Pisano rückt ein recht einseitiges Bild von innovativen Kulturen zurecht: Sie sind fordernd, anspruchsvoll und alles andere als eine Oase der Selbstverwirklung. Eine wichtige Klarstellung, wiewohl er meines Erachtens in einem Punkt überzieht.
Über innovative Kulturen grassiert ein Bild, das sie geradezu als emotionales Schlaraffenland erscheinen lässt. Man schreibt ihnen etwa die folgenden Merkmale zu:
"Tolerance for failure, willingness to experiment, psychological safety, highly collaborative, and nonhierarchical. And research supports the idea that these behaviors translate into better innovative performance." (S. 67)
Zu Recht wirft der Harvard-Professor Gary P. Pisano die Frage auf, weshalb sich dann nicht alle Kulturen an diesem Bild ausrichten, wenn Selbstverwirklichung und Erfolg derart Hand in Hand gehen. Doch wenn etwas zu schön klingt, um wahr zu sein, dann ist es meist zu schön, um wahr zu sein. Für Pisano jedenfalls steckt hinter alledem ein fundamentales Missverständnis:
"The easy-to-like behaviors that get so much attention are only one side of the coin. They must be counterbalanced by some tougher and frankly less fun behaviors. A tolerance for failure requires an intolerance for incompetence. A willingness to experiment requires rigorous discipline. Psychological safety requires comfort with brutal candor. Collaboration must be balanced with an individual accountability. And flatness requires strong leadership." (S. 67f.)
Denn wenn die allseits herbeigesehnte "Fehlerkultur" mit Schlampigkeit und intellektueller Nachlässigkeit einhergeht, dann bringt sie Ausschuss hervor statt Innovationen, wenn psychologische Sicherheit unabhängig von der Leistung und dem Verhalten gewährt wird, schafft sie Freiräume für destruktive Gewohnheiten, und wenn Experimentierfreudigkeit plan- und ziellos verfolgt wird, kommt dabei eher das heraus, was Laien unter "moderner Kunst" verstehen, als wettbewerbsfähige neue Angebote.
Die richtige Balance erfordert Gegengewichte
Die vielgepriesenen anstrebenswerten Eigenschaften innovativer Kulturen bedürfen daher ausreichend starker "Gegengewichte", damit sie ihre produktive Kraft entfalten. Und das ist auf den zweiten Blick so überraschend nicht – selten geht es ja im Leben generell und bei Kultur im Besonderen darum, ein Ziel rigoros zu Lasten aller anderen Ziele zu optimieren; in aller Regel liegt die Herausforderung darin, einen gangbaren Mittelweg zwischen einer Vielzahl konkurrierender Ziele zu finden.
Pisanos Charakterisierung innovativer Kulturen entspricht ziemlich genau meiner dringenden Empfehlung für die Beschreibung einer jeden Sollkultur: Man muss unbedingt auch die "unangenehmen" oder zumindest weniger herzergreifenden Anforderungen beim Namen zu nennen, die eine Kultur halt auch erfüllen muss, um den Erfolgsfaktoren des eigenen Geschäfts gerecht zu werden. Wie eben zum Beispiel, zwar fehlertolerant zu sein, aber auf der Basis hoher Leistungs- und Qualitätsstandards.
Denn so richtig es ist, dass niemand "absichtlich" Fehler macht, so richtig ist es auch, dass Fehler allzu oft durch schlampiges Arbeiten, Leichtfertigkeit und/oder durch intellektuelle Bequemlichkeit entstehen. Wer sich nicht ausreichend vorbereitet, nicht sorgfältig genug arbeitet oder Dinge nicht zuende denkt, nimmt Fehler billigend in Kauf und kann sich im Falle des Falles nicht darauf berufen, dass dies keineswegs seine Absicht war.
Auch wer immer wieder Fehler macht, weil er von seiner Aufgabe überfordert ist, trägt damit weit weniger zu Innovationen bei als zu vermeidbaren Kosten. Insofern es sehr nachvollziehbar, wenn Pisano hohe Leistungsstandards und "Intolerance for incompetence" (S. 68) als notwendiges Gegengewicht zu der vielbeschworenen Fehlertoleranz fordert.
Insgesamt kommt man bei diesem Thema kaum an der Unterscheidung von produktiven und unproduktiven Fehlern herum. Produktive Fehler sind solche, die zu neuen Erkenntnissen führen – unproduktiv alle anderen, ganz besonders aber solche, die mit etwas mehr Sorgfalt und Nachdenken vermeidbar gewesen wären.
Insofern geht für ihn auch das Klischee, Fehler zu feiern, am Kern der Sache vorbei: Des Feierns würdig sind allenfalls die neuen Einsichten und Erkenntnisse, die aus Fehlern gewonnen werden (sofern sie sich daraus gewinnen lassen). Ansonsten ist das Feiern von Fehlern ebenso abwegig wie das Feiern von Verlusten: Das größte Fest wäre dann wohl die eigene Insolvenz. Allerdings auch das letzte.
Disziplinierte Experimentierfreude
In ähnlicher Weise muss aus Pisanos Sicht der Experimentierfreude die Disziplin gegenüberstehen:
"Without discipline, almost anything can be justified as an experiment." (S. 71)
Ein Experiment, das diesen Namen verdient, erfordert eine explizite Hypothese, die mit dem Experiment bestätigt oder widerlegt werden soll; sie führt so zu neuen Erkenntnissen. Zielloses Herumprobieren hingegen ist kein Experiment und sollte daher auch nicht gefördert werden.
Sehr überzeugend finde ich einen Ansatz, den Pisano von einem seiner Kunden beschreibt: In einem frühen Stadium fragt man dort nicht nach Belegen für eine Idee, sondern nach den möglichen Konsequenzen: "What if this were true?"
Falls die Idee, sollte sie sich als tragfähig erweisen, von wirtschaftlichen Wert wäre, wird als nächstes von den Teams erwartet, dass sie "Killerexperimente" entwerfen, um falsche Hoffnungen frühzeitig zu zerstören. Das hilft nicht nur, mögliche Irrwege frühzeitig zu erkennen und sich von ihnen zu verabschieden, es macht es zugleich möglich, relativ schnell und kostengünstig eine hohe Zahl von Ideen, auch ausgefallener, auf die Probe zu stellen.
Ein klassisches Problem vieler F&E-Bereiche ist, dass sich Menschen in Ideen verlieben und an ihnen festhalten, auf wenn die ersten Tests gegen sie sprechen. Dann neigen sie dazu, Ergebnisse zu beschönigen oder umzuinterpretieren. Das muss in einer Innovationskultur tabu sein; stattdessen muss von ihnen verlangt werden, ihre Ideen entweder aufzugeben oder von Grund auf zu überdenken, neue Hypothesen zu formulieren und zu überprüfen. Vor allem aber darf es keine Anreize geben, an unhaltbaren Ideen festzuhalten: Ansehen und Karriere müssen allein an erfolgreiche Projekte gekoppelt sein.
Muss Kritik "brutal" sein, reicht nicht absolute Aufrichtigkeit?
Übers Ziel hinaus schießt Pisano nach meiner Auffassung mit der Forderung: "Psychologically Safe but Brutally Candid" (S. 73): Psychologische Sicherheit und "brutale Kritik" sind ein Widerspruch in sich. Aber warum muss die Aufrichtigkeit denn "brutal" sein? Täte es nicht volle oder absolute Aufrichtigkeit auch? "Brutal" wird im Duden als "roh, gefühllos und gewalttätig" bzw. als "schonungslos, rücksichtslos" definiert. Und diese Brutalität verstärkt er mit dem Hinweis: "Criticism is sharp." (S. 74)
Unverblümte Kritik ("unvarnished candor", S. 73) und psychologische Sicherheit (bzw. ein ermutigendes Klima) unter einen Hut zu bringen, ist schwierig genug. Doch sobald die Kritik "scharf" wird und die Aufrichtigkeit "brutal", wird es unmöglich, denn damit ist nicht mehr eine Idee oder Argumentation unter Feuer, sondern der Mensch, der sie vorgebracht hat. Das ist jedoch das genaue Gegenteil von psychologischer Sicherheit, denn es heißt, wenn ich etwas Falsches sage, muss ich damit rechnen, zusammengeschossen zu werden. Also sage ich, wenn ich mir nicht absolut sicher bin, besser gar nichts.
Ich kann Pisano uneingeschränkt folgen, wenn er sagt:
"We all love the freedom to speak our minds without fear – we all want to be heard – but psychological safety is a two-way street. If it is safe for me to criticize your ideas, it must also be safe for you to criticize mine – whether you're higher or lower in the organization." (S. 73)
Und ich folge ihm auch bereitwillig bei seiner Feststellung:
"There is nothing inconsistent about being frank and respectful. In fact, I would argue that providing and accepting frank criticism is one of the hallmarks of respect." (S. 74)
Genau deshalb muss vorbehaltlose Offenheit Schärfe und Brutalität unbedingt vermeiden. Je massiver und unverblümter Kritik ist, desto mehr muss sie von menschlicher Achtung und spürbarer persönlicher Wertschätzung getragen sein, wenn sie nicht die psychologische Sicherheit und das Klima der Ermutigung zerstören soll. Vermutlich ist das der schwierigste Balanceakt überhaupt, wenn man eine innovative Kultur schaffen will; umso wichtiger ist es, hier für absolute gedankliche Klarheit zu sorgen und sie nicht mit dem im Management so beliebten "Jargon der Toughness" zu verwischen.
Zusammenarbeit mit klaren Verantwortlichkeiten
Die letzten beiden Forderungen von Pisano scheinen mir weniger brisant: "Collaboration but with Individual Accountability" (S. 75) und "Flat but Strong Leadership" (S. 77). Auch wenn er abermals in den "Jargon der Toughness" verfällt mit der nicht weiter begründeten Behauptung "Ultimately, someone has to make a decision and be accountable for it" (S. 75).
Auch ohne die durchschimmernde Angst vor einer Verantwortungsdiffusion lässt sich gut begründen, weshalb es bei Innovationen eine oder einen Verantwortliche/n geben sollte. Denn Innovationen müssen von einer durchgängigen Idee getragen sein. Das verträgt sich schlecht mit einem breiten Konsensbildungsprozess, in den jede/r ihre Sichtweise einbringt und aus dem am Ende eine Konsent-Lösung herauskommt, also eine, gegen die niemand mehr grundsätzliche Vorbehalte hat.
Es mag ja sein, dass die Kritiker eine Menge Einwände gegen eine neue Idee haben – und es mag sogar sein, dass sie recht haben. Aber die Idee so lange durchzukneten und zurechtzubiegen, bis auch die schärfsten Kritiker mit dem Ergebnis "leben können", erhöht das Risiko eines Flops, statt es zu reduzieren: Mit hoher Wahrscheinlichkeit nimmt es den Idee einen hohen Teil ihrer Prägnanz und nähert sie bereits vorhandenen Lösungen an.
Umgekehrt ist jede/r, die oder der für eine Innovation verantwortlich ist, klug beraten, sich mit jeglicher Kritik sehr sorgfältig auseinanderzusetzen – und zwar gerade weil sie für sie verantwortlich ist und an ihrem Erfolg gemessen wird. Also sollte sie aus blankem Eigeninteresse alles tun, um kritische Hinweise zu verstehen und auf ihre Tragweite abzuklopfen. Aber am Ende sollte sie alleine entscheiden können, was sie daraus macht, welche Hinweisen sie berücksichtigt und welche sie ignoriert.
Die Sprechblase "Letztlich muss immer eine/r die Verantwortung haben"
Dass immer "eine/r die Verantwortung haben muss", ist eine Sprechblase bei der es einmal an der Zeit ist, die Luft herauszulassen. Letztlich heißt das nur, im Erfolgsfall den Großteil der Anerkennung zu bekommen (und sie sodann artig mit seinem Team zu teilen) und im Fall eines Misserfolgs – nein, den Kopf hinzuhalten, ist schon viel zu dramatisch formuliert, es geht einfach nur darum, beherzt zu seiner Rolle zu stehen: "Ja, ich bin derjenige." Was auch wieder keine so heroische Tat ist, auch wenn dies manchen unglaublich schwer fällt.
Weiter passiert ja in aller Regel nichts, schon deshalb nicht, weil die wenigsten Firmen ein Interesse daran haben, Leute zu feuern, die "bereit sind, Verantwortung zu übernehmen". Zudem hilft Abtauchen auch nur begrenzt: Jemandem, der ein Vorhaben nach dem anderen gegen die Laterne setzt, den rettet es auf die Dauer auch nicht, sich hinter anderen zu verstecken. Insofern ist der stille Entschluss, sich bestimmte Aufgaben und Ergebnisse verantwortlich zu fühlen, wichtiger als alle heroischen Phrasen.
Dennoch machen Pisanos Bemerkungen deutlich, wie sehr wir oft dem Konsens (oder Konsent) hinterherrennen und die Integration aller Meinungen zum Maß der Dinge zu machen – nicht zuletzt auch in New-Work-Ansätzen wie Soziokratie und Holakratie. (Im wohltuenden Kontrast dazu räumt der "Beratungsprozess", den Fréderic Laloux in Reinventing Organizations vorstellt, den Mitarbeitern aller Ebenen die Freiheit ein, Entscheidungen selbständig und ohne jeden Konsens zu treffen, sofern sie sich davor nur mit allen Mitbetroffenen beraten.)
Wahrscheinlich müsste man viel genauer unterscheiden: Bei welchen Entscheidungen ist ein breitestmöglicher Konsens (oder Konsent) tatsächlich von Nutzen, etwa weil die Umsetzung nur dann von allen mitgetragen wird, und wann ist ein breiter Konsens entbehrlich oder sogar schädlich, weil er Entscheidungen verlangsamt und verwässert. Gerade bei Innovationen ist es vermutlich weniger der Konsens, der ihnen zur Durchsetzung verhilft, vielmehr ist es im Gegenteil die erfolgreiche Durchsetzung, die – im Nachhinein – zu einer breiten Akzeptanz führt.
Für Transparenz sorgen und die Balance halten
Abschließend reflektiert Pisani, was es heißt, eine Innovationskultur aufzubauen. Wie er zu Recht feststellt, geht es dabei darum, widersprüchliche Anforderungen unter einen Hut zu bringen – was leicht zu Verwirrung führen kann. Auch wenn es solche Dilemmata nicht nur in innovativen Kulturen gilt, ist die Antwort im Grunde immer die gleiche: Die widersprüchlichen Anforderungen transparent machen und darüber reden, was dies für den konkreten Fall bedeutet.
Noch wichtiger aber ist, und darin sehe ich das große Verdienst dieses Artikels, nicht nur die herzerwärmenden Aspekte der jeweiligen Sollkultur zu thematisieren, sondern auch ihre weniger erfreulichen, aber eben auch notwendigen Seiten klar und deutlich zu benennen. Eben nicht bloß über Fehlertoleranz und psychologische Sicherheit zu reden, sondern auch über "Intoleranz für Inkompetenz" und über vorbehaltlose Aufrichtigkeit.
"Leaders must be very transparent with the organization about the harder realities of innovative cultures. These cultures are not all fun and games. Many people will be excited about the prospects of having more freedom to experiment, fail, collaborate, speak up, and make decisions. But they also have to recognize that with these freedoms come some tough responsibilities. It's better to be up-front from the outset than to risk fomenting cynicism later when the rules appear to change midstream." (S. 79)
Zum Schluss gibt er noch einen bemerkenswerten Hinweis:
"Because innovative cultures can be unstable, and tensions between counterbalancing forces can easily be thrown out of whack, leaders need to be vigilant for signs of excess in any area and intervene to restore balance when necessary. Unbridled, a tolerance for failure can encourage slack thinking and excuse making, but too much intolerance for incompetence can create fear of risk taking. Neither of these extremes is helpful. (…)". (S. 80)
Das ist genau der Kern des Umgangs mit widersprüchlichen Zielen: Dass man nicht auf "Autopilot" schalten kann, sondern immer wieder neu den optimalen oder zumindest einen akzeptablen Weg finden muss, der jedem der konkurrierenden Ziele ausreichend gerecht wird. Das ist anstrengend, nervig –aber letztlich, wie der emeritierte Augsburger Wirtschaftspsychologe Oswald Neuberger treffend festgestellt hat, der Grund dafür, weshalb Führung nicht algorithmisierbar ist.
Nachbemerkung:
Dieser Artikel ist aus meiner Sicht der wichtigste aus der Sammlung "HBR's 10 Must Reads 2021", aber keineswegs der einzige, der die Lektüre lohnt. Anregend fand ich zum Beispiel auch "The Feedback Fallacy" von Marcus Buckingham und Ashley Goodall, in der die Autoren sozusagen die Voraussetzungen eines ermutigenden Klimas wiederentdecken, sowie "Leading a New Area of Climate Action" von Andrew Wilson mit der Ergänzung "Your Company's Next Leader on Climate is … the CFO" von Laura Palmeira und Delphine Gibassier.
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