Ein ebenso brillantes wie anregendes Buch, bei dem ich eigentlich nur eines bedauere: Dass ich es nicht schon viel früher gelesen habe. Denn es ist schon 1983 erschienen und steht seit dieser Zeit in meinem Bücherregal. Aber was sind schon 20 Jahre.
Objektive Aussagen zum Verhältnis der Geschlechter sind schwierig, da wir alle unweigerlich und unabänderlich Partei sind. Das Argument, man sehe das alles eben aus seiner männlichen (oder weiblichen) Perspektive und könne die jeweils andere Sichtweise grundsätzlich nicht verstehen, ist wohlfeil, aber nicht zu widerlegen – führt jedoch in eine unauflösbare Aporie, die an Wittgensteins Diktum gemahnt: "Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen."
In dieser Sackgasse eröffnet es eine neue und attraktive Perspektive, das Verhältnis der Geschlechter einmal nicht auf anthropozentrische Themen wie Zuhören und Einparken zu reduzieren, sondern ihm aus einer soziobiologischen Perspektive nachzuspüren: Wozu gibt es überhaupt zwei Geschlechter? Welchen evolutionären Nutzen bringt dies für die Arten, die diesen Weg eingeschlagen haben? Welche Spielregeln leiten sich aus den Geschlechtsunterschieden ab, und welche Strategien sind für das jeweilige Geschlecht optimal?
In sorgfältigen und bedächtigen Schritten bauen Wickler und Seibt das Thema auf. Das Kapitel "Der erste Schritt: Das Entstehen der Sexualität" konfrontiert den Leser mit der ernüchternden Erkenntnis, dass der eigentliche Zweck der Sexualität weder Spaß noch Fortpflanzung ist, sondern der, genetisches Material zwischen Individuen auszutauschen, um auf diese Weise Variabilität zu erzeugen und so besser auf sich verändernde Umweltbedingungen vorbereitet zu sein. Erst der zweite Schritt war "Die Entstehung der sexuellen Vermehrung" (Kapitel 4), an die sich als ein dritter Schritt "Die Entstehung von zwei Sorten von Geschlechtszellen" (Kapitel 5) anschließt. Das klingt alles sehr abstrakt, wird aber von den Autoren gut nachvollziehbar entwickelt und mit zahlreichen Beispielen von Tierarten illustriert, von deren Existenz man bis dato nichts geahnt hatte.
Nach zwei weiteren Kapiteln über "Doppelgeschlechtliche Lebewesen" und "Die Trennung der Geschlechter" beginnt man zu ahnen, dass dieses Thema noch verzwickter ist als man befürchtet hatte. Etwas Ordnung in die aufkommende Verwirrung bringt das 7. Kapitel über "Die verschiedenen Geschlechtsfunktionen" – allerdings um den Preis zusätzlicher Komplexität. Es untersucht die "verschiedenen Tätigkeiten der Geschlechter zur Maximierung ihres jeweils eigenen Fortpflanzungserfolgs" (S. 91).
Damit liegt der Interessenskonflikt zwischen den Geschlechtern offen auf dem Tisch: Zwar haben beide Geschlechter das übereinstimmende Interesse, ihre Gene an möglichst viele Nachkommen weiterzugeben, aber die Strategien dazu unterscheiden sich grundlegend, weil die Ausgangslagen unterschiedliche sind: Da Spermien in unbegrenzter Zahl produzieren werden können, sind Eier der Engpassfaktor; infolgedessen werben Männchen um Weibchen und nicht umgekehrt. Weibchen können weniger Nachkommen bekommen als Männchen – insbesondere bei brutpflegenden Arten. Dafür können Weibchen wegen des "Sperma-Überschusses" sehr viel sicherer sein als Männchen, überhaupt Nachwuchs zu haben. Da längst nicht alle Männchen benötigt werden, um alle verfügbaren Eier zu besamen, haben Männchen ein sehr viel höheres Risiko, ohne Nachwuchs zu bleiben, also auszusterben. Infolgedessen ist die Konkurrenz unter Männchen sehr viel höher als unter Weibchen.
Im 8. Kapitel "Der Schritt zur Familie" wird der nächste Interessenkonflikt deutlich: "Alle Brutpflegetätigkeiten kosten den, der sie ausübt, Zeit und Energie und bringen oft auch Risiken für Gesundheit und Leben mit sich (falls etwa Eier und Junge gegen Feinde verteidigt werden)." (S. 131) Sofern ihre Nachkommen allein mit der Pflege des Weibchens überleben können, ist es für die Männchen (bzw. die Verbreitung ihrer Gene) lohnender als eigene Beiträge zur Brutpflege, sich vom Acker zu machen und mit anderen Weibchen weitere Junge zu zeugen. Dies umso mehr, als sich Männchen – "pater semper incertus" – bei der Brutpflege nie ganz sicher sein können, tatsächlich in die eigenen Nachkommen zu investieren. Deshalb haben Weibchen im Laufe der Evolution zwei "Tricks" entwickelt, um Männchen an sich und an ihre Brut zu binden: Zum einen das Maskieren des Eisprungs (um auf diese Weise die männliche "Hit-and-Run"-Strategie zu durchkreuzen), zum anderen das Fordern von Vorleistungen (das für die Männchen Aufwand und "Kosten" eines Partnerwechsels erhöht). Besonders "treuefördernd" wirken Vorleistungen dann, wenn sie nur vor der ersten gemeinsamen Brut verlangt werden.
Doch Interessenkonflikte gibt es keineswegs nur zwischen den Geschlechtern: Neben den erwähnten Männerrivalität zeigt die Soziobiologie auch gegensätzliche Interessen zwischen Eltern und Kindern auf: Um möglichst die nächste Brut in die Welt setzen zu können, haben die Eltern das Interesse, ihre Brutpflege zu beenden, sobald ihre Nachkommen aus eigener Kraft überlebensfähig ist. Dagegen ist es für die Kinder vorteilhaft, sich möglichst lange von ihren Eltern umsorgen und beschützen zu lassen – und sich infolgedessen unreifer zu geben als sie sind. Erst bei der letzten Brut alternder Eltern ändert sich dies: Dann lohnt es sich für die Eltern, all ihre Kraft in die Zukunftschancen ihrer Letztgeborenen zu stecken – Nesthäkchen im Tierreich.
Im 9. Kapitel schließlich kommen Wickler und Seibt zu "Geschlechtsfunktionen und Geschlechter-Rollen beim Menschen". Darin erläutern sie u.a. die soziobiologischen Hintergründe von Doppelmoral, Mütterbelastung, Stiefeltern, Avunkulat und Zölibat. Besonders spannend die Rolle der "weisen Frau", aus der sich nebenbei auch die Menopause erklärt, die offenbar keineswegs aus körperlicher Erschöpfung entsteht, sondern Strategie ist. Laut Wickler und Seibt eignen sich alte Frauen besonders zum Weitergeben von Traditionen und Erfahrungen, weil Männer erstens weniger haltbar sind und zweitens geringere Brutpflege-Tendenzen haben. "Der Spezialisierung auf diese Rolle kann auch die Menopause dienen: das Drosseln der Fortpflanzungsfähigkeit." (S. 156) Biologisch macht das dann Sinn, wenn es der Verbreitung der eigenen Gene durch Kinder und Enkel mehr nützt als noch ein paar eigene Kinder, die möglicherweise nicht mehr großgezogen werden können.
Die Gretchenfrage ist natürlich: Was folgt aus alledem? Weniger an normativer Klarheit, als man vielleicht gehofft hätte. "Die vom Menschen entwickelten Techniken ermöglichen es ihm sogar, einige der biologischen Geschlechterspezialisierungen wieder aufzuheben. (...) Ob man die umständlichere und teurere Lösung wählt, wird von den Alternativen abhängen. Wo eine Frau, statt zu stillen, viel Geld verdienen kann, mag es ökonomischer sein, den Mann mit der Babypflege zu betrauen." (S. 157)
Leider verweigern die Autoren im abschließenden Kapitel "Das Dilemma als Chance" ein echtes Resümee ebenso wie eine wirkliche Stellungnahme. Stattdessen tauchen sie auf den letzten Metern noch einmal ganz tief in biologische Details ein und rekapitulieren etwas unmotiviert "ein biologisches Erfolgsrezept" (S. 165), nämlich die Kooperation zwischen Genen, Viren und Bakterien zum wechselseitigen Nutzen und die Integration von teilautonomen Subsystemen in lebende Organismen. Aber dieser Appell zur Kooperation, der es wohl sein soll, ist allzu indirekt und "durch die Blume".
Dabei hätten sie sich den entscheidenden Steilpass für ein Resümee bereits am Ende des vorletzten Kapitels zugespielt. Dort charakterisierten sie als "ursprüngliche biologische Geschlechterdifferenzierung: Die weiblichen Individuen sind der fortpflanzungslimitierende Faktor, müssen also vorrangig der Fortpflanzung dienen. Das ist aber beim modernen Menschen nicht mehr gegeben; er ist vielmehr von einer Bevölkerungsexplosion und von Überbevölkerung bedroht. Das Primat der Fortpflanzung muss also zurücktreten. Dann aber rücken andere Vorteile zwischengeschlechtlicher Kooperation in den Vordergrund. Dafür ist es unerheblich, ob die Geschlechter nur biologisch oder zusätzlich auch kulturell verschieden spezialisiert sind; auf jeden Fall sind Mann und Frau auf Kooperation angelegt" (S. 162 f.) Diesen Gedanken greifen sie in ihrem Schlusssatz auf – leider ohne ihn und seine Tragweite tiefer auszuloten: "Je mehr eine ausreichende Vermehrung als biologische Hauptsorge aller Menschen an Bedeutung verliert, desto mehr werden zwangsläufig andere Ziele und Aufgaben und damit auch andere Geschlechterrollen in den Vordergrund treten." (S. 173)
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