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Prägnante Einführung in die Komplexitätsforschung

Brockmann, Dirk (2021):

Im Wald vor lauter Bäumen

Unsere komplexe Welt besser verstehen

dtv (München); 240 Seiten; 22 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 8 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 19.06.2022

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Kompetente und gut lesbare Einführung in zentrale Erkenntnisse der Komplexitätsforschung, die leider von einem üblen Fauxpas kurz vor Schluss überschattet wird. Trotz dieses Vorbehalts empfehlenswert.

Manchmal werde ich gefragt, ob bzw. warum ich eigentlich nur noch amerikanische Bücher bespreche und keine deutschen mehr. Aber erstens sind die Bücher, die ich bespreche, keineswegs nur amerikanische, etliche stammen zum Beispiel auch von Autorinnen aus Singapur, Israel oder Bulgarien – nur dass die halt auf Englisch publizieren. Klar, zuweilen gibt es Übersetzungen, aber um die mache ich wegen schlechter Erfahrungen nach Möglichkeit einen Bogen.

Und zweitens habe ich überhaupt nichts gegen deutschsprachige Bücher, sofern sie kompetent und einigermaßen lesbar geschrieben sind – im Gegenteil: Ich bin ein ausgesprochener Fan der deutschen Sprache – jedenfalls sofern einigermaßen kompetent von ihr Gebrauch gemacht wird. Nur ist bei deutschsprachigen Sach- und Fachbüchern die Auswahl halt mal geringer als auf Englisch.

Wiederkehrende Muster erkennen

"Im Wald vor lauter Bäumen" ist ein Beispiel dafür, dass es zuweilen auch auf Deutsch Fachbücher gibt, die ein hohes fachliches Niveau mit einer klaren, gut lesbaren Sprache verbinden. Und vielleicht ist es ja auch ein Indiz dafür, dass es dank wachsender internationaler Vernetzung auch für deutschsprachige Wissenschaftlerinnen nicht mehr rufschädigend ist, in verständlicher Sprache für ein allgemeines Publikum zu schreiben statt nur für Fachjournale – man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben.

Wie der Autor erklärt, zielt die Komplexitätsforschung darauf, Ähnlichkeiten zwischen ganz unterschiedlichen Phänomenen und in den Zuständigkeitsgebieten ganz unterschiedlicher Fachdisziplinen zu erkennen:

"Denn nur Ähnlichkeiten sind bindend. Aus Unterschieden kann man nichts ableiten, man kann sie nur feststellen und aufzählen." (S. 215)

Dies erfordert die Abstraktion von den Besonderheiten des Einzelfalls und das Erkennen von Mustern – was solch ein Buch leicht zu einer ziemlich trockenen Angelegenheit machen könnte. Doch dem Berliner Biologie-Professor Dirk Brockmann, in der Pandemie über sein Fachgebiet hinaus als Modellierer bekannt geworden, gelingt es hervorragend, die wiederkehrenden Muster mit sehr anschaulichen Beispielen aus erstaunlich unterschiedlichen Fachgebieten zu illustrieren.

Das Interessante daran ist: Wenn wir erst einmal – mit Brockmanns Hilfe – die Ähnlichkeiten zwischen völlig unterschiedlichen Welten entdeckt haben, ist die Abstraktion nichts Abstraktes, Abgehobenes, Unzugängliches mehr, sie liegt auf der Hand, ist unmittelbar einleuchtend und stellt erstaunliche Parallelen her.

Wundersame Phänomene

Auf diese Weise führt uns Brockmann unterhaltsam, über weite Strecken geradezu im Plauderton, durch die komplexe Welt der Komplexität – und lässt uns darin wiederkehrende Muster entdecken: Koordination, Netzwerke, Kritikalität, Kipppunkte, kollektives Verhalten, Kooperation – was zugleich die Überschriften der Buchkapitel sind.

Viele dieser Phänomene – Muster – sind wundersam genug, um einen lange ins Grübeln zu bringen. Denn so richtig logisch begreifbar sind sie oft nicht, geschweige denn, mathematisch herleitbar. Das Phänomen der Emergenz zum Beispiel habe ich lange für Voodoo-Geschwätz gehalten: Dass sich bestimmte Muster einfach herauskristallisieren, nicht selten, ohne dass man vorhersagen könnte, welche es zu welchem Zeitpunkt sein und wie sie sich verändern werden, wie etwa beim Flugverlauf eines Vogelschwarms.

Das ist ebenso eindrucksvoll wie rätselhaft. Noch rätselhafter ist, warum in einem schnell und kompakt fliegenden Vogelschwarm weniger Unfälle passieren als im Münchner Feierabendverkehr. Obwohl sich letzterer doch unter der stark komplexitätsreduzierenden Bedingung zweidimensionaler Fahrspuren bewegt, während sich erstere im strukturlosen dreidimensionalen Luftraum koordinieren müssen.

Doch spontane Synchronisation scheint einfach eine – erstaunliche – Tatsache zu sein, die man nur zur Kenntnis nehmen kann, gleich ob es um die Angleichung des Takts von Pendeluhren und Metronomen geht oder um die der Periode junger Frauen, die im selben Studentenwohnheim leben. Dass Lebewesen ihren Rhythmus synchronisieren, ist dabei noch halbwegs vorstellbar, selbst wenn sie nur synchron schnarchen. Aber welcher rational nachvollziehbare Grund sollte Pendeluhren und Metronome, die man doch wohl für unbelebte Materie halten würde, dazu veranlassen, sich zu synchronisieren?

Spontane Synchronisation

Hat man diese Tendenz zur spontanen Synchronisation erst einmal akzeptiert, wirft sie beinahe zwangsläufig die Frage auf, an wie vielen Stellen im Leben wir uns einfach in den Rhythmus unserer sozialen Umgebung hineinsaugen lassen – und wieviel Autonomie wir in unserem Handeln wirklich besitzen. Weiß der Teufel, wo wir uns sonst noch unserer Mitwelt anpassen, ohne es zu bemerken, und in welchem Ausmaß unser scheinbar so freies, überaus individuelles Handeln ein bloßes Echo unserer Umgebung ist.

Nimmt man etwa gängige Floskeln zum Maßstab – wie etwa, dass derzeit überall von "Narrativen" und "Erzählungen" die Rede ist, wo man noch vor ein paar Jahren in kollektiver Anlehnung an Thomas Kuhn von "Paradigmen" sprach und davor von "Konstrukten", davor von "Theorien" oder "Denkmodellen" –, sind wir wahrscheinlich alle eher Trendfollower als Trendsetter. Sprich, wir plappern in der subjektiven Illusion völliger gedanklicher Freiheit mit, was man halt derzeit so plappert.

Aber warum machen wir das, und warum machen wir es mit? Eine mögliche Erklärung könnte sein, schreibt Brockmann am Beispiel von Börsenmaklern, "dass die synchronisierten Personen durchschnittlich höhere Gewinne erzielten als die Kolleginnen und Kollegen, die am Synchronisationsprozess seltener teilgenommen hatten." (S. 63) Oder, allgemeiner gesagt, dass es im Durchschnitt mehr Vorteile bringt, mit dem Kollektiv mitzuschwimmen, als sich gegen den Strom zu stellen.

Wer heute von "Narrativ" redet, findet mehr Anklang, als wer störrisch an aus der Mode gekommenen Begriffen wie Paradigma oder Theorie festhält. Mit anderen Worten, die Evolution belohnt, wie jede Diktatur, die schnelle Anpassung an veränderte Spielregeln, gleich wie sinnvoll und rational begründet sie sind. Was allerdings immer noch nicht beantwortet, wieso sich Pendeluhren und Metronome synchronisieren. Doch so rätselhaft die Gründe sind, sie tun es, das muss man einfach, wenn auch kopfschüttelnd, zur Kenntnis nehmen:

"Synchronisation ist ein fundamentaler Naturprozess, bei dem aus einem Chaos und Durcheinander von selbst eine kollektive, dynamische Ordnung entstehen kann. Ganz von selbst, ohne eine ordnende Hand." (S. 68)

Eine Welt aus Netzwerken

Seit Malcolm Gladwells Tipping Point wissen wir, dass jeder Mensch auf dieser Welt mit jedem anderen Menschen über maximal sechs "Kontaktpersonen" bzw. Netzwerkknoten verbunden ist. Diese verblüffende Nähe zu völlig fremden Personen in ganz anderen Kulturkreisen erklärt sich auch dadurch, dass nicht jeder Mensch die gleiche Zahl von Kontakten hat: Die meisten haben relativ wenige, einige hingegen sind mit sehr vielen anderen vernetzt und damit die idealen "Mittelsfrauen" (oder -männer).

Wie sich spätestens in der Pandemie herausgestellt hat, haben diese besonders gut vernetzten Menschen vielfältige Effekte, auch unerwünschte: Bei Infektionskrankheiten werden sie plötzlich zu "Superspreadern" – nicht, weil sie etwas Böses oder Unerlaubtes täten, sondern einfach, weil sie viele Kontakte haben und deshalb die idealen Vehikel für virale Trittbrettfahrer sind.

Genau deshalb war es auch eine hochwirksame Maßnahme der Pandemiebekämpfung, die Zahl der Personen zu beschränken, die sich treffen durften: So wurden die Superspreader schnell und wirksam heruntergeregelt. Umgekehrt wären diese Zentralknoten auch die idealen Kandidaten für Impfungen: Wenn es gelänge, sie als Überträger von Viren auszuschalten, hätte man deren Verbreitung sehr effektiv eingedämmt.

Der "Durchmesser" von Netzwerken lässt sich bestimmen – und zwar als die durchschnittliche Zahl von Kontakten vom einen bis zum anderen Rand. Und sie haben auch eine Geschwindigkeit. Während sich die Pest im 14. Jahrhundert noch im Schritttempo mit nur etwa 5 Kilometer am Tag ausbreitete, war die Corona-Pandemie gewissermaßen mit dem Flieger unterwegs und schaffte mehr als 500 Kilometer am Tag. Entsprechend schrumpften Vorwarn- und Reaktionszeiten. Nachrichten, aber auch Fehlinformationen und Verschwörungstheorien sind noch schneller unterwegs und schaffen es in der gleichen Zeit rund um die Welt und zurück.

Aber Netzwerke verbinden nicht nur Menschen – sie sind universell: Delphinschwärme, Nervensysteme, Flugverkehrsnetze, Internetknoten, Kryptowährungen … Trotzdem haben sie erstaunliche Gemeinsamkeiten: Die Vernetzung der Knoten ist nicht normalverteilt, nicht einmal ansatzweise, sondern folgt dem Potenzgesetz. Das heißt, in jedem Netzwerk gibt es einige wenige "Hubs" (Naben), an denen sehr viele Knoten hängen, und Speichen, die wesentlich weniger Verbindungen haben, auch wenn einige von ihnen als "Sub-Hubs" fungieren. Brockmann bezeichnet solche Strukturen als "skalenfreies" Netzwerk.

Kritikalität und Kipppunkte

"Erstaunlich viele natürliche und gesellschaftliche Prozesse finden an kritischen Grenzen statt und teilen einige wesentliche Eigenschaften, obwohl sie oberflächlich ganz unterschiedlich erscheinen. Mehr noch, sie entwickeln eine intrinsische Kritikalität, ganz von selbst. Erdbeben, Epidemien, die neuronale Aktivität im Gehirn, Waldbrände, das Wachstum der Schneeflocken, Mode, Terrorismus und das Leben selbst sind dynamische Prozesse, die sich immer an kritischen Schwellen entfalten." (S. 96)

Wir haben das zuletzt bei der Pandemie erlebt, wo der vielbeschworene R-Wert die ganze Zeit um die 1 pendelte – teils etwas darüber, kam teils knapp darunter. Man kann sich allerdings fragen, ob dahinter tatsächlich ein geheimnisvolles Naturgesetz steht, das komplexe Systeme um ihren kritischen Punkt herum pendeln lässt, oder ob das ein schlichter Selektionsprozess ist: Dynamische Entwicklungen, deren R-Wert deutlich unter 1 liegt, fallen in sich zusammen; liegt der R-Wert deutlich über 1, brennen sie durch. Von einem Feuer bleibt dann im einen Fall nur ein Aschehaufen und im anderen ein angekokelter Holzstoß; ein sich langsam ausbreitender Schwelbrand ist nur bei einem R-Wert nahe 1 möglich.

Insofern finde ich es nicht so verwunderlich, dass viele komplexe dynamische Systeme, wie Brockmann schreibt, "ihren kritischen Punkt zu 'suchen' scheinen" bzw. "ohne jeglichen äußeren Einfluss an ihre kritischen Punkte 'bewegen' und dort verharren." (S. 98) Denn diejenigen, die das nicht tun, verschwinden rasch von der Bildfläche, es passiert entweder gar nichts oder gleich eine Explosion, nach der aber dann Schluss ist und wieder Ruhe einkehrt. Nur die, die ihren kritischen Punkt umtanzen, bleiben lange genug bestehen, um ihre Betrachtung und Untersuchung zu ermöglichen.

Viele dieser Systeme werden um ihren kritischen Punkt herum offenbar "unruhig" und weisen starke Schwankungen auf. Hier können Kipppunkte liegen, von denen aus sich die Systeme bei Überschreiten einer Schwelle unter Umständen irreversibel in die eine oder in die andere Richtung bewegen.

Die dabei erreichten Endpunkte sind meistens sehr stabil, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entwicklung hin zu ihnen nicht zwingend ist. Vielmehr handelt es sich oft um eine "Multistabilität", sprich, es gibt verschiedene denkbare Endzustände, die alle sehr stabil sind, aber dabei so unterschiedlich sein können wie ein immergrüner Regenwald und eine Wüste.

Die Emergenz von Schwarmverhalten

Interessant ist, dass sich Schwarmverhalten, also das kollektive Verhalten von Individuen, mit relativ simplen Regeln mathematisch simulieren lässt – und dass in der Simulation die gleichen Phänomene zutage treten wie man sie in der Realität beobachtet. Sofern sich die bewegten "Schwarmteilchen" gegenseitig beeinflussen und ihre Dichte groß genug ist, "bildet sich nach kurzer Zeit ein Schwarm, der eine kollektive Richtung hat, die sich nur langsam ändert." (S. 155)

Wenn die Teilchen darüber hinaus durch Ausweichen Kollisionen vermeiden, aber zugleich die Nähe zu ihren Nachbarn suchen, entwickeln sie im Modell

"drei charakteristische Schwarmzustände: Erstens den sogenannten laminaren Zustand, bei dem nahezu alle Individuen kollektiv in eine Richtung schwimmen bzw. fliegen, zweitens den Wirbel- oder Mühlenzustand, bei dem sich die schwärmenden Teilchen in einem Kreiswirbel bewegen, drittens den chaotischen Schwarm, der an einen Mückenschwarm erinnert: die Teilchen bewegen sich zwar zufällig, bleiben aber zusammen." (S. 156)

Wie das Computermodell zeigte, erfolgt der Wechsel zwischen diesen Zuständen zufällig und spontan, ohne dass dafür ein Auslöser erforderlich ist: "Es ist also zwangsläufig und eine emergente Eigenschaft des kollektiven Verhaltens." (S. 156) Mit anderen Worten, das Kollektiv als Ganzes ändert sein Verhalten allein deswegen, weil die Einzeltiere auf das Verhalten ihrer unmittelbaren Nachbarn reagieren und die wiederum auf das Verhalten ihrer Nachbarn. Einen identifizierbaren "Auslöser" gibt es dabei ebenso wenig wie ein "Leittier", einen "Anführer" oder jemanden, der den Gesamtüberblick hat.

In ähnlicher Weise reagieren Schwärme auch auf tatsächliche oder vermeintliche Angriffe: Die Tiere, die sich bedroht fühlen, weichen der Gefahr aus und veranlassen damit ihre Nachbarn, ebenfalls auszuweichen. Das pflanzt sich fort, sodass sich letztendlich die Dynamik und Richtung des gesamten Schwarms verändert.

Berechenbare Menschenmassen

Die Dynamik von Menschenmassen macht hiervon keine Ausnahme. Ab einer gewissen Dichte bilden sich Richtungsspuren, und die Geschwindigkeiten gleichen sich an.

"Lässt man im Modell alle Fußgänger in eine Richtung laufen und erhöht die Fußgängerdichte, bleibt die Geschwindigkeit der Masse zunächst konstant. Wird aber eine kritische Dichte erreicht, fällt die Gesamtgeschwindigkeit abrupt und sehr stark. Es gibt keine stetige Verlangsamung, keinen 'stockenden Verkehr', sondern sofort Stau." (S. 161)

Bei weiter wachsender Dichte wird es gefährlich: Es kommt zunächst zu dem bekannten und unbeliebten Stop-and-Go-Verkehr, in dem sich Staus entgegen der Bewegungsrichtung nach hinten ausbreiten, und dann zu der sogenannten "Crowd-Turbulence", die immer wieder zu Katastrophen führt.

"Die Menschenmasse verhält sich plötzlich wie eine chaotische Flüssigkeit, und durch extrem starke Druckschwankungen werden Teile der Masse mit vergleichsweise hoher Geschwindigkeit hin und her bewegt." (a.a.O.)

Faszinierend finde ich bei alledem, dass diese Stauungen keine konkrete Ursache benötigen. Engpässe helfen zwar, doch ab einer gewissen Dichte geht es auch ohne – weil Ihro Emergenz es so will.

Aufschlussreich auch, dass dieses Erklärungsmodell ohne Massenpsychologie, Massenpanik und andere Kausalspekulationen auskommt: Was geschieht, "emergiert" einfach, wenn die Dichte zu hoch ist, und die Panik kommt hinterher bzw. als "Begleitemotion". Das ist ein fundamentaler Unterschied: Natürlich reagieren viele Menschen panisch, wenn es in einer Menschenmasse zu einem Gedränge kommt, aber die "Massenpanik", von der später in der Zeitung steht, ist nicht die Ursache der allfälligen Katastrophe, sondern nur die Folge.

Doch nicht nur über Bewegungsmuster im (physischen) Raum liefert die Komplexitätsforschung neue und teilweise überraschende Erkenntnisse, sondern auch über Bewegungsmuster im "geistigen Raum", sprich, über Meinungsbildung und Entscheidungsprozesse. Dies kann auch zu einem besseren Verständnis von Großgruppenprozessen, Social Media und gesellschaftlichen Entwicklungen beitragen, wie etwa dem "Einbremsen" dominanter Meinungsführer in Großgruppen oder der Entstehung von "Echo­kammern", wie es sie vor den Social Media nicht oder zumindest nicht in gleichem Ausmaß gab.

Während der Großteil der Gesellschaft früher die gleichen Quellen (wie zum Beispiel die Tagesschau) genutzt, sie nur unterschiedlich bewertet hat, suchen wir uns heute die Quellen (und "Fakten"), die unsere Meinung bestätigen. Kein Wunder also, wenn die Polarisierung zunimmt und die Verständigung über Lagergrenzen hinweg immer schwieriger wird.

Befremdlicher Patzer bei der Symbiose

Einem irritierenden Fehlgriff leistet sich Brockmann im Kapitel über Kooperation. Darin kritisiert er zunächst zu Recht, wenn auch etwas wohlfeil den verbreiteten Sozial- bzw. Vulgärdarwinismus, für den es im Leben nur um "Fressen oder Gefressen-Werden" geht, und er stellt dem entgegen, in welchem Ausmaß sowohl das menschliche Leben als auch das der meisten anderen Arten auf Kooperation basiert.

Als führender Forscherin auf diesem Gebiet hebt er dabei die amerikanische Biologin Lynn Margulis hervor, die die Symbiogenese als essenziellen Mechanismus bei der Entstehung der Arten erkannt und empirisch belegt hat. Ihr stellt er als "böse Buben" die prominenten Biologen Richard Dawkins und John Maynard Smith gegenüber:

"Margulis erkannte in den 1960er Jahren als eine der Ersten, dass symbiotische Beziehungen, Mutualismus und Zusammenarbeit verschiedener Organismen in einem Geflecht sowie Wechselwirkungen das dominante Prinzip in der Natur sind. Sie bildet damit einen Gegenpol zu den klassischen Neodarwinisten wie Richard Dawkins und John Maynard Smith, die den Fokus auf das Individuum und den klassischen Gedanken des 'Survival of the Fittest", den Kampf ums Überleben und den Wettstreit der Arten um Ressourcen legten. Richard Dawkins wohl bekanntestes Buch 'Das egoistische Gen' belegt das." (S. 195)

Macht man sich die Mühe, nachzulesen, was Richard Dawkins in The Selfish Gene (1976) wirklich geschrieben hat, stellt man verwundert fest, dass er die Gedanken seiner vermeintlichen Gegenspielerin Margulis ausführlich und zustimmend zitiert. Nachdem er das Zusammenspiel von Ameisen und Blattläusen zum beiderseitigen Nutzen vorgestellt hat, stellt er fest:

"A relationship of mutual benefit between members of different species is called mutualism or symbiosis. Members of different species often have much to offer each other because they can bring different 'skills' to the partnership. This kind of fundamental asymmetry can lead to evolutionary stable strategies of mutual cooperation. (…) Symbiotic relationships of mutual benefit are common among animals and plants." (S. 181)

Dawkins ist ausgesprochen fasziniert von dem Gedanken, höhere Arten könnten "Joint Ventures" unterschiedlicher Ursprungsarten sein, die zunächst eng und zum beiderseitigen Nutzen kooperiert haben, im Zuge dieser Symbiose schließlich manche eigenen Funktionen aufgaben und schließlich gänzlich verschmolzen:

"Recently, it has been plausible argued that mitochondria are, in origin, symbiotic bacteria who joined forces with our type of cell very early in evolution. (…)" (S. 182)

Zwei volle Kapitel seines Buches und 57 Druckseiten verwendet Dawkins darauf, sowohl die Kooperation zwischen Arten als auch die innerhalb von Arten kenntnis- und beispielreich darzustellen. Auch eine Kapitelüberschrift wie "Nice Guys Finish First" (im provokativen Kontrast zu der sozialdarwinistischen Redensart "Nice guys finish last") spricht nicht gerade dafür, dass er ein glühender Verfechter eines Kampfs jeder gegen jeden wäre. Den von Brockmann (zu Recht) hervorgehobenen Satz Stuart Kauffmans "All evolution is coevolution" (S. 190) würde Dawkins wohl auf der Stelle unterschreiben.

Mit anderen Worten, den von Brockmann konstruierten Gegensatz zwischen Dawkins und Margulis gibt es überhaupt nicht; im Gegenteil: Dawkins macht sich ihre Kernargumente zu eigen und geht über sie hinaus. Umso mehr ist unverständlich, wie Brockmann schließlich zu dem Ad-personam-Angriff (man könnte auch sagen, Foul) kommt:

"Hier Dawkins, ein glühender Verfechter einer Theorie, der alle empirische Evidenz, die seine Theorie stärkt, berücksichtigt und Evidenz, die dagegen hält, ignoriert. Da eine Wissenschaftlerin, die zunächst ganz nüchtern beobachtet, feststellt, was existiert, und erst dann eine Theorie entwickelt, die die Sachlage erklärt." (S. 196)

Empfehlung trotz Vorbehalt

Ich finde solch einen Missgriff sehr bedauerlich, gerade in einem Buch, das ich ansonsten für sehr lehrreich und seriös halte. Und ich will Brockmann auch keine böse Absicht unterstellen, eher vermute ich, ist dass er als studierter Physiker, auch wenn er jetzt an einem Institut für Biologie lehrt, die biologische Basisliteratur nicht restlos resorbiert hat. Aber es hilft nichts: Bevor man einen Autor niedermacht, sollte man seine Arbeiten kennen, zumindest aber die, auf die man explizit Bezug nimmt.

Ohne diesen Fauxpas hätte ich Brockmanns Buch noch deutlich höher bewertet, zumal es wirklich informativ und gut geschrieben ist. So komme ich um eine Abwertung nicht herum, spreche aber trotz des Vorbehalts eine Empfehlung aus.

Auch wenn mich ein weiterer Punkt verwundert, nämlich dass Brockmann keinerlei Bezug zu der amerikanischen Systemforschung um Jay W. Forrester herstellt, auf der zum Beispiel die berühmte Studie Limits to Growth von 1972 basiert. Das Buch Thinking in Systems der LtG-Koautorin Donella Meadows hätte nicht nur einen Ehrenplatz in der Ahnengalerie der Komplexitätswissenschaft verdient, sondern liefert auch heute noch wertvolle Gedanken und Denkansätze.

Schlagworte:
Komplexitätsforschung, Komplexitätswissenschaft, Systemforschung, Netzwerke, Emergenz, Schwarmverhalten, Kooperation, Soziobiologie

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