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New Work in der Praxis

Laloux, Frederic (2014):

Reinventing Organizations

A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness

Nelson Parker (Brussels); 362 Seiten; 30,33 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 7 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 12.12.2021

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Wer es schafft, den Erlösungs-Unterton zu überlesen oder auszublenden, kann aus diesem Buch wertvolle Anregungen mitnehmen, wie sich Verantwortung dezentralisieren und betriebliche Zusammenarbeit erfüllender und weniger hierarchisch zu gestalten.

Ich bin kein Fan des Ausrufens neuer Zeitalter – gleich ob es um New Age, das "Zeitalter des Wassermanns" oder um das "Anthropozän" geht. Schon gar nicht, wenn diese Ausrufung durch Leute erfolgt, die sich selbst als Protagonisten des von ihnen verkündeten Paradigmenwechsels bewundern. Daher habe ich dieses Buch, das sich im Untertitel als "Inspired by the Next Stage of Human Consciousness" feiert, trotz vieler Empfehlungen mit einiger Skepsis in die Hand genommen.

Der Berater, Coach und Moderator Frederic Laloux, laut Klappentext INSEAD-Absolvent und ehemaliger McKinsey-Associate Partner, tut im ersten Teil des Buches einiges, um meine Vorurteile bzw. Befürchtungen zu bestätigen: Er ruft ein neues Zeitalter aus, nämlich "Evolutionary-Teal" (S. 43ff.), die evolutionäre, aquamarinblaue Organisation.

Die aquamarinblaue Krone der Schöpfung Evolution?

In seinem Stufenmodell der Evolution von Organisationskulturen orientiert er sich am Farbspektrum:

  • Reactive – Infrared paradigm
  • Magic – Magenta paradigm
  • Impulsive – Red paradigm
  • Conformist – Amber paradigm
  • Achievement – Orange paradigm
  • Pluralistic – Green paradigm
  • Evolutionary – Teal paradigm

Wenn man, bei Infrarot beginnend, bei den Blautönen angekommen ist, kann danach nicht mehr viel kommen. Die Farbwahl ist also eine indirekte Art, uns zu sagen, dass Laloux die von ihm ausgerufene aquamarinblaue Organisation als die Krönung der Schöpfung betrachtet – oder ihr zumindest ziemlich nahekommend. "Inspiriert von der nächsten Stufe des menschlichen Bewusstseins" grenzt er seinen Ansatz ab von all jenen rückständigen Organisationen, die noch (?) den Großteil dieses Planeten bevölkern, und bedauert die vielen armen Menschlein, die der Freuden einer aquamarinblauen Organisation (noch?) nicht teilhaftig werden dürfen.

Denkmodelle, bei denen man selber an der Spitze des Fortschritts steht, finde ich prinzipiell suspekt: Das lädt zur Hybris geradezu ein. Überlegenheitsgefühle wiederum trüben leicht den Blick und verleiten dazu, mit einer gewissen Herablassung auf jene herabzuschauen, die noch in unreiferen Stadien des Bewusstseins bzw. der menschlichen Entwicklung dahinvegetieren. Implizit verwirft er damit die allermeisten heutigen Organisationen als weder entwickelbar noch entwicklungswürdig.

Auch bei Laloux' Blick in die Vergangenheit sind Zweifel angebracht: Waren die Organisationen früherer Zeiten wirklich so primitiv, dass sie sich auf die Attribute "reactive", "magic" und "impulsive" reduzieren und mit Mord und Totschlag assoziieren lassen? Immerhin gab es schon im Paläolithikum Fernhandel, und an der Schwelle zum Neolithikum entstanden monumentale Bauwerke wie Göbekli Tepe und Stonehenge, was doch ein bisschen mehr voraussetzt als bloß wilde Horden, Clans und Stämme.

Überdies waren die steinzeitlichen Jäger und Sammler sowie die frühen Ackerbaukulten an ihre Umwelt immerhin so gut angepasst, dass sie mit ihren Lebens- und Organisationsformen Hunderttausende von Jahren bestanden: Ein Nachweis von evolutionsbiologischer Fitness, den unsere Kultur(en) noch lange nicht erbracht haben. Also wahrlich kein Grund, auf sie herabzublicken.

Milde Herablassung

Auch wenn sich Laloux (meist) erkennbar Mühe gibt, nicht allzu negativ über die aus seiner Sicht überkommenen Formen der Zusammenarbeit und Arbeitsorganisation zu reden, hat das die verzeihende Milde eines Erleuchteten, voller Verständnis und Mitgefühl für diejenigen, die seine Stufe der Erleuchtung noch nicht erklommen haben – und sie vielleicht auch nie erreichen werden. Auch Mitgefühl kann etwas Herablassendes haben – und damit letztlich eine Pose der Überlegenheit sein.

Diese Art der Darstellung macht dem Leser ein Beziehungsangebot, das von einer Doppelbindung geprägt ist: Implizit lädt es dazu ein, sich Laloux' Sichtweise zu eigen zu machen und freudig seinem Club der Erleuchteten beizutreten, samt deren mildem Blick auf den Rest der Menschheit. Wer sich weigert, dies zu tun, gerät leicht in die Gefahr, stattdessen eine Trotzposition einzunehmen und nur noch nach Denkfehlern und Inkonsistenzen in seinem Ansatz zu suchen.

Zu dem ersten bin ich nicht bereit, auf das zweite habe ich auch keine Lust, weil es nicht nur dem Lesevergnügen abträglich wäre, sondern auch dem Nutzen der Lektüre. Deshalb dachte ich schon darüber nach, das Buch zur Seite zu legen – aber davor wollte ich noch einen Blick in den zweiten Teil werfen, um herauszufinden, wie es weitergeht.

Praxisberichte statt New-Work-Weisheiten

Und mit dem zweiten Teil hat mich Laloux dann doch noch gepackt. Denn statt darin, wie befürchtet, weiter Theorien über erleuchtete Arbeitsformen auszubreiten, stellt er darin die Ergebnisse einer umfangreichen "Feldforschung" vor. Er hat zwölf mittlere und große, zum Teil sogar sehr große Firmen und Organisationen, die für ihn "teal" (oder zumindest "tealoid") sind, intensiv empirisch erforscht: mit Gründern und Mitarbeitern gesprochen, systematische Interviews geführt und sich ihre Sitten und Gebräuche, Rituale und Spielregeln erklären lassen.

Auf diese Weise hat er nicht nur an eine Fülle spannender und anschaulicher Geschichten über die Lebens- und Arbeitsrealität dieser Firmen zusammengetragen, er konnte auch Gemeinsamkeiten und Muster herausarbeiten, die er im mittleren und mit 180 Seiten umfangreichsten Teil seines Buches vorstellt. Gegliedert ist dieser Teil in sieben Unterkapitel:

  1. Three breakthroughs and a metaphor
  2. Self-management (structures)
  3. Self-management (processes)
  4. Striving for wholeness (general practices)
  5. Striving for wholeness (HR processes)
  6. Listening to your evolutionary purpose
  7. Common cultural traits

Auch wenn ich mit manchen dieser Überschriften Probleme habe – Evolutionsbiologen würden aufschreien angesichts der Vorstellung, dass die Evolution einen "Purpose", also eine Bestimmung oder gar einen Lebenssinn für uns bereithält –, empfinde ich diesen Teil als sehr wertvoll, weil er tiefe, wenn auch zuweilen etwas verklärt wirkende Einblicke in die New-Work-Realität gibt. Daraus erfährt man nicht nur, wie alternative Formen der Zusammenarbeit in der (idealiserten?) Praxis aussehen, man kann daraus auch viele Anregungen für "normale" Firmen, Strukturen und Kulturen entnehmen.

Entscheidungen nach Beratung

Ein eindrucksvolles Beispiel, von dem man wirklich lernen kann, ist der "Beratungsprozess", den etliche dieser Firmen praktizieren. Er soll allen Mitarbeitern größtmögliche Entscheidungsfreiheit geben und zugleich die Qualität und Konsistenz getroffener Entscheidungen gewährleisten.

Das klassische Modell, um Qualität und Konsistenz zu sichern, ist, Entscheidungen umso weiter oben in der Hierarchie anzusiedeln, je wichtiger sie sind. Was sarkastisch auch als das Prinzip der "höher bezahlten Weisheit" bezeichnet wird. Die logische Konsequenz daraus ist, dass einfache Mitarbeiter so gut wie gar nichts selbst entscheiden dürfen. Das erstens ist nicht sehr motivierend und macht Organisationen zweitens langsam, weil es oft sehr lange dauert, bis Entscheidungen von oben kommen.

Drittens stellt sich zuweilen heraus, dass die Korrelation von Weisheit und Vergütung doch nicht so eng ist wie erhofft, und viertens schließlich krankt die Umsetzung solcher vom Managemententscheidungen allzu oft daran, dass die Mitarbeiter nicht hinter ihnen stehen bzw. sie geradewegs für Unsinn halten.

Der Beratungsprozess ("advice process") ist die radikale Umkehrung dieses Prinzips: Die Mitarbeiter dürfen und sollen alle aus ihrer Sicht erforderlichen Entscheidungen treffen, ohne davor irgendwelche Chefs fragen zu müssen. Das einzige, was von ihnen verlangt wird, ist, diese Entscheidung zuvor mit denjenigen zu beraten, die direkt oder indirekt davon betroffen sind. Deren Einwände und Empfehlungen sollen sie bedenken, müssen sie aber nicht als verbindliche Vorgabe betrachten.

Solch eine radikale Delegation von Entscheidungsbefugnis klingt auf den ersten Blick ziemlich gewagt. Ich gebe zu: Ich wäre geneigt, hier zumindest eine Sicherheitsschleife einzuziehen, wie etwa, im Falle eines Vetos von einem der Betroffenen entweder einen Vorgesetzten einzubeziehen oder einen Konsent der wesentlichen Stakeholder zu verlangen. (Konsent heißt im Gegensatz zu Konsens: Ich bin nicht unbedingt dafür, aber ich kann mit dieser Entscheidung leben.)

Doch solche Sicherungen scheinen nicht erforderlich zu sein: Etliche Firmen aus Laloux' Studie praktizieren diesen Beratungsprozess "ungesichert" und haben damit offenkundig gute Erfahrungen. Was über das rein Faktische hinaus auch eine interessante Rückmeldung zum Thema Welt- bzw. Menschenbild ist: Offenbar ist die Sorge unbegründet, dass manche Mitarbeiter dieses Recht nutzen könnten, um ohne Rücksicht auf Verluste ihre Lieblingsentscheidung durchzudrücken. Anscheinend wächst mit den Entscheidungsbefugnissen, die man jemandem gibt, auch sein Verantwortungsgefühl. Was ja eine ziemlich bemerkenswerte Feststellung wäre.

Über die Dezentralisierung, Beschleunigung und Akzeptanz von Entscheidungen hinaus hat dieses Verfahren weitere Vorteile. Er stößt bei den Beteiligten unweigerlich einen Lern- und Vernetzungsprozess an: Es entstehen produktive Diskussionen, die zur Erweiterung des Blickfelds und zum besseren Verständnis unterschiedlicher Perspektiven beitragen, und so letztlich auch zu besseren Entscheidungen, die mit breiter Akzeptanz umgesetzt werden.

Massive Einsparung von Führungs- und Stabskräften

Aber was machen dann die Vorgesetzten, wenn die Mitarbeiter die allermeisten Entscheidungen selbst treffen? Die müssen tapfer sein, denn für sie und ihre Leistungen gibt es dann deutlich weniger Bedarf.

Im schlimmsten Fall gar keinen mehr, wenn die Mitarbeiter hinfort auch die klassischen Aufgaben von Führungskräften wie Planen, (Entscheiden hatten wir ja schon), Kontrollieren ('tschuldigung, Controlling) übernehmen und, Gott behüte, auch Aufgaben wie Mitarbeiterauswahl, Leistungsbeurteilung und Gehaltsfindung. Was laut Laloux in vielen der von ihm untersuchten Firmen tatsächlich so gehandhabt wird. Auch für Stabs- und Zentralfunktionen wird es dann eng.

Tatsächlich kommen die meisten dieser Firmen fast ohne mittleres Management und Stabsfunktionen aus. Was, sofern es funktioniert, neben den Auswirkungen auf Motivation und Identifikation natürlich auch ein gewaltiger Kostenvorteil ist. Wenn die bisherigen Managementaufgaben vom Team selbst übernommen werden, kostet das zwar auch Arbeitszeit und damit Geld, trotzdem fällt damit ein erheblicher Teil der Gemeinkosten weg.

Die betroffenen Führungskräfte werden nicht einfach vor die Türe gesetzt. Gemäß dem menschenfreundlichen aquamarinen Geist bekommen sie, falls sie sich auf dieses Modell der Zusammenarbeit grundsätzlich einlassen wollen, die Chance, sich in den neuen Strukturen ohne Zeitdruck eine neue Aufgabe zu suchen, die zu ihnen und ihren Fähigkeiten und Neigungen passt. Das kann eine operative Aufgabe sein, aber auch ein Spezialthema oder Sonderprojekt, wenn es für das Unternehmen insgesamt von Nutzen ist. Wer dies nicht will, kann natürlich auch sein Abfindungspaket nehmen und gehen.

Schwierige Entscheidungen

Eine kritische Frage ist, ob der beschriebene Beratungsprozess auch für Krisenzeiten taugt: Können die Beschäftigten auch mit schlechten Nachrichten umgehen? Können sie die unter Umständen erforderlichen harten Entscheidungen treffen? Sind sie im schlimmsten Fall bereit und in der Lage, rasch und konsequent über einen Stellenabbau und/oder über Gehaltskürzungen zu entscheiden?

Laloux berichtet über Beispiele, in denen die Firmeninhaber oder Vorstände das Problem offen beschrieben und die Rückmeldung der Beschäftigten einholten. In einem Fall plädierte die Belegschaft angesichts eines Auslastungslochs dafür, dass alle nur drei Wochen pro Monat arbeiteten und entsprechend weniger Gehalt erhielten, statt die Aushilfskräfte zu entlassen. In einer anderen Firma entschied hingegen der CEO, die Beschäftigten über die schwierige Lage zu informieren und deshalb den Beratungsprozess vorübergehend auszusetzen.

Aber auch bei anderen Themen führt die radikale Dezentralisierung von Entscheidungen möglicherweise nicht zu dem besten Ergebnis: IT-Systeme? Kostenvorteile im Einkauf? Investitionen? Doch die Mitarbeiter sind ja nicht blöd, meint Laloux: In der Regel kommen sie ziemlich schnell darauf, dass eine abteilungs- oder bereichsübergreifende Koordination sinnvoll ist, wenn dies erhebliche Kosten- oder Effizienzvorteile verspricht. Und organisieren sich entsprechend.

Ich bin da, ehrlich gesagt, nicht restlos überzeugt. Nicht, weil ich am gesunden Menschenverstand der (Mehrzahl der) Beschäftigten zweifle, sondern weil es Aufgaben gibt, bei denen der gesunde Menschenverstand an Grenzen stößt, ohne dass dies auf Anhieb zu erkennen ist, und wo eine fachliche Qualifikation hilfreich ist. Gleich ob Einkauf, IT oder Personal, zuweilen bringt Spezialisierung Qualitäts- und Kostenvorteile. Auch bei der Entscheidung über größere Investitionen ist es vermutlich nützlich, wenn man mehr beherrscht als die Grundrechenarten.

Doch auch wenn Ausnahmen die Regel nicht bestätigen, widerlegen sie sie auch nicht. An den praktischen Beispielen und kurzen Fallstudien aus Laloux' Buch fasziniert mich, wie viele Aufgaben und Entscheidungen man ohne Qualitätsverlust in die Hände der Mitarbeiter vor Ort legen kann, häufig sogar mit einem Qualitätsgewinn, von der gesteigerten Identifikation und Motivation ganz abgesehen.

Konfliktbewältigung ohne Hierarchie

Ein weiteres kritisches Thema ist der Umgang mit Konflikten. Sarkastisch könnte man sagen: Die meisten klassisch-hierarchisch strukturierten Firmen sind so schlecht im Umgang mit Konflikten, dass man hier durch eine andere Vorgehensweise nicht mehr viel verderben kann. Andererseits: Schlechter geht immer. Besser allerdings auch. Deshalb ist aufschlussreich, welche Mechanismen die von Laloux untersuchten Organisationen entwickelt haben, um Konflikte zu bewältigen.

Am Anfang steht die ernüchternde Feststellung, dass Streit auch im aquamarineblauen Organisationshimmel nicht ausbleibt. Weil hier aber keine Vorgesetzten verfügbar sind, die die Rolle des Schlichters oder Richters übernehmen können, brauchen sie dafür noch mehr als klassisch verfasste Firmen Mechanismen, Leitlinien oder Prozesse.

Ein beispielhafter Konfliktbewältigungsprozess, den Laloux vorstellt, besteht aus vier Stufen:

  • "In a first phase, they sit together and try to sort it out privately. The initiator has to make a clear request (not a judgement, not a demand), and the other person has to respond clearly to the request (with a 'yes', a 'no', or a counterproposal).
  • If they can't find a solution agreeable to both of them, they nominate a colleague they both trust to act as a mediator. The colleague supports the parties in finding an agreement but cannot impose a solution.
  • If mediation fails, a panel of topic-relevant colleagues is convened. The panel's role, again, is to listen and help shape an agreement. It cannot force a decision, but usually carries enough moral weight for matters to come to a conclusion.
  • In an ultimate step, (…) the founder and president, might be called into the panel, to add to the panel's moral weight." (S. 113f.)

In dem gesamten Prozess gilt für alle Beteiligten Vertraulichkeit: Der Streit wird als persönliche Angelegenheit angesehen. Das gilt auch für die Kontrahenten selbst: Auch sie sind gehalten, ihren Konflikt für sich zu behalten, statt ihn herumzuerzählen und dabei über die jeweils andere Seite herzuziehen. Vermutlich trägt bereits diese Regel maßgeblich dazu bei, Eskalationen zu verhindern – vor allem wenn die Kollegen dies aktiv unterstützen, indem sie sich weigern, sich in Streitigkeiten hineinziehen zu lassen und so zu Komplizen der Lästereien zu werden.

Bemerkenswert erscheint mir dabei, dass der beschriebene Prozess auf die naheliegende (und bequeme) Lösung verrichtet, dass früher oder später ein Chef oder Schlichter die Entscheidung trifft, wenn sich die Kontrahenten nicht einigen.

Vielmehr müssen sie sich einigen, weil es im gesamten Prozess niemanden gibt, der ihnen diese Entscheidung abnimmt. Weder der Mediator noch das Panel noch, im letzten Schritt, der oberste Chef zwingt ihnen eine Lösung auf; stattdessen erhöht der Prozess nur schrittweise den moralischen Druck, zu einer Einigung zu kommen, um die kostbare Zeit der Kollegen nicht noch länger zu strapazieren.

Damit ist die ebenso bequeme wie komfortable Rückzugslinie verbaut, trotzig auf seiner Position zu beharren und damit indirekt jemandem anderen die Entscheidung zuzuschieben (und sich hinterher über die Entscheidung zu beklagen). Sobald man also begriffen hat, dass niemand einem die Entscheidung abnehmen wird, kann man sich auch gleich einigen, statt die halbe Firma in die Sache hineinzuziehen – und schließlich "vor aller Augen" doch auf den anderen zugehen zu müssen.

Ich sehe keinen Grund, warum es nicht möglich sein sollte, einen derartigen Konfliktbewältigungsprozess auch in klassische hierarchische Strukturen zu übernehmen. Schließlich gilt das Führungsprinzip, keine Rückdelegation zuzulassen. Warum sollte man diesen Grundsatz nicht auch auf die Bewältigung von Konflikten übertragen, statt deren gängiger "hierarchischen Eskalation"?

Graustufenloses Schwarz-Weiß-Denken

Die gerade wiedergegebenen Gedanken stammen aus der erste Hälfte des zweiten Teils, den Abschnitte 2.2 und 2.3. Diese rund 80 Seiten fand ich wegen der vielen Praxisbeispiele und -berichte wirklich informativ und anregend. Nicht in gleicher Weise überzeugt haben mich die beiden nachfolgenden Abschnitte "Striving for wholeness (general practices)" und "Striving for wholeness (HR processes)".

In graustufenlosem Schwarz-Weiß-Denken kontrastiert Laloux hier klassische, also nach seiner Farbenlehre orangefarbene und grüne Organisationen mit der schönen neuen Welt der aquamarinen Kulturen:

"Historically, organizations have always been places where people showed up wearing a mask, both in an almost literal and in a figurative sense. Literally, we see this in the bishop's robe, the executive's suit, the doctor's white coat, and the uniforms at a store or restaurant, to name a few. The uniform signals a person's professional identity and rank. It is also a claim the organization makes on the person: while you wear this uniform, you don't fully belong to yourself. You are to behave and show up not as yourself, but in certain pre-determined, acceptable ways.

Along with the uniform comes a more subtle influence: people often feel they have to shut out part of who they are when they dress for work in the morning. They put on a professional mask, conforming to expectations in the workplace. In most cases, it means showing a masculine resolve, displaying determination and strength, hiding doubts and vulnerability. The feminine aspects of the self – the caring, questioning, inviting – are often neglected or dismissed. Rationality is valued above all other forms of intelligence; in most workplaces, the emotional, intuitive, and spiritual parts of ourselves feel unwelcome, out of place." (S. 143)

In aquamarinen Kulturen hingegen werden Firmen zu Orten der Selbstverwirklichung und Entfaltung des wahren Selbst. Inspiriert von "wisdom traditions from around the world" (S. 144) verstehen sie ihre Mission darin, "to create a space that supports us in our journey to wholeness" (a.a.O.) Kein Wunder, dass dort die Mitarbeiter reihenweise jubeln: "Here I feel I can fully be myself." (a.a.O.) Eigentlich könnte man von ihnen noch weit mehr Begeisterung erwarten, denn jene Reise zu sich selbst, die anderswo teure Kursgebühren kostet, wird hier auch noch als Arbeitszeit vergütet.

Äußeres Zeichen dieser Ganzheitlichkeit ist, dass die Mitarbeiter ihre Hunde und Kinder (in dieser Reihenfolge) mit in die Arbeit bringen. Nein, liebe Leute, nennen Sie mich rückständig, nennen Sie mich borniert: Mir sind Meetings lieber, in denen weder Kinder noch Hunde die Aufmerksamkeit der Anwesenden in Anspruch nehmen. Zumal man weder Kindern noch Hunden gerecht wird, wenn man sie zu Sitzungsbeginn ein bisschen tätschelt und dann von ihnen erwartet, dass sie sich bis Feierabend still halten.

Ein sehr gemischtes Bild

Auch ein "Values Day", ein (zweimonatliches) "Values Meeting" oder ein "Annual Survey" (S. 155f.) reißen mich nicht vom Hocker. Das mögen hilfreiche Kulturelemente sein, wenn es in die Situation passt, es können aber auch ziemlich schale, aufgesetzte Rituale sein, wenn sie inkonsistent mit den im Alltag gelebten Prioritäten sind. Ähnliches gilt für Rituale wie etwa, jedes Meeting mit einem einminütigen Schweigen zu beginnen, oder einer täglichen viertelstündigen Morgenmeditation. Wo dies passt, wunderbar – aber als pauschales Rezept zur Übernahme kaum zu empfehlen.

Anderen Empfehlungen wiederum kann ich mich vorbehaltlos anschließen – auch für "andersfarbige" Organisationen. Etwa, dass es von elementarer Bedeutung ist, in einer Firma ein wohlwollendes und ermutigendes Klima zu pflegen oder, in den Worten der Harvard-Professorin Amy Edmondson, eine "Atmosphäre psychologischer Sicherheit".

Deshalb ist es auch notwendig, herabsetzendes, einschüchterndes und entmutigendes Verhalten konsequent zu unterbinden. (Hier hat die freie Entfaltung des wahren Selbst offenbar doch Grenzen – aber wie steht es dann eigentlich mit der Selbstverwirklichung von Kotzbrocken? Wollen wir wirklich davon ausgehen, dass unser aller Selbstverwirklichung ausschließlich gute und edle Züge zutage födert?)

Ebenso kann ich mich der Empfehlung von Großgruppenreflexionen, Team-Supervision und kollegialem Coaching nur anschließen. Zumal ich damit auch in Organisationen, die ganz gewiss nicht aquamarinblau sind, gute Erfahrungen habe.

Ebenfalls sehr anregend finde ich die Methodik(en) für Leistungsbeurteilungen ("Performance Management"), die Laloux bei seinen Forschungsobjekten kennengelernt hat. Statt einer klassischen Beurteilung, die die Beurteilten zwangsläufig zum Objekt der Beurteilung macht und sie damit herabsetzt, kann man auch gemeinsam (und vielleicht sogar im gesamten Team) über Fragen nachdenken wie:

  • "What has gone really well this year that we might celebrate?
  • What has been learned in the process?
  • What didn't go as well or might have done differently?
  • How do we 'take stock' of where things are now compared to where we thought they might be?" (S. 185)

Streben nach Überwindung der "Entfremdung"

Dieses "Streben nach Ganzheit" (Ganzheitlichkeit?) hat deutliche Berührungspunkte mit dem, was Marxisten als die Befreiung von entfremdeter Arbeit bezeichnen würden. Doch im Gegensatz zu Marx und seinen Jüngern verspricht Laloux sie sich (und uns) nicht von der Überwindung des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, sondern vom Einbringen der ganzen Persönlichkeit in die Arbeit sowie von der vollen Identifikation mit ihrem Sinn und Zweck.

Was aus meiner Sicht zeigt, dass beide Sichtweisen nicht ganz vollständig sind: Wenn ich zwar (Mit)Eigentümer der Produktionsmittel bin, aber eine Arbeit habe, die mir weder Spaß macht noch einen erkennbaren Sinn für mich hat, ist das vermutlich ebenso wenig die Befreiung von Entfremdung, wie wenn ich mich voll mit meiner Arbeit identifiziere und mit ganzer Persönlichkeit dabei bin, aber an deren Gewinn nicht partizipiere.

Voll in seiner Arbeit aufzugehen, aber von ihren Erträgen nichts zu haben, würden Marxisten wohl als perfide Perfektionierung der Ausbeutung charakterisieren. Doch ein Stichwort wie "profit participation" findet sich weder im Index noch sonst wo im Text. Dabei wäre eine Diskussion darüber, wie die Erträge der gemeinsam gestalteten und verantworteten Arbeit verteilt werden sollen, jenseits aller antikapitalistischen Bestrebungen eigentlich die logische Konsequenz einer ganzheitlichen Mitverantwortung.

Die Kapitalgeber muss man deswegen ja nicht enteignen: Sie verdienen durchaus eine Vergütung dafür, dass sie das Risikokapital zu Verfügung stehen, auch wenn manche das als "leistungsloses Einkommen" desavouieren. (Ganz "leistungslos" ist es im Übrigen auch nicht, sein Geld und damit Verluste zu riskieren – auch wenn diese Leistung mangels Masse nicht jeder erbringen kann.) Aber die Frage nach einer fairen Aufteilung des Gewinns stellt sich.

Quasireligiöse Sinnsehnsucht

Endgültig verliert mich Laloux mit dem Abschnitt 2.7 "Listening to Your Evolutionary Purpose". Allein schon die Worte "Evolution" und "Purpose" in einer Überschrift zusammenzubringen, offenbart ein eigenwilliges, teleologisches Verständnis von Evolution – und lässt zugleich die Träume und Sehnsüchte des Autors (und vermutlich vieler seiner Adepten) sichtbar werden: Die Suche nach einem vorbestimmten Sinn, den "die Vorsehung" (ich verwende bewusst diesen belasteten Begriff) nicht nur für jede/n Einzelne/n von uns bereithält, sondern auch für ganze Organisationen:

"The organization is viewed as an energy field, emerging potential, a form of life that transcends its stakeholders, pursuing its own unique evolutionary purpose." (S. 221)

Statt sich an den klassischen ökonomischen Kategorien wie Wettbewerb, Marktanteil, Wachstum und Gewinn zu orientieren, möchte Laloux aufgehen in einem vorbestimmten Sinn, auf den man nur aufmerksam genug hören muss, um ihn zu entdecken. Das ist ein quasi-religiöses Glaubensbekenntnis, mit dem ich wenig anfangen kann – die Hoffnung auf einen lenkenden Weltgeist, also letztlich eine Religion ohne Gott, wer auch immer dann im Führerhaus sitzt:

"Many people have come to experience that when they follow their calling, life seems to bring up all the right opportunities at just the right time. The same seems to be true at the organization level. When a company is clear about its purpose, the outside world comes knocking at its door with opportunities. Sometimes it feels as if it isn't only people in the organization sensing where it wants to go, but people from the outside, too." (S. 206)

Statt einer Belohnung im Himmel verspricht Laloux also bereits eine auf der Erde – was als Vorhersage riskant, weil empirisch überprüfbar ist. Den materiellen Gewinn allerdings möchte er dafür nicht aufgeben: Als Kind einer verwöhnten Zeit postuliert er, dass der Gewinn sich – sozusagen als verdienter Lohn der guten Tat – unweigerlich von selbst einstelle. Wer ihm darin nachfolgen will, möge sich besser aus wettbewerbsintensiven, kostengetriebenen Geschäften heraushalten: Das ist moralisch-magisches Denken, das die Realität zu nichts verpflichtet. Etwas sarkastisch könnte man sagen, er hätte sich die Bezeichnung "magic" besser für diese Stufe aufbewahren sollen, vielleicht in Kombination mit "purpose".

Laloux würde hier wahrscheinlich argumentieren, dass er dieses Muster bei den von ihm untersuchten Firmen durchgängig angetroffen hat, darunter auch solchen, die in kostengetriebenen Geschäften tätig sind. Das mag so sein, aber das dürfte ein klassischer Stichprobenfehler sein, nämlich ein "Survivors' Bias": Er hat halt mit keinen Firmen gesprochen, die mit solchen Ansätzen vor die Wand gefahren und aus dem Wettbewerb ausgeschieden sind.

Nur eine aquamarinblaue Spielwiese?

Im dritten und letzten Teil "The Emergence of Teal Organizations" erläutert Laloux, wie Unternehmen den Farb- und Paradigmenwechsel erfolgreich realisieren können. Und benennt dabei gleich eingangs zwei notwendige Bedingungen für den Erfolg, die sich enttäuschend (oder beruhigend) konventionell anhören, nämlich "Top leadership" und "Ownership" (S. 237).

"The general rule seems to be that the level of consciousness in an organization cannot exceed the level of consciousness of its leader." (S. 239)

Zu deutsch: Ob der "Farbwechsel" gelingt, ist letzten Endes eine Frage der Hierarchie! Das ist mir einerseits sehr geläufig, weil ich ja seit Jahren sage, dass eine Kulturveränderung letztlich eine Machtfrage ist. Andererseits ist es erstaunlich banal für den Aufbruch in ein neues Zeitalter: Auch beim Übergang in die aquamarine Welt ist offenbar das Kapital mächtiger als die Arbeit.

Was natürlich die hochnotpeinliche Frage aufwirft, ob die ganze Suche nach Ganzheitlichkeit und evolutionärem Purpose nur eine von den Kapitalgebern geduldete bzw. geförderte Spielwiese ist, eine jederzeit widerrufliche "Erlaubnis", die nur so lange Bestand hat wie sie die Eigenkapitalrendite nicht in Gefahr bringt. Sie trifft die gleiche Kritik, die Laloux durchaus zu Recht an dem so beliebten Begriff des "Empowerment" übt: Das ist letzten Endes keine Autonomie, sondern nur eine geliehene Macht.

Vieles von dem, was Laloux in diesem Kapitel schreibt, klingt für Change Manager erstaunlich vertraut und konventionell: Dass der CEO das aquamarine Führungsmodell überzeugend vertreten und vorleben muss, dass er oder sie die Bedingungen dafür schaffen und seine Umsetzung einfordern muss ("Holding the space", S. 240), dass er/sie auch beim "Listening to the purpose" ein Vorbild sein muss (S. 247) etc. Und dass er oder sie im übrigen "a colleague like any other" (S. 248) zu sein hat.

Was aber auch nur dann etwas hilft, wenn die Eigentümer mitspielen. Wenn sie Vorbehalte gegenüber den spinnerten Ideen des CEO haben und ihn austauschen, sobald das Geschäft einmal nicht mehr so gut läuft, dann ist der aquamarinblaue Traum schnell ausgeträumt. Denn ein neuer CEO wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ziemlich rasch "mit dem ganzen Unsinn aufräumen" und einen Farbwechsel durchsetzen, der der vermeintlichen Richtung der Evolution zuwiderläuft.

Fairerweise muss man allerdings festhalten, dass dies kein Mangel des Modells ist, sondern ein Ausfluss unserer Rechtsordnung: Sie gibt den Kapitalgebern die fast uneingeschränkte Verfügungsgewalt über ihr Eigentum. Ähnlich mächtig sind, sozusagen als Vertreter der Eigentümer auf Erden, die CEOs und Vorstände, jedenfalls solange sie die Kapitalgeber hinter sich haben. Alle anderen Stakeholder haben nach geltendem Recht nur die Spielräume, die die Eigner ihnen zugestehen.

Implementierung einer aquamarinblauen Kultur

Wie Laloux wenig überraschend feststellt, ist es leichter, eine aquamarine Kultur von der Unternehmensgründung an neu aufzubauen, als eine bestehende Kultur in diese Richtung zu drehen. Intensive Diskussionen unter den Mitarbeitern der ersten Stunde und die schrittweise Verabredung entsprechender Spielregeln – oder die Übernahme eines ausgearbeiteten Modells wie der Holakratie – stellen die Weichen von Anfang an richtig.

Dabei geht es vor allem um die oben besprochenen Themen: Entscheidungsprozesse, Konfliktbewältigung und kollegiale Beurteilung und Gehaltsfindung. Weitere Themen sind das Schaffen psychologischer Sicherheit, die bewusste Ausgestaltung von Gebäuden, die Aufnahme und Einarbeitung neuer Mitarbeiter ("Onboarding") sowie die Gestaltung von Besprechungen.

Die Transformation einer bestehenden Organisation muss zwingend ganz oben beginnen: Wenn der CEO und die Eigentümer bzw. der Aufsichtsrat nicht dahinter stehen, braucht man gar nicht anzufangen. Schon Vorbehalte bei Teilen des Aufsichtsrats (oder des Vorstands) stellen das gesamte Vorhaben in Frage, denn eine bloße Duldung kehrt sich unter Druck erfahrungsgemäß in Ablehnung um.

Vor einer Umstellung auf einen Schlag rät Laloux ab: "Living organizations change in increments." (S. 268) Das ist einleuchtend – und wirft zugleich die Frage auf: Wo und wie anfangen? Seine Antwort: beim Selbstmanagement bzw. der Selbstverantwortung. Allerdings sagt er wenig darüber, wie die radikale Dezentralisierung von Entscheidungen funktionieren kann und soll, solange die mittleren Führungsebenen noch im Amt sind – er sagt lediglich, dass die von der ganzen Sache (überraschenderweise) wenig begeistert sein werden.

Wie er selbst schreibt, kann es eine Weile dauern, bis Leute, denen man jahrelang gesagt hat, was sie tun sollen, "psychological ownership" entwickeln (S. 270). Also könnte leicht eine Art Interregnum entstehen, in denen die einen die Verantwortung noch nicht angenommen haben, die andere sie aber nicht mehr voll wahrnehmen – und sei es auch nur, um zu beweisen, dass der ganze Ansatz nicht funktionieren kann. Sehr spezifisch ist es nicht, wenn er dazu empfiehlt:

"You need to think carefully and creatively about the journey that could help your colleagues to develop an emotional investment in their work, the organization, and its purpose and achievement." (S. 270)

Mit den Beschäftigten, wie er vorschlägt, am "Purpose" zu arbeiten, sie Ziele, einen Plan und ein Investitionsbudget entwickeln zu lassen und/oder sie mit dem Wettbewerbsdruck zu konfrontieren, das allein scheint mir kein überzeugendendes Übergangskonzept – vor allem wenn in der Zeit, wo dies geschieht, die Maschinen stillstehen. Denn man darf nicht vergessen: Wir reden hier über die Leute, (als Einzige!) die direkt produktiv tätig sind und Wertschöpfung für den Kunden erbringen. Wenn sie das nicht tun, ist der ganze Laden im Leerlauf. Er kostet weiterhin Geld, produziert aber nichts mehr und generiert entsprechend auch keine Einnahmen. Das hält man nicht lange durch.

Die drei Ansätze, die er für den Übergang nennt, sind plausibel, aber abstrakt: "Creative chaos", "Bottom-up redesign" und "Pre-existing template (switch day)" (S. 275f.). Letztlich macht das vor allem eines deutlich: Man muss nicht nur eine klare Vorstellung von dem Zielzustand haben, sondern auch einen schlüssigen Plan für den Übergang, also letztlich eine durchdachte Change-Strategie. Sie muss die Mitarbeiter aller Ebenen auf das neue Arbeitsmodell vorbereiten und sie schulen, sich aber auch der Grenzen solcher Trockenübungen bewusst sein: Schwimmen lernen kann man letztlich nur im Wasser.

Unbegeisterte, aber auch unvermeidliche Empfehlung

Trotz aller Vorbehalte bewerte ich das Buch unter dem Strich als empfehlenswert: Nicht, weil ich mich am Ende doch für den Traum von aquamarinblauen Organisationen begeistere, sondern weil vor allem der mittlere Teil wertvolle Anregungen für ganz normale Firmen liefert, die den Beschäftigten an der Basis mehr Verantwortung übertragen wollen – oder müssen.

Denn eines sollten sich all jene klarmachen, die solche Ansätze vorschnell als realitätsfremdes Wunschdenken oder als sozialromantisches Gefasel abtun: Wenn es funktioniert, Verantwortung so weit an die Basis zu delegieren, dass ein mittleres Management weitgehend überflüssig wird, dann wird es eher früher als später unvermeidlich werden, so zu arbeiten. Und zwar einfach deswegen, weil ein mittleres Management dann im Sinne des Lean Management "Muda" wäre: Verschwendung, die vom Kunden nicht mehr bezahlt wird, sobald er eine kostengünstigere Alternative hat.

Rein betriebswirtschaftlich wäre es daher eine riskante Strategie, solche Ansätze zu ignorieren: Das wäre die gleiche Arroganz, mit der die deutsche Industrie lange Zeit erst die fernöstlichen Wettbewerber ignoriert hat und dann die neue Konkurrenz, die ihnen aus internetbasierten Geschäftsmodellen erwuchs. Als man die Canons, Samsungs und Teslas endlich ernstnahm, hatten sie nicht nur längst den Fuß in der Tür, sondern waren in mancher Hinsicht überlegen.

Ignorieren ist daher keine kluge Strategie. Sich auf bloße Beobachtung zu beschränken, auch nicht. Denn wie Laloux' Buch zeigt, haben diese Modelle bereits in etlichen Fällen bewiesen, dass sie funktionieren – und mit erheblichen Motivations- und Kostenvorteilen einhergehen. Die strategische Alternative, vor der Sie also stehen, ist, ob Sie abwarten wollen, ob es einem Ihrer Wettbewerber gelingt, ähnliche Konzepte in Ihrer Branche zum Laufen zu bringen – oder ob Sie lieber dieser Wettbewerber wären.

Allerdings muss man "Reinventing Organizations" dafür nicht von vorne bis hinten lesen. Meine Empfehlung wäre, mit den Abschnitten 2.1 bis 2.3 zu beginnen und danach zu überlegen, ob und wie viel man noch weiterlesen will. Ein Blick in den dritten Teil lohnt sich noch, und unbedingt anschauen sollte man sich auch den kurzen Appendix 3: "Structures of Teal Organizations", in dem Laloux erläutert, was die gängigsten Varianten der Aufbauorganisation von aquamarinen Organisationen sind. Wer danach noch Lust auf mehr hat, möge sich keinen Zwang antun.

Nachtrag: Hürden und Rückschläge

Kurz nach Veröffentlichung dieser Rezension lese ich in der Zeitschrift "ManagerSeminare" 1/2022 ein Interview von Sylvia Jumpertz mit dem Geschäftsführer und zwei "Prozessverantwortlichen" einer Wiener Elektronikfirma, die, so der Vorspann "eine radikale Transofrmation in Richtung Eigenverantwortung und Mitbestimmung vollzogen und sich dabei viel zugemutet (haben). Teilweise zu viel." Die drei sind weit davon entfernt, zu klassischen hierarchischen Strukturen zurückzukehren; dennoch ist in ihren Ausführungen eine deutliche Ernüchterung zu spüren, sowohl was die Entwicklung (und Entwicklungsbereitschaft oder -fähigkeit) der Mitarbeiter betrifft, als auch, was die zugrunde gelegte "Philosophie" betrifft.

Wer darüber nachdenkt, New-Work-Konzepte in seiner Firma einzuführen, sollte dieses Interview lesen: Nicht um sich abschrecken zu lassen, aber um zu wissen, worauf er oder sie sich einlässt und worauf sie gefasst sein sollte. Schließlich muss man nicht jeden Irrweg selbst auszuprobieren, und es ist weniger schmerzlich, aus fremden Erfahrungen zu lernen als aus eigenen.

Schlagworte:
New Work, Entscheidungen, Partizipation, Empowerment, Delegation von Verantwortung, Unternehmenskultur, Eigenverantwortung

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