zu lassen, hätte er unter Umständen die Chance, relativ preisgünstig eine falsche Verifikation durchzudrücken.
Möglichkeit zum Ausstieg aus dem staatlichen Geldsystem
Kryptowährungen haben viele Facetten – wie etwa, dass sie intelligente Verträge ("smart contracts") ermöglichen: Verträge, die im Nachhinein nicht mehr einseitig änderbar oder auslegbar sind. Sie lösen die festgelegte Zahlung aus, sobald die im Vertrag festgelegten Bedingungen als erfüllt nachgewiesen werden. Das kann von großem Wert sein, vor allem in Ländern, auf deren Rechtssystem nur eingeschränkt Verlass ist, aber auch bei grenzüberschreitenden Kontrakten. Aber auch generell, um sich nervige Nachverhandlungen und Rechtshändel zu ersparen.
Das wichtigste Merkmal von "Crypto" ist aber wohl, dass sie Menschen einen völligen oder teilweisen Ausstieg aus dem Finanzsystem ihres Landes (oder Währungsraums) ermöglichen – und so zum sicheren Hafen für diejenigen werden, die ihrem Staat generell oder seiner Finanzwirtschaft misstrauen. Wer etwa befürchtet, dass die Staaten dieser Welt ihre horrenden Schulden über Negativzinsen und schleichende Inflation abschmelzen werden, hat mit Bitcoin und Ether eine Alternative zum Goldkauf.
Wer einen Teil seines Vermögens in Kryptowährungen hält, den treffen Inflation und Geldentwertung in seiner Heimat entsprechend weniger, desgleichen Devisenbeschränkungen und ähnliche Restriktionen. Natürlich tauscht er damit ein Risiko gegen ein anderes ein – aber das ist das Prinzip von Diversifizierung: Wenn man weder sicher sein kann, was Euro und Dollar in 10 oder 20 Jahren wert sein werden, noch, was Bitcoin und Ether dann wert sein werden, dann möchte man vermutlich nicht alle seine Rücklagen in dem einen oder in dem anderen System haben.
Wenn im Laufe der Zeit klarer wird, in welche Richtung die Entwicklung geht, kann man nachsteuern – und zwar einfach, indem man das "schlechte Geld" ausgibt und das gute behält. Das könnte die klassischen Währungen, je nachdem, wie es läuft, in eine schwere Krise stürzen bzw. deren Krise(n) erheblich verschärfen.
Im Grunde finde ich es daher erstaunlich, dass die Staaten dieser Welt – und vor allem die der westlichen Welt – die Kryptowährungen überhaupt haben so stark werden lassen. Je stärker sie werden und je mehr sie sich verbreiten, desto mehr haben die Leute eine Alternative zu dem staatlichen Geldmonopol. Doch bin ich nicht sicher, dass hier die letzte Schlacht schon geschlagen ist, sprich, ob die Staaten dieser Welt ihr Monopol und seine beträchtlichen Vorteile kampflos aufgeben werden.
Unterschiedliche ökologische Nischen
Hochspannend ist auch, wie Antonopoulos Bitcoin und Ethereum vergleicht. Er beschreibt das mit der Metapher "The Lion and the Shark": Für ihn sind die beiden keine Konkurrenten, sondern bewegen sich in unterschiedlichen Ökosystemen. Ob ein Hai einem Löwen überlegen ist, ist keine sinnvolle Frage – das hängt davon ab, ob sie an Land oder unter Wasser gegeneinander antreten. In der Realität werden sie klugerweise weder das eine noch das andere tun, sondern sich auf den Lebensraum konzentrieren, an den sie am besten angepasst sind.
Ähnlich wie Arten entwickeln sich aus seiner Sicht auch Kryptowährungen in Anpassung an ihre ökologische Nische weiter – und entfernen sich dabei unter Umständen auch weit von der Idee ihrer "Schöpfer". Was Bitcoin und Ethereum heute sind, lässt sich daher nur sehr begrenzt aus den ursprünglichen White Papers ableiten. Nützlicher ist, die ökologische Nische zu untersuchen, die sie besetzen, und die inhärenten Wettbewerbsvorteile, die sie haben.
Antonopoulos bringt den Unterschied so auf den Punkt: "Flexible Complexity, Robust Security" (S. 84). Ethereum ist weitaus vielseitiger als Bitcoin; umgekehrt habe Bitcoin bewusst Flexibilität zugunsten der Einfachheit geopfert, denn "Simplicity is a fundamental security practice." (S. 84) Auf diese Weise gehen beide unterschiedliche Wege:
"Bitcoin cannot do many of the things Ethereum does. Ethereum cannot do many of the things that bitcoin does. But they can both do something miraculous: they can re-order fundamental institutions of society around network-centric systems of organizations instead of institutions. They can create opportunities for innovation without permission […]
I am not a bitcoin maximalist. I am not an Ethereum maximalist. I am a maximalist for open, borderless, decentralized, permissionless systems that allow us to solve problems in society with technology which is open to everyone. I think that is a magical recipe." (S. 84f.)
Wie viele unterschiedliche ökologische Nischen es für Kryptowährungen gibt, lässt sich heute ebensowenig absehen wie, wie groß sie sind. Manche von ihnen werden vielleicht nur winzige Nischen besetzen, andere große Bedeutung – und entsprechende Volumina – erlangen. Unterschiedliche Nischen schließen Wettbewerb nicht aus, vor allem dann nicht, wenn mehrere Währungen um die gleiche Nische konkurrieren. Wie in der Natur dürften dabei auch manche "Arten" aussterben, weil andere ihnen in jeder (relevanten) Hinsicht überlegen sind.
Bitcoin für Geldtransfers, Ethereum für intelligente Verträge
Bitcoin besetzt laut Antonopoulos die Nische "high-value cross-border payments" (S. 89). Hier braucht es nicht viel, um besser als die Banken zu sein: Wenn klassische Überweisungen zehn Tage dauern, zuvor unzählige administrative Hürden nehmen müssen und exorbitante Gebühren kosten, dann spielt es keine Rolle, ob Bitcoin-Transaktionen zehn Minuten oder eine halbe Stunde dauern, zumal sie genehmigungsfrei, nicht überwachbar und kostengünstig sind.
Und was ist die ökologische Nische von Ethereum? Für Antonopoulos sind es die Smart Contracts, die für allem in Geschäftsbeziehungen eine ebenso zentrale wie elementare Rolle spielen könnten. Denn letztlich basiert das gesamte Geschäftsleben mit all seinen Transaktionen auf einem hochkomplexen Geflecht von Vertragsbeziehungen. Schon jede einzelne Firma besteht ja aus einer Reihe von Verträgen – und genauso tun es die Beziehungen zwischen Firmen.
Wie originell Antonopoulos an seine Themen herangeht, soll ein letztes Zitat belegen:
"Writing smart contracts to organize corporations is rocket science.
What is the essential understanding of rocket science? It is that, fundamentally, there is very little difference between a rocket and a bomb. In terms of fundamental chemitry, a rocket is a very large exothermic reaction. The difference […] is that a rocket is a controlled exothermic reaction where all of the output is directed in a specific direction. Think of that as governance; so it's a bomb with governance. That's the difference. A rocket is what happenes when you do governance to explosives.
The problem is that when people see the awesome power of a rocket, most of the time they're really excited by the 'big boom' possibility – the explosive side of things. This also applies to smart contracts, because with a smart contract, money is the fuel and the smart contract is governance. The rocket science of a smart contract is ensuring that the fuel of money, that is managed by the smart contract, doesn't blow up in your face. […]
The killer app is smart contracts that redefine the modern corporation. The DAO, the decentralized autonomous organization." (S. 80ff., Hervorhebungen im Original)
Wie unschwer zu ersehen, hat selbst der absolute Crypto-Profi Andreas Antonopoulos großen Respekt vor dem, was an Potenzialen, aber auch an Sprengkraft in "Crypto" steckt. Und wenn er es hat, sollten wir, die wir ungleich weniger von der Sache verstehen, es wohl auch haben.
Meinen Gesamteindruck von "The Internet of Money" kommt ganz praktisch darin zum Ausdruck, dass ich mir, als ich ungefähr auf Seite 85 war, die Bände 1 und 3 auch bestellt habe. Selten habe ich auf so wenigen Seiten (und für weniger als 12 Euro) mehr dazugelernt. In dem einen oder anderen Punkt mag man zu anderen Schlüssen kommen als der Autor – aber man kommt zu ihnen dann jedenfalls auf einer wesentlich solideren Basis als vor der Lektüre.
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