Der Oltener Professor will einen geradezu naturgesetzlichen Wachstumszwang beweisen, der dem Kapitalismus nach seiner Überzeugung innewohnt. Dass er uns unweigerlich in die Katastrophe führen würde, macht ihm allem Anschein nach keine Sorgen.
"Die Natur setzt dem Wirtschaftswachstum irgendwann einmal Grenzen. Nur sind diese Grenzen so weit weg, dass sie das Wirtschaftswachstum bis heute nicht bremsen. Daran ändert auch die drohende Erderwärmung nichts, welche sich aufgrund der weiterhin steigenden CO2-Emissionen abzeichnet, aber das Wohlbefinden der meisten Menschen bis heute noch wenig beeinträchtigt." (S. 224f.)
Dieser Satz, in einem 2019 erschienenen Buch veröffentlicht, zeigt in beängstigender Weise den Weitblick heutiger Ökonomen – auch mancher "kritischer". Formuliert in einem Jahr, als in Mitteleuropa hitze- und trockenheitsbedingt Wälder abstarben, sich regionale Ernteausfälle häuften und die Zahl der sommerlichen Hitzetage und Hitzetoten stieg. Und zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aufgrund eines fortschreitenden Klimawandels. Man ist geneigt zu sagen: Wenn jemand die Gegenwart nicht mitbekommt, sollte man auf seine Prognosen keine allzu hohen Hoffnungen setzen.
Wachstumszwang heißt implizit Konsumzwang
Genau besehen, mutet schon der Untertitel etwas merkwürdig an: "Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben" – das klingt wie die nüchterne Feststellung eines Forschers, der eine unabänderliche Gesetzmäßigkeit nachgewiesen hat und sich nun zufrieden zurücklehnt, in dem Gefühl, damit seinen Job erledigt zu haben.
Aber Moment mal: War die ursprüngliche Idee, die "Mission" der Ökonomie nicht, den allgemeinen Wohlstand zu mehren? Ein "Weiterwachsen, selbst wenn wir genug haben", funktioniert ja nur unter der Bedingung, dass das Zeug, was da produziert wird, auch konsumiert wird, gleich ob es den Wohlstand noch mehrt oder nicht mehr. Und nötigenfalls auch dann, wenn es ihn mindert: Friss weiter, auch wenn du platzt, sonst bricht die Wirtschaft zusammen!
Mit seinem Wachstumszwang postuliert Binswanger, auch wenn er das befremdlicherweise nicht so direkt sagt, zugleich auch einen Konsumzwang. Denn Dinge zu produzieren, die dann nicht konsumiert werden (oder zumindest gekauft, auf die Nutzung kann aus volkswirtschaftlicher Sicht verzichtet werden), ergibt ja wohl nicht einmal für Ökonomen Sinn. Zumal es den Geldkreislauf unterbrechen würde.
Von einem "Konsumzwang" spricht er jedoch nur in Bezug auf staatliche Vorgaben wie Schulpflicht und Pflichtversicherungen, obwohl die sowohl aus sozialer aus ökologischer Sicht ziemlich unproblematisch sind. Gegen eine verpflichtende Grundbildung oder gegen eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung kann man ja keine ernsthaften Einwände erheben – problematischer könnte man den Zwang finden, über unsere Steuergelder auch Straßenbauorgien und Militärausgaben zu "konsumieren".
Doch der Blick auf die "staatsnahen Dienstleistungen" (S. 155) ist ein Nebenschauplatz und lenkt nur ab von dem eigentlichen Problem: Die Überproduktion von Waren und Dienstleistungen durch die Wirtschaft, die längst nur noch durch künstliche Bedarfsweckung und massiven Werbedruck abgesetzt werden kann – und die dank Produktivitätssteigerungen weiter zunehmen wird. Zugleich erkennen offenbar immer mehr Menschen, dass die Häufigkeit, mit der sie ihr Auto, ihr Handy oder ihre Möbel wechseln, nur sehr begrenzt zu ihrer Lebensqualität beiträgt, und reduzieren ihre Kaufrhythmen entsprechend.
Lassen wir einmal außer Acht, dass die sich abzeichnende "Überproduktionskrise des Kapitalismus", die schon der alte Marx vorhergesagt hat, auch viel mit der Asymmetrie der Einkommensverteilung zu tun hat, sowohl national als auch weltweit: Es ist ja gar nicht so, dass niemand auf der Welt mehr einen Bedarf für zusätzliche Güter hätte – nur sind diejenigen, die noch Bedarf haben, nicht die gleichen wie die, die das erforderliche Geld haben.
Unabhängig davon ist die Frage: Was wird aus Binswangers Wachstumszwang, wenn die sich Nachfrage dauerhaft weigert, mit der Überproduktion mitzuwachsen? Dass dann der Konsumzwang von der "moralischen Bürgerpflicht" zur gesetzlichen Pflicht wird, kann ich mir dann doch nicht vorstellen.
Offensichtlich hat sich der Diener, der die Ökonomie eigentlich für die Menschen sein sollte, unbemerkt zum Herren aufgeschwungen. Folgt man Binswanger, hat der Mensch mit dem Kapitalismus Geister gerufen, die er nun nicht mehr loswird oder nur noch zu einem inakzeptabel hohen Preis, nämlich einer Abwärtsspirale der Wirtschaft. Wie man das so nüchtern und mit einer gewissen (Selbst-)Zufriedenheit konstatieren kann, statt zu einer Revolution oder zumindest zu grundlegenden Reformen aufzurufen, entzieht sich meiner Empathie. Aber die hat, gerade was Makroökonomen betrifft, ohnehin gelitten.
Ein Pakt mit dem Teufel
Dabei hat der Name Binswanger in der kritischen Ökonomie eigentlich einen guten Klang. Der 2018 verstorbene Senior Hans Christoph Binswanger ist mit Büchern die "Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen" (1998) und "Die Wachstumsspirale" (2006) zumindest in der überschaubaren deutschsprachigen "Szene" bekanntgeworden. Auch sein Sohn Mathias, seines Zeichens VWL-Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten, ist sicher kein klassischer Mainstream-Ökonom, der die Endlichkeit unseres Ökosystems kurzerhand ignoriert.
Dennoch hat er sich zum Ziel gesetzt, einen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem innewohnenden Wachstumszwang zu beweisen, ja ihm die Unaufhebbarkeit eines Naturgesetzes zuzuweisen. Er will damit auch die Unmöglichkeit einer "Steady-State Economy" demonstrieren, also einer Gleichgewichtswirtschaft, wie sie ökologische Ökonomen wie Herman Daly, Joshua Farley, Robert Costanza und andere propagieren.
Den ersten Teil seines Buchs verwendet Binswanger deshalb dafür, den von ihm behaupteten Wachstumszwang zu untermauern – zunächst in einer (massiv vereinfachenden) Modellrechnung, dann in einem ebenfalls radikal vereinfachenden hypothetischen Fallbeispiel. Bevor wir darauf kommen, ist es jedoch wert, einige Gedanken aus der Einleitung zu rekapitulieren. Da stellt Binswanger etwa fest:
"In neuester Zeit wird es in den wohlhabenden Ländern in Westeuropa, Nordamerika und Japan zunehmend fraglich, ob das Wachstum noch einen weiteren Beitrag zum Wohlbefinden der Menschheit leistet." (S. 29)
"Tendenziell gilt: Je höher der materielle Wohlstand eines Landes bereits ist, umso weniger trägt ein weiterer Anstieg dieses Wohlstands noch zur Steigerung der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit bei. (…) Dies wäre bereits Grund genug, das Wirtschaftswachstum in hochentwickelten Ländern ökonomisch zu hinterfragen. Denn das Glück, die Zufriedenheit, oder noch wissenschaftlicher ausgedrückt, das subjektive Wohlbefinden der einzelnen Menschen (bzw. Haushalte) bildet letztlich die zentrale Zielgröße in der ökonomischen Theorie, auch wenn es Ökonomen vorziehen, von 'Nutzen' statt von 'subjektiven Wohlbefinden' zu sprechen. Ökonomisch betrachtet, macht Wachstum demzufolge nur so lange Sinn, wie es einen Beitrag zum subjektiven Wohlbefinden leistet." (S. 30)
Doch folgt man Binswanger, geht es uns hier ähnlich wie dem in unzähligen Sagen beschworenen Bauer oder Müller, der zur Mehrung seines Wohlstands (oder zur Abwendung seines Ruins) einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist: Im Tausch gegen materiellen Reichtum hat er ihm seine Seele überschrieben. Und der nun, wo er sein Ende nahen fühlt, verzweifelt nach einer Möglichkeit sucht, aus diesem Deal herauszukommen.
Nur dass der Teufel in diesem Fall der Kapitalismus und das nahende Ende nicht der Tod, sondern die Klimakrise und der Kollaps des Ökosystems ist. Binswangers unerbittliche Antwort: No way – Vertrag ist Vertrag, es gibt kein Entrinnen.
Was lässt sich aus stark vereinfachten Modellen ableiten?
Um es unumwunden zu sagen: Ich habe in Binswangers Argumentation, weshalb unserem Wirtschaftssystem ein unentrinnbarer Wachstumszwang innewohne, keinen offensichtlichen logischen Fehler entdeckt. Ich bin allerdings auch nicht der Experte für dieses Fachgebiet, dem jeder logische Fehler und jede fragwürdige Prämisse mit traumwandlerischer Sicherheit sofort ins Auge springt.
Drei Dinge sind mir dennoch aufgefallen: Erstens, in Binswangers Modellrechnung vergrößert (und verringert) sich die Geldmenge ausschließlich durch Kredite, die im weiteren Verlauf natürlich verzinst zurückzuzahlen sind – was plausiblerweise einen Wachstumsdruck ausübt.
Unberücksichtigt lässt er, dass das Resultat einer wachsenden Wirtschaft nicht nur mehr Konsum, sondern auch ein zunehmender Kapitalstock ist – und dass die Notenbank diesem gewachsenen Kapitalstock eine entsprechend Erhöhung der Geldmenge gegenüberstellen muss. Denn sonst kommt die Wirtschaft ins Stocken, weil selbst bei reichlichem Vermögen und Warenbestand nicht genügend Geld für die Abwicklung von Geschäften zur Verfügung steht.
Das hebt den von Binswanger postulierten Wachstumszwang vermutlich nicht auf, aber es zeigt, dass die Dinge komplizierter sind als sein einfaches Modell – was möglicherweise auch zu unerwarteten Zusammenhängen und Wechselwirkungen führt.
Zweitens sind das alles nur Worte. Binswanger bringt viele Argumente, die jedes für sich plausibel und logisch klingen, aber er tut eines nicht: Er stellt sein Modell nicht auf die Probe. Er macht damit nicht, was Dennis und Donella Meadows und Kollegen schon vor 50 Jahren mit ihrer Limits to Growth-Systemsimulation getan haben: Er lässt seine Modellierung nicht durch den Rechner laufen und schaut, was dabei "wirklich" passiert und welche Wechselwirkungen und versteckten Zusammenhänge dabei zutage treten – schon gar nicht in verschiedenen Szenarien.
Infolgedessen ist alles, was er in dem Buch schreibt, nicht mehr als eine empirisch nicht belegte Theorie: eine Ansammlung von Argumenten, die plausibel und einigermaßen widerspruchsfrei klingen, deswegen aber noch lange nicht vollständig und zutreffend beschreiben müssen, wie sich die Realität wirklich verhält.
Bei so komplexen Themen ist es leicht, sich in seinen Modellen zu verlaufen und zu vermeintlich einfachen "Wahrheiten" zu gelangen, nach dem Motto von H. L. Mencken: "Klar, einleuchtend und falsch." Ja, in der Makroökonomie ist es kaum möglich, kontrollierte Experimente durchzuführen; umso mehr wären Systemsimulation ein Weg, der Realität eine faire Chance gegen die eigenen Annahmen zu geben. Sonst hat man am Ende die (Be-)Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Warum gibt es nur genau einen Gleichgewichtszustand?
Drittens geht Binswanger bei seinem Modellbeispiel von einer (ebenfalls sehr einfachen) Wirtschaft aus, die sich zunächst in einem Gleichgewichtszustand befindet. Dazu erfindet er eine sympathische, wenn auch etwas versoffene Inselgesellschaft, in der es nur Fischer und Gastwirte gibt. Alles, was die Fischer am Tage erwirtschaften und was nicht für den unmittelbaren Lebensunterhalt benötigt wird, bringen sie am Abend in den Kneipen durch.
Verführt durch Berater und ihr eigenes Streben nach Glück steigen die Fischer in ein kapitalistisches Wachstumsmodell ein, dass ihnen reichere Erträge und mehr Wohlstand beschert – und aus dem es, um es kurz zu machen, laut Binswanger kein Entrinnen gibt. Wenn sie auf ihre alten Tage (oder einfach, weil ihnen der erreichte materiellen Wohlstand genügt) das Wachstum zurückfahren wollen, stellen sie fest, dass es ihnen nicht möglich ist, wieder einen Gleichgewichtszustand herbeizuführen. Stattdessen gerät ihre gesamte Wirtschaft in eine Abwärtsspirale, die erst endet, wenn sie ungefähr auf den ursprünglichen Gleichgewichtszustand zurückgefallen ist.
Das erscheint mir nicht logisch: Warum sollte es nur genau einen Gleichgewichtszustand geben – und zwar genau den, an dem sich das Wirtschaftssystem der Insel zufällig am Anfang von Binswangers Gedankenexperiment befand und zu dem es an seinem unglücklichen Ende zurückkehrte?
Dieser ursprüngliche Gleichgewichtszustand ist ja nur eine zufällige historische Momentaufnahme. Man kann weder davon ausgehen, dass genau dieses Gleichgewicht bereits seit Jahrtausenden bestand, noch dass es, sofern sich die Fischer von den Verführungen des Kapitalismus fernhalten, für viele weitere Jahrtausende Bestand haben wird. (Nur zur Einordnung: Die letzte Eiszeit liegt erst 20.000 Jahre zurück, und die steinzeitlichen Fischer vor 10.000 Jahren hatten wohl kaum die gleichen Gerätschaften und Boote wie die heutigen.)
Binswanger sagt nicht, und er leitet auch nicht her, warum es nur genau einen Gleichgewichtszustand geben kann. Und es ist auch nicht ersichtlich, warum das so sein sollte. Falls es aber mehrere mögliche Gleichgewichtszustände gibt, warum sollte es dann nicht auch einen geben, der in akzeptabler Nähe zum heutigen Wohlstandsniveau liegt?
Mangelnde intellektuelle Sorgfalt oder beabsichtigte Manipulation?
Ziemlich unangenehm berührt hat mich die Überschrift des 5. Kapitels "Ein Bespiel aus der realen Welt: Degrowth in Griechenland nach 2008". Unbestritten ist, dass die brachialen Bemühungen, den griechischen Staatshaushalt nach der Schuldenkrise zu 2008 zu sanieren, ein Desaster waren, die bis zum heutigen Tag viel menschliches Leid gebracht und große ökonomische Schäden angerichtet haben.
Unbestritten auch, dass man einen Staatshaushalt nicht sanieren kann wie einen überschuldeten Privathaushalt, nämlich nach den Prinzipien der schwäbischen Hausfrau. Wenn der Staat zu radikalen Sparmaßnahmen greift, seine Ausgaben zusammenstreicht und zugleich Personal entlässt, dann entfällt ein Großteil der Nachfrage, der bislang vom Staat und seinen verstoßenen Dienern ausging – und das löst eine Kettenreaktion aus, die in immer weiteren Spiralen die gesamte Wirtschaft durchzieht und immer mehr mit in den Abgrund reißt.
Doch ist es entweder eine unglaubliche intellektuelle Schlamperei oder eine dreiste Manipulation, die griechische Staatsschuldenkrise und die misslungenen Versuche zu ihrer Bewältigung mit "Degrowth" in Verbindung zu bringen. Denn unter "Degrowth" versteht man das Bestreben, ein als umweltschädlich erkanntes Wirtschaftswachstum zu beenden und es so planmäßig und systematisch wie möglich in eine Gleichgewichtswirtschaft (oder auch in eine bewusst geschrumpfte Wirtschaft) zu überführen.
Was nach 2008 in Griechenland stattfand, war jedoch alles andere als "Degrowth": Es war ein wenig durchdachter, in chaotischen politischen Verhandlungen durchgesetzter Versuch, den griechischen Staat entweder aus der EU zu drängen oder zumindest zur radikalen Sanierung seines Haushalts zu zwingen.
Diese "griechische Tragödie" als Degrowth zu bezeichnen und damit "Degrowth", also eine planmäßige Beendigung des Wachstums zu desavouieren, ist, gleich ob bewusst manipulativ oder nicht, unseriös. Es weckt grundsätzliche Zweifel an der Arbeitsweise des Autors, denn gleich ob Absicht oder mangelnde intellektuelle Sorgfalt: Wie soll man als Leser darauf vertrauen, dass Binswanger an anderer Stelle sorgfältiger und verlässlicher argumentiert?
Vom Naturgesetz zum heilsbringenden Glaubenssystem
Dieses – ich kann es nicht anders nennen – Misstrauen beeinflusst nicht nur meinen Blick auf die nachfolgenden Kapitel, es schlägt auf das gesamte Buch durch. Es mag trotzdem sein, dass Binswanger mit seinem Wachstumszwang recht hat. Aber ich bin mir nicht mehr sicher, in welchem Ausmaß ich seiner Argumentation vertrauen kann: Würden wir es von ihm auch erfahren, wenn es gravierende Einwände gegen den behaupteten Wachstumszwang gäbe oder gar dessen Widerlegung?
Deshalb habe ich auch das nachfolgende Kapitel "Aber es geht doch ohne Wachstum! Argumente gegen den Wachstumszwang" mit einer Portion Skepsis gelesen. Ja, bei manchen Argumenten ist recht naheliegend, dass sie nicht tragfähig sind – zumindest nicht in der Form, wie Binswanger sie wiedergibt. Bei anderen würde ich mir wünschen, als Antwort auf seine Widerlegung zum Beispiel die promovierte Volkswirtin und langjährige BUND-Vorsitzende Angelika Zahrnt oder den renommierten amerikanischen ökologischen Ökonomen Joshua Farley zu hören.
Ähnlich geht es mir auch mit dem neunten Kapitel "Falsche Prophezeiungen über das Ende des Wachstums gestern und heute", das Binswanger mit dem halb stolzen, halb zweifelnden Fazit abschließt: "Ein Ende des Wachstums ist (noch) nicht sichtbar." Ohne auf die Details – und auf die unvermeidliche Kritik an der Limits-to-Growth-Studie des Club of Rome – einzugehen, will ich doch sein für mich ziemlich verwunderliches Fazit im Wortlaut zitieren:
"Letztlich ist die Wachstumsfrage auch eine Glaubensfrage. Solange die Mehrheit der Unternehmen und Haushalte daran glaubt, dass das Wachstum auch in Zukunft weitergeht, werden sie weiter investieren und damit das Wachstum in Gang halten. Dieser Glaube darf deshalb nicht erschüttert werden. Der Wachstumszwang beinhaltet somit auch einen Zwang zum Glauben an zukünftige Wachstumsmöglichkeiten und an die Überwindung aller Wachstumshemmnisse." (S. 230)
Einmal mehr in der Makroökonomie verschwinden hier die Grenzen zwischen (vorgeblicher) Wissenschaft und Religion. Verdammt noch mal, soll der Wachstumszwang denn nun ein Naturgesetz sein oder ist er eine bloße Autosuggestion, die nur hilft, wenn man unerschütterlich an sie glaubt, ohne bei sich oder anderen irgendeinen Zweifel zuzulassen?
"Dieser Glaube ist notwendig, um die Dynamik des Wachstumsprozesses am Laufen zu halten, und darf nicht durch die defätistische Stagnationsfantasien verdrängt werden. Der Kapitalismus braucht Optimisten!" (S. 230f.)
So lasst uns denn, Brüder und Schwestern, niederknien und eine dicke Kerze für das Wachstum entzünden, auf dass es uns in diesen schweren Zeiten nicht im Stich lasse. Und sollte es uns doch im Stich lassen, ist von vornherein klar, dass das daran allein die Defätisten unter uns schuld sind, die nicht fest genug in ihrem Glauben waren. Womit jedenfalls die Schuldfrage geklärt wäre: Sollte das Wachstum einbrechen und die Wirtschaft in eine Krise geraten, liegt das in der alleinigen Verantwortung jener Wachstumskritiker, die den kollektiven Glauben in unverantwortlicher Weise geschwächt haben.
Bürokratie als Arbeitsbeschaffungsprogramm?
Eigenartig berührt hat mich auch das siebte Kapitel "Vollbeschäftigung trotz arbeitssparendem technischen Fortschritt: Bürokratie als Rettung". Darin postuliert Binswanger ernstlich "die Rolle der Bürokratie als Arbeitsplatzbeschaffer" (S. 158): Ihre Funktion besteht angeblich darin, die große und wachsende Zahl der Beschäftigten aufzunehmen, die in der direkten Wertschöpfung aufgrund technischen Fortschritts, Innovationen und Automatisierung nicht mehr benötigt werden.
Auf diese Weise sei es bislang gelungen, einen der "grundlegenden Widersprüche des realen Wachstums im kapitalistischen Wirtschaften" (S. 143f.) abzufangen: Produktivitätssteigerungen machen Personal überflüssig, welches dann allerdings, wenn es kein Einkommen mehr hat, auch als Nachfrager ausfällt. Auf diese Weise grübe sich das Wachstum sozusagen sein eigenes Grab. Bürokratie sei daher "unabdingbar", um "in Zeiten von stark arbeitssparendem technischen Fortschritt weiterhin Vollbeschäftigung garantieren zu können" (S. 161).
Mir erscheint das als eine ziemlich krude These, die Züge einer Verschwörungstheorie hat. Dazu müsste es ja eine planende Instanz geben, die den Produktivitätsfortschritt – und damit das Wachstum – systematisch konterkariert, indem es die nicht mehr für die direkte Produktion benötigten Mitarbeiter in Overhead verwandelt. Binswanger lässt jedoch völlig offen, über welche Mechanismen dies geschehen sollte.
Aber welche Geschäftsführung käme wohl auf die Idee, die mühsam errungenen Produktivitätsfortschritte in der Fabrik dadurch zunichte zu machen, dass sie zum Ausgleich mehr Stellen in Stabs- und Verwaltungsfunktionen schafft? Welcher Gesetzgeber würde sagen: Lasst uns noch ein paar weitere komplizierte Verwaltungsvorschriften schaffen, damit wir genug Arbeit für alle haben?
Die Realität ist: Es gibt überhaupt keinen Mangel an Arbeit. Bei vielen öffentlichen Aufgaben fehlt das Geld, um Personal einzustellen – nicht für Bürokratie, sondern für wertschöpfende Tätigkeiten. Hier könnte man noch eine große Zahl von Menschen sinnvoll beschäftigen, ohne Bürokratie aufzublähen. Auch hier ist das wirkliche Problem nicht, dass es keinen Bedarf für menschliche Arbeitskraft mehr gäbe, sondern dass, ähnlich wie bei der Armut, das Geld für die Finanzierung nicht dort zu Verfügung steht, wo der Bedarf ist.
Die Frage, weshalb Bürokratie in vielen Bereichen zunimmt, ist ein ziemlich großes Fass, das ich in dieser Stelle lieber nicht aufmache. Aber die Vorstellung, dass sie eine gezielte Gegenmaßnahme zu technischem Fortschritt und Produktivitätssteigerung sein sollte und hauptsächlich dazu dient, deren negative Folgen für die Beschäftigung zu kompensieren, erscheint mir dennoch ziemlich weit hergeholt. Bürokratie als Arbeitsbeschaffungsprogramm wäre eine ziemlich fragwürdige Lösung für ein Problem, das es gar nicht gibt.
Immer besser wachsen?
"Können wir das Wachstum immer besser machen?", fragt Binswanger im zehnten und letzten Kapitel – und man wundert sich ein bisschen über das "immer": Großartig ist Wachstum offenbar schon immer, aber es soll trotzdem immer besser, immer besser werden. Denn, so die erwartbare Durchhalteparole:
"Das Wachstum muss weitergehen" (S. 233).
Ja, klar, kennen wir schon, Wachstumszwang und so. Doch noch auf der gleichen Seite artikuliert Binswangers Skrupel:
"Diese Antwort führt allerdings in ein Dilemma. Wir sehen, dass Wachstum die Menschen in hochentwickelten entwickelten Ländern nicht mehr glücklicher macht und mit der Endlichkeit des Planeten Erde in Konflikt gerät. Also, so sagen sich nicht wenige Menschen, könnten wir doch damit aufhören, immer mehr wachsen zu wollen." (a.a.O.)
Da das aus seiner Sicht jedoch nicht möglich ist, wäre es zumindest nett, wenn es sich einrichten ließe, dass dieses Wachstum "möglichst wenig Umweltschäden verursacht und zu keiner Erschöpfung natürlicher Ressourcen führt." (S. 238f.)
Leider halten die Träume von einer Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch, wie auch Binswanger einräumt, nur so lange, wie man die schmutzigen Teile der "Wert"schöpfung außer Acht lässt, die in Entwicklung und Schwellenländer "outgesourced" wurden. Und solange man den "Rebound-Effekt" ignoriert, der schlicht darin besteht, dass die aufgrund eingesparter Verbräuche frei werdende Kaufkraft sich flugs in zusätzlichem Verbrauch an anderer Stelle niederschlägt.
Eine kleine Hoffnung macht Binswanger ausgerechnet bei der Rechtsform von Unternehmen aus. Aktiengesellschaften, so stellt er fest, stünden in Konkurrenz um die Gunst der Shareholder und seien daher bestrebt, den Shareholder Value zu maximieren, auch zulasten sozialer und ökologischer Ziele. Andere Rechtsformen wie Stiftungen und Genossenschaften stünden weniger unter dem Druck, die maximale Rendite zu erwirtschaften, und könnten es sich daher eher leisten, soziale und ökologische Belange zu berücksichtigen, selbst wenn sie zulasten des Wachstums gingen.
Viel Hoffnung macht das indes nicht, zumal Binswanger – erwartungsgemäß – nichts darüber sagt, wie denn diese Überführung von Aktiengesellschaften in Stiftungen und Genossenschaften zu bewerkstelligen wäre. Einen Ausweg aus dem geschlossenen Pakt mit dem Teufel würde es ohnehin nicht eröffnen, allenfalls eine Verschiebung des Tags, an dem die Rechnung fällig wird.
Die Unlösbarkeit des Problems achselzuckend akzeptiert
Unter dem Strich ein Buch, das ein ungutes Gefühl hinterlässt: Kluge, ernstzunehmende Argumente mischen sich mit befremdlichen Aussagen, und die gesamte Diskussion findet statt vor dem Hintergrund eines faktischen Nicht-Ernst-Nehmens der existenziellen Bedrohungen, die Klimakrise, Artensterben und Überlastung des Ökosystems für die Menschheit (und die meisten anderen Arten) bedeuten.
Am Ende ist man so klug als wie zuvor – und einigermaßen ernüchtert: Ja, vermutlich wohnt unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem zumindest ein starker Druck zum Wachstum inne. Doch statt ihn für naturgesetzlich und damit für unabänderlich zu erklären, wären wir besser beraten, mit Nachdruck nach einem Ausweg zu suchen, als achselzuckend dessen Unabänderlichkeit zu akzeptieren.
Einen Nutzen hat mir die intensive Beschäftigung mit diesem Buch dennoch gebracht: Mir ist dabei bewusst geworden dass das Thema Wachstum trotz seiner hohen grundsätzlichen Bedeutung für die nächsten 10, 20 oder 30 Jahre nicht sehr relevant, zumindest aber nicht sehr dringlich ist: Wir haben in den nächsten Jahrzehnten mit der Dekarbonisierung und dem ökologischen Umbau unserer Gesellschaften so unendlich viel Arbeit vor uns, von Gebäudesanierungen über die Verkehrswende bis zum Ausbau der erneuerbaren Energien, dass das nicht nur für (mehr als) Vollbeschäftigung reichen sollte, sondern auch für jede Menge Wachstum.
Die gute Nachricht ist: Ein Wachstum, das unseren CO2-Fußabdruck reduziert, ist aus ökologischer Sicht gut: Selbst wenn es kurzfristig, wie fast alle Innovationen, mit erhöhtem Ressourceneinsatz verbunden ist, entlastet es alsbald (und hoffentlich dauerhaft) das Ökosystem. Dafür werden wir auch jede Menge Innovationen brauchen; an Arbeit wird es den Beschäftigten dennoch nicht fehlen, zumal deren Zahl demographiebedingt rückläufig ist. Fazit: Die theoretische Klärung der Wachstumsthematik bleibt wichtig, aber sie hat in meinen Augen deutlich an Dringlichkeit verloren.
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