Wie die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom gezeigt hat, gibt es eben doch einen dritten Weg neben staatlicher und privater Kontrolle: eine regelbasierte gemeinschaftliche Bewirtschaftung. Für viele kritische Ressourcen ist sie sogar die einzige Chance.
Mark Twain verdanken wir den wunderbaren Satz:
"Nicht, was wir nicht wissen, bringt uns in Schwierigkeiten, sondern, was wir ganz genau wissen, was aber nicht stimmt."
("It ain't what you don't know that gets you in trouble. It's what you know for certain that just ain't true.")
Die vermeintliche Tragik der Allmende
Ein prominentes Beispiel solchen Irr-Wissens ist die Lehre von der "Tragik der Allmende", die vor allem bei studierten Ökonomen sofort wissend die Augen aufleuchten lässt. (MBAs ergänzen eilfertig "… the tragedy of the commons".) Und alle sind felsenfest davon überzeugt, dass man Gemeingüter nur auf zwei Arten vor der Zerstörung durch Ausbeutung und Übernutzung schützen kann, nämlich entweder durch Privatisierung oder durch staatliche Kontrolle.
Klar, einleuchtend, und falsch.
Was mich schon immer wundert, ist, wie immun derartigen Gewissheiten gegen Fakten sind. Es gibt eine Vielzahl von teils historischen, teils bestehenden Allmendsystemen, die gut oder zumindest brauchbar funktionieren. Umgekehrt ist Privatbesitz, wie man etwa in der Land- und Forstwirtschaft beobachten kann, keineswegs ein Schutz vor Raubbau. Wenn Waldbesitzer ihre empfindlichen Böden mit schwerem Gerät ruinieren oder Bauern ihre Felder so malträtieren, dass sie statt Humus nur noch mineralisches Substrat darauf haben, ist das dann eigentlich "the tragedy of private property"?!
Eine gemeinsame Bewirtschaftung gab und gibt es häufig dort, wo sich ein knapper Produktionsfaktor der Privatisierung entzieht – wie etwa Wasser oder karge Sommerweideflächen im Hoch- und Mittelgebirge –, wo aber der Staat viel zu weit weg ist, um praxistaugliche Regelungen zu setzen und vor allem auch durchzusetzen. Trotzdem funktionieren etwa Almen, Waldweiden und "Schachten" seit Jahrhunderten, und Bewässerungssysteme wie die Südtiroler Waale sind nicht nur technische Wunderwerke, sondern erfordern auch ein ausgeklügeltes Regiment – und dessen Durchsetzung.
Richtig ist jedoch: Allmenden / Gemeingüter sind von Ausbeutung bedroht, wenn sich jeder nach Belieben bedienen kann; sie müssen daher konsequent vor Übernutzung geschützt werden. Dies erfordert klare Spielregeln für ihre Nutzer – und deren Durchsetzung, sprich, wirksame Sanktionen gegen Einzelne, die sich nicht an die Regeln halten. Funktionierende Allmenden sind daher Musterbeispiele für regionale Selbstorganisation und Selbstverwaltung, teils relativ jung, teils jahrhundertealt.
Feldforschung statt neoliberaler Ideologie
Die amerikanische Politologin Elinor Ostrom (1933 – 2012) hat bahnbrechende Erkenntnisse darüber erarbeitet, wie, nach welchen Gesetzmäßigkeiten und unter welchen Bedingungen Allmenden bzw. Gemeingüter ("commons") funktionieren. Für diese Leistungen hat sie 2009 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten, genauer, den "Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften", der nicht von dem Sprengstoffkönig Alfred Nobel gestiftet wurde, sondern von der Schwedischen Reichsbank.
Dieses Buch ist eine wissenschaftliche Biographie dieser Forscherin. Sie folgt Ostroms Lebensweg, geht aber vor allem der Entstehung der Erkenntnisse nach, die sie und ihr Ehemann Vincent im Laufe ihrer Forschungen gewonnen haben. Ihr Autor Erik Nordman ist Professor of Natural Resources an der Grand Valley State University in Michigan und offenbar ein Schüler von Elinor Ostrom.
Sein gut lesbarer Text ist es eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich mit Ostroms Denkansatz und ihren wichtigsten Erkenntnissen vertraut zu machen und so zu lernen, wie und unter welchen Bedingungen Gemeingüter entgegen landläufiger Ökonomen-Meinung eben doch funktionieren. Und weshalb sie unter bestimmten (und bestimmbaren) Bedingungen sogar die bessere Alternative sowohl zu einer Privatisierung als auch zu einer staatlichen Bewirtschaftung sind.
Anders als die meisten ihrer Fachkollegen hat Ostrom ihre Erkenntnisse nicht in Studierzimmern und klimatisierten Bibliotheken gewonnen und auch nicht aus der statistischen Analyse vorhandener Datensätze (die es zu diesem Thema nicht gibt). Stattdessen verfolgte sie einen Ansatz, der damals unter Ökonomen und Politologen sehr ungewöhnlich und zugleich etwas suspekt war: Sie machte Feldforschung. Das heißt, sie suchte reale Beispiele auf, wo eine Bewirtschaftung von Gemeingütern erfolgte, und ließ sich vor Ort zeigen und erklären, wie die jeweiligen Systeme in der Praxis funktionierten.
Beispiel Grundwassermanagement
Ein frühes und wegweisendes Beispiel für Ostroms Feldforschung stellt Nordman detailliert vor, nämlich das Grundwassermanagement von Los Angeles. Die Wasserversorgung des westkalifornischen Beckens ist einerseits von zunehmender Trockenheit bedroht, andererseits von Meerwasser, das ins küstennahe Grundwasser einströmt, wenn dort zuviel abgepumpt wird, und die betroffenen Brunnen auf diese Weise dauerhaft ("nachhaltig") unbrauchbar macht.
Privatwirtschaftliche Lösungen für dieses Problem gibt es nicht: Zwar ist es für sämtliche Nutzer eine Katastrophe, wenn das Grundwasser übernutzt wird und versalzt, doch mit individueller Zurückhaltung beim Pumpen schnitte man sich nur ins eigene Fleisch, solange man nicht darauf vertrauen kann, dass sich die anderen ebenfalls zurückhalten. Wer sich in dieser Konkurrenz als Individuum spieltheoretisch "rational" verhält, sichert sich im Gegenteil so viel Wasser, wie er überhaupt verkaufen kann, auch wenn die Summe über diese individuellen Rationalitäten unweigerlich ins Desaster führt. Solange jede/r unkontrolliert pumpen kann, so viel sie oder er möchte, gibt es keinen Anreiz zum Wassersparen.
Die Hoffnungen auf den Staat (bzw. die Kommunalverwaltung) zu setzen, ist wenig aussichtsreich – selbst wenn der Staat, was keineswegs sicher ist, es als seine Aufgabe betrachtet, dieses Problem zu lösen. Denn bevor öffentliche Stellen die Situation ausreichend untersucht und nach Anhörung aller Interessengruppen (und ihrer Anwälte) ein Regelwerk geschaffen und in Kraft gesetzt hat, und bevor über alle Einsprüche und Klagen vermeintlich benachteiligter Interessenten letztinstanzlich entschieden sind, gibt es längst kein salzfreies Grundwasser mehr.
Außerdem ist fraglich, wie öffentliche Stellen die Einhaltung der Regeln kontrollieren und durchsetzen sollten, ohne eine riesige Bürokratie aufzubauen, und wie sie listenreichen Missbrauch unterbinden und misstrauische "Fresskonkurrenten" befrieden sollten. Also verbleibt als einzige Möglichkeit zur Sicherstellung einer langfristig ausreichenden Wasserversorgung, dass die betroffenen Nutzer unter sich einen Weg finden, der ihren Bedürfnissen sowohl individuell als auch als Kollektiv optimal gerecht wird.
Eine Genossenschaft vereinbart Regeln und Maßnahmen
Eine dauerhaft tragfähige Lösung kann sich jedoch kaum darauf beschränken, dass sich die Akteure tief in die Augen schauen und sich in die Hand versprechen, künftig möglichst sparsam mit dem Wasser umzugehen. Solch eine freiwillige, unkontrollierbare Selbstverpflichtung würde die Anreize zum "Trittbrettfahren" nicht beseitigen, also dazu, sich selbst zu Lasten der anderen großzügig zu bedienen – und es würde zugleich misstrauischen Spekulationen Tür und Tor öffnen.
Als sich das Bewusstsein durchsetzte, dass das Grundwasser knapp wurde und irreversibel zu versalzen drohte, gründeten die Pumpwerke 1946 die "West Basin Water Association (WBWA)" mit dem Ziel, den bisher unkontrollierten Wettbewerb um das Wasser durch klare Vereinbarungen zu ersetzen. Den meisten "Pumpern" war klar, dass sie ihren Wasserverbrauch reduzieren mussten; doch eine Untersuchung ergab, dass sie derzeit in Summe etwa das Dreifache der Menge entnahmen, welche die unterirdischen Speicher nachhaltig hergaben.
Statt der erforderlichen Drittelung schlossen sich die meisten von ihnen einer freiwilligen Vereinbarung an, die Entnahme um 25 Prozent zu kürzen. Außerdem sollten diejenigen, die ihre Entnahme stärker senkten, die nicht entnommene Menge an andere Pumpwerke verkaufen können. Zusätzlich beschloss man, Wasser aus dem Colorado River zuzukaufen. Und schließlich sollte das eindringende Meerwasser seit Anfang der fünfziger Jahre durch eine "Frischwasser-Barriere" aus küstennah in den Boden gepumptem Süßwasser zurückgehalten werden: eine wirksame, aber teure Lösung.
Um das alles zu finanzieren, ließ man sich vom kalifornischen Staat die Erlaubnis einräumen, eine "Pumpsteuer" auf das entnommene Grundwasser zu erheben. Hierfür wiederum war es notwendig, umfassende und zeitnahe Daten über die Wasserentnahme zu erheben.
Im Laufe der Zeit entstand so ein komplexes Netzwerk von Institutionen zum Wassermanagement der Region, die weder privat noch staatlich war – und die vor allem funktioniert und bis zum heutigen Tage besteht (à https://www.wbwa.info/about_us): Ein Beispiel dafür, dass die Nutzer einer "Allmende" selbst dazu in der Lage sind, ein System von Regeln zu entwickeln, das ihre gemeinsame Ressource vor der Zerstörung durch Übernutzung schützt. Auch in der heutigen Zeit.
Zahlreiche Beispiele
Nordman lässt zahlreiche weitere Beispiele folgen, und sie zeigen die Bandbreite der Anwendungsfälle für das selbstorganisierte Management von Gemeingütern. Des Öfteren taucht dabei direkt oder indirekt das Thema Wasser auf, das als unverzichtbares Lebenselement im Zentrum vieler Konflikte steht (und in Zukunft wohl noch häufiger stehen wird).
Ein geradezu ehrwürdiges Beispiel ist das "Tribunal de las Aigues", das in der Region von Valencia das letztinstanzliche Schiedsgericht für Wasserstreitigkeiten ist – und zugleich das traditionsreiche Symbol eines hochkomplexen Wassermanagements ist, das dort seit über 1000 Jahren (!) besteht.
Eine neuzeitliche Problemlösung für ein "wassernahes" Gemeingut ist die "Surfer Etiquette", mit der die Surfer der Santa Monica Bay den Zugang zu einer ebenfalls knappen Ressource regeln, nämlich zu attraktiven Wellen. Würde sich jede/r nach Belieben in bzw. auf die Wellen stürzen, brächten sich die Surfer gegenseitig in Lebensgefahr. Also gibt es klare Regeln, die mit einem relativ simplen Mittel durchgesetzt werden, nämlich mit sozialem Druck: Die Community brüllt Leute zusammen, die sich nicht an die Regeln halten, und bringt sie so zur Raison.
Um den Zugang zu Wasser geht es indirekt auch bei der "Maine Lobster Gang". Das ist eine informelle Genossenschaft all derer, die in Maine Hummer fangen. Sie dient dem Zweck, ihre "nachwachsende Ressource" vor Übernutzung zu schützen, indem sie klare Regeln erstens für den Zugang zu den Fangplätzen und zweitens für die Mindest- und Maximalgröße der gefangenen Hummer setzt und durchsetzt. Denn alle verstehen, dass dies langfristig in ihrem eigenen Interesse liegt.
Auch hier dient vor allem sozialer Druck als Sanktionsmechanismus: Zu große oder zu kleine Hummer zu fangen und zu verkaufen, ist für die Mitglieder der "Gang" undenkbar: Damit würden sich in ihrer Gemeinschaft unmöglich machen. Neuankömmlinge, die auf eigene Faust ihre Fallen im Wasser auslegen, müssen bald feststellen, dass die Sicherungsseile zerschnitten wurden und ihre Fallen damit verloren sind. Natürlich kann man bezweifeln, ob das legal ist – kaum anzweifeln lässt sich hingegen die abschreckende Wirkung dieses "alten Brauchtums".
Durchsetzung selbst entwickelter Regeln und Normen
Auch bei anderen knappen Gemeingüter wie Wald und Land gibt es zahlreiche Beispiele für eine erfolgreiche gemeinsame Bewirtschaftung. So hat es in Japan eine lange Tradition, dass Dörfer ihre Ländereien gemeinsam bewirtschaften, auf der Basis eines Systems von Regeln und Sanktionen, das von allen mitgetragen wird. Die Politologin Margaret McKean, die diese japanische "Allmendwirtschaft" erforscht hat, macht vier Bedingungen für ihr Funktionieren aus:
"First, regulations must bear a strong connection to sustaining the commons. Second, the regulations must treat all of the commons users fairly. Third, the penalties must be clear and enforced. Fourth, a graduated system of penalties can bring swift justice for repeat offenders." (S. 86)
Dabei legt McKean Wert auf die Feststellung, dass die Dörfler diese Regelsysteme sowohl eigenständig entwickelt haben als auch selbst durchsetzen; sie sind dafür nicht auf irgendwelche externen Instanzen angewiesen. Die Regeln sind dabei im Detail von Dorf zu Dorf durchaus unterschiedlich; was sie verbindet, ist, dass sie funktionieren und von allen Gemeindemitgliedern mitgetragen werden.
Traditionelle Systeme wie diese werden weitergegeben, indem junge Menschen in sie hineingeboren werden; sie lernen sie kennen als die Art, wie die Welt funktioniert. Aber Regelsysteme können auch neu entstehen, etwa wenn freiwillige Gemeinschaften zum Beispiel neue Formen des Zusammenlebens entwickeln oder erkunden wollen. Dann müssen für alles, was sie gemeinsam nutzen, Regeln entwickeln – und sie stehen vor den gleichen Fragen, nämlich, wie sie eine Übernutzung verhindern und Trittbrettfahrer abschrecken können.
Auf den zweiten Blick sieht man, wie verbreitet das Thema ist: Im Grunde muss ja jedes Paar und jede Wohngemeinschaft Regeln dafür entwickeln, wie sie ihre gemeinsamen Ressourcen nutzen, intakt halten und dabei die Pflichten und Rechte fair verteilen. Dabei ist es normal und unvermeidlich, dass sich Regelsysteme verändern bzw. weiterentwickelt werden, sowohl aufgrund neuer Erkenntnisse und Erfahrungen als auch zur Anpassung an sich wandelnde Werte und Bedürfnisse.
Acht Erfolgsfaktoren
Der gemeinsame Nenner funktionierender Bewirtschaftungssysteme ist, dass sie auf selbstentwickelten, allgemein akzeptierten Regeln und kulturellen Normen basieren, die von der jeweiligen Gemeinschaft sowohl gegenüber ihren Mitgliedern als auch gegenüber Außenstehenden durchgesetzt werden. Hier liegt genau der Unterschied zu ungeschützten Gemeingütern, die der "Tragik der Allmende" zum Opfer fallen: In einer wirklichen Allmende wacht die Gemeinschaft über ihre gemeinsame Ressource und schützt sie vor Selbstbedienung und Ausbeutung.
Das kann funktionieren – oder auch nicht, stellte Ostrom fest:
"Some common property management systems work very well … On the other hand, considerable evidence exists of common pool resource systems that have not been sucessfully managed." (S. 87)
Es wäre also zu einfach, die gemeinschaftliche Bewirtschaftung knapper Ressourcen für ein Patentrezept zu halten, das immer und unter allen Umständen den Erfolg garantiert. Eine unverzichtbare Voraussetzung für den Erfolg ist zum Beispiel, dass die Regelungen sachgerecht sind. Wenn sie mehr Nutzung zulassen als die Ressource auf lange Sicht hergibt, wird das auf die Dauer nicht gut gehen.
Andererseits müssen die Regeln ausreichende Akzeptanz finden: Wenn sie nicht akzeptiert werden, hilft es auch nichts, dass sie sachgerecht sind. Und schließlich muss die Gemeinschaft den Willen und die Macht haben, ihre Regeln auch durchzusetzen – wenn sie das nicht will oder kann, helfen die besten Regeln nichts.
Kein Wunder daher, wenn Ostrom immer wieder betonte, die gemeinschaftliche Bewirtschaftung knapper Ressourcen sei kein Wundermittel, das alle Schwierigkeiten und Konflikte wie von Zauberhand aus der Welt schaffte. Es gebe kein Rezept, das für alle Fälle passt – ihr Management sei unordentlich, chaotisch und nicht selten von Streitigkeiten begleitet. Kein Zufall also, dass sich in Valencia das "Tribunal de las Aigues" herausgebildet hat, das als letztinstanzliches Schiedesgericht für die harten Fälle dient.
Allerdings gibt es Friktionen, wenn man genauer hinschaut, auch bei Privat- und Staatseigentum: Wo Menschen aufeinandertreffen, gibt es halt mal sowohl Meinungsverschiedenheiten als auch Interessenkonflikte. Und genau wie Gemeingüter schlecht bewirtschaftet werden können, gibt es eine schlechte, nicht nachhaltige Bewirtschaftung auch bei Privateigentum und Staatsbesitz.
Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – sind Gemeingüter, klug bewirtschaftet, eine echte Alternative sowohl zu Privat- als auch zu Staatseigentum. Und Ostrom hat immer betont, dass sie nicht bloß ein liebenswertes Relikt aus einer allmählich verblassenden Vergangenheit sind, sondern ein Zukunftsmodell, das seine "ökologische Nische" hat: Diese Form eignet sich genau für jene Fälle, bei denen weder eine private noch eine staatliche Bewirtschaftung sinnvoll möglich ist.
Im Laufe ihrer umfangreichen Feldforschung hat Ostrom acht Gestaltungsgrundsätze für die Bewirtschaftung von Gemeingütern herausdestilliert:
"Ostrom's Eight Design Principles for Managing a Commons
- The physical and social boundaries are clearly defined.
- Locally tailored rules define resource access and consumption.
- Individuals who are most affected by the rules can participate in rule making.
- Resource monitors are accountable to resource users.
- Graduated penalties can be imposed on rule breakers.
- Conflict management instititions are accessible.
- Authorities recognize a right to self-organize.
- Complex systems are organized into layers of nested governance." (S. 65)
Anwendung auf die großen Themen unserer Zeit
Im zweiten Teil des Buches versucht Nordman, die Gedanken Elinor Ostroms auf die großen Themen unserer Zeit anzuwenden: auf die Klimakrise, auf den Umweltschutz, auf den Weltraum sowie auf den Cyberspace. Das ist einerseits naheliegend, weil all diese Dinge ja ebenfalls knappe Gemeingüter sind: Gleich ob Klima- oder Umweltschutz, Weltraumschrott oder Internet, private oder staatliche Lösungen gibt es hier nicht.
Andererseits sind diese Themenfelder geradezu einschüchternd komplex. Während man es bei traditionellen Allmenden, aber auch bei den alltäglichen Regelungen des Zusammenspiels mit einer recht überschaubaren Zahl von Akteuren zu tun hat, bekommt man es bei diesen Themen mit großen Teilen der Weltgemeinschaft zu tun, samt deren politischer, kultureller und weltanschaulicher Diversität – was nicht nur völlig unterschiedliche Sichtweisen einschließt, sondern auch völlig unterschiedliche Neigungen, sich an getroffene Verabredungen auch zu halten.
Deshalb wäre es auch ein Trugschluss zu glauben, globale Gemeingüter wären im Grunde das Gleiche wie die lokalen oder regionalen, an denen Ostrom & Co. ihre Erkenntnisse gewonnen haben. Das beginnt schon bei den schieren Zahlen: Während sich bei "traditionellen" Gemeingütern nur eine überschaubare Zahl von Akteuren verständigen muss, sind es beim Klima oder beim Internet Abermillionen.
"in a local commons, the residents often share the same language, ethnicity, level of income, and other traits. These commonalities are not necessary for sustainable management of a commons, but they help people to understand each other's predicaments. The world, on the other hand, is incredibly diverse. People speak thousands of languages, hold a wide range of political opinions, and earn a wide range of incomes. This diversity makes our world a wonderful place to explore and celebrate, but it does pose a challenge for managing global commons." (S. 155)
Einschüchternd auch, dass es so scheint, als bräuchte man bei diesen Themen einen Konsens aller Beteiligter – oder zumindest der wesentlichen Mitspieler –, um überhaupt eine Chance auf eine Lösung zu haben. Wie soll man zum Beispiel beim Klimaschutz oder der Cybersicherheit auf einen grünen Zweig kommen, wenn China, Russland und/oder die USA nicht mitziehen? Wie soll man auch nur innerhalb der EU bei diesen drängenden Themen vorankommen, wenn jedesmal Einzelne sich jedem Konsens verweigern oder den Einstimmigkeitszwang eiskalt für erpresserische Zwecke zu nutzen?
"Koalition der Willigen" statt kleinster gemeinsamer Nenner
Doch gerade hier entfaltet Ostroms Ansatz sein volles Potenzial, indem er auf "polycentric governance" und "enforcing expectations of behavior" setzt (S. 106). Gerade wenn man nicht auf den Letzten warten will, weil manche Krisen kein langes Abwarten vertragen, oder auch, weil man sich nicht (noch) erpressbar(er) machen will, eröffnet dies die Chance für ein erfolgversprechendes Vorgehen.
Als zum Beispiel die USA den weltweiten Klimakonsens aufkündigten, war das nicht dessen Ende; stattdessen zeigte sich, dass die USA kein monolithischer Block sind, sondern "polyzentrisch": Etliche Staaten, Städte, aber auch Privatunternehmen sprangen in die Bresche und erklärten, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, damit auch die USA einen substanziellen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Das ist "messy" – chaotisch, ungeordnet, dissonant, aber es kann genauso gut oder besser funktionieren wie die Unterschrift, die von einer offiziellen Delegation des betreffenden Staats geleistet wird.
Denn "durchsetzbar" im Sinne von erzwingbar sind solche Vereinbarungen ohnehin nicht, auch wenn sie formal bindend sind. Ihre Wirkung entfalten sie vor allem, wenn und weil die Akteure sich gegenseitig in die Pflicht nehmen, indem sie ihre Erwartungen an das Verhalten sämtlicher Beteiligter unterstreichen. Und zwar auch an jene, die nicht unterschrieben haben, sich dadurch aber nicht von den an sie gerichteten Erwartungen befreien können. Auch für sie geht es letztlich um ihre Reputation in der Staatengemeinschaft, und die ist den allerwenigsten völlig egal, nicht einmal Diktaturen.
Ich empfinde diesen Ansatz als enorme Entlastung von einer stillschweigenden, aber folgenschweren Prämisse, die Ostrom selbst so beschrieben hat: "… many analysts have presumed that an enforceable global agreement is the only way to address the threat of climate change." (S. 111) Genau diese Annahme führt dazu, dass man immer auf den Letzten wartet, allen möglichen Erpressungen nachgibt und sich schließlich unter großen Mühen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt – auch wenn der weit davon entfernt ist, den tatsächlichen Handlungsnotwendigkeiten gerecht zu werden.
Ostrom lehrt uns, dass es auch anders geht, und zwar, auch wenn der Begriff in Verruf geraten ist, indem man eine (ausreichend große) "Koalition der Willigen" schmiedet, sich auf ambitionierte Ziele und Maßnahmen verständigt – und dann einfach loslegt, im Vertrauen darauf, dass dies früher oder später auch diejenigen in Zugzwang bringt, die der Koalition nicht beigetreten sind, aber trotzdem ihren Erwartungsdruck zu spüren bekommen.
Eine perfekte, elegante Lösung ist das natürlich nicht – die Frage ist nur, ob uns bessere Alternative zu Verfügung stehen. Noch einmal Ostrom:
"Self-organized, policentric systems are no panacea! There are no panaceas, however, for complex problems like global warming." (S. 112)
Transparenz ist alles
Im günstigsten Fall kann dabei sogar ein Wettbewerb nach oben entstehen, wenn sich einzelne Staaten (oder andere Akteure) besonders ambitionierte Ziele geben und sie umzusetzen beginnen – und auf diese Weise zeigen, was möglich ist, und die anderen in Zugzwang bringen. Auch hier spielt die Reputation eine entscheidende Rolle, meinte Ostrom:
"Shaming and honoring are very important. A lot of communities have figured out subtle ways of making everyone contribute, because if they don't, people are noticeable." (S. 121)
Trotzdem kann man darüber hinaus auch mit anderen Mitteln nachhelfen, im Falle des Klimaschutzes etwa mit einer "border adjustment tax", die jene Kostenvorteile ausgleicht, die manche Länder bzw. die dort produzierenden Firmen aus besonders laxen Klima- oder Sozialstandards ziehen. Wenn ausreichend viele Länder beim Import eine Steuer erheben, die diese Kostenvorteile beseitigt, stehen die betreffenden Staaten früher oder später vor der Frage, ob sie dieses Geld wirklich in die Staatskassen anderer Länder fließen lassen wollen oder ob sie sie nicht lieber als klimaentlastende Wertschöpfung im eigenen Land aufbauen wollen.
Nordman zitiert Ostrom mit einer Aussage, die sie 2009 in einem Interview machte:
"One of the ways you build trust is monitoring and sanctioning so that people who are not trustworthy are made aware that they have to pay a price. And you may convince them to be trustworthy because they've been monitored. So, they are very closesly linked. If you have absolutely no monitoring and the son of a gun can get away with being son of a gun, slowly but surely you unravel any level of collective action that others have taken. They just get mad." (S. 123)
Transparenz wird so zum absoluten Schlüssel, denn nur sie ermöglicht eine wirksame soziale Kontrolle. Das gilt auch für freiwillige Umweltprogramme – und vermutlich für freiwillige Programme jeglicher Art. Sie können sich beispielsweise auch daraus ergeben, dass Pionierunternehmen einen Club gründen mit dem Ziel, sich höhere Standards zu setzen und sie einzuhalten. Auch solche Programme sind nur so gut, wie sie nachgehalten werden: Wenn die Ergebnisse der einzelnen Firmen transparent sind, entsteht ein "freundlicher Wettbewerb" (S. 147), bei dem es um die eigene Reputation geht.
Guter Einstieg in einen "dritten Weg"
Leider verliert sich Nordman in den letzten Kapiteln etwas in einer Vielzahl von Punkten, die er offenbar auch noch erwähnen wollte, die er aber nicht zu klaren Schlussfolgerungen führt. Klar, es leuchtet ein, dass sowohl der Weltraum als auch der Cyberspace "global commons" (S. 152) sind. Und dass Ostroms Gedanken und Ansätze auch für diese Themenfelder fruchtbar sein können – nur schade, dass diese Früchte in der Fülle von Seitenlinien nicht so richtig greifbar werden.
Aber ich will nicht zu streng sein: Insgesamt ist das Buch eine gute und gut lesbare Einführung in das intellektuelle Vermächtnis von Elinor Ostrom und ihrer Mitforschenden. Hätte Nordman die Kapitel 8 und 9 weggelassen, hätte ich seinem Buch eine sehr gute Bewertung gegeben. Also will ich die Bewertung nicht (wesentlich) verschlechtern, weil sie mit abgedruckt wurden.
Eines weiß ich jedenfalls nach der Lektüre, nämlich dass der Denkansatz von Elinor Ostrom tatsächlich "bahnbrechend" ist, weil der einen dritten Weg zwischen der Hoffnung auf den Markt (Privatisierung) und der auf staatliche oder überstaatliche Regulierung gibt.
Was sich im Prinzip auch auf Unternehmen, Behörden und Non-Profit-Organisationen übertragen lässt: Auch hier gibt es einen mittleren Weg zwischen von oben vorgegebenen, verbindlichen Regeln und der völligen Freiheit und Beliebigkeit des individuellen Agierens, nämlich das Treffen von Verabredungen, die nicht einklagbar sind und an die sich die allermeisten Akteure dennoch gebunden fühlen – auch im Interesse ihrer eigenen Reputation.
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